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Am Ende warten alle auf die deutsche Entscheidung.

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Update

Alexis Tsipras: Griechenland gerettet, Europa kaputt

Er wollte der griechische Held werden. Nun muss sich Alexis Tsipras fragen, ob er sich überhaupt ins Land zurücktrauen kann. Noch nie in der Geschichte der EU gab es solche Einschnitte in die Souveränität eines Staates.

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Natürlich kennt er die Geschichte der Thermopylen, jedes Kind in Griechenland kennt sie – die Geschichte von den Spartanern des Königs Leonidas, die die persische Übermacht am Thermopylen-Pass aufhielten, bis der Rest der Griechenarmee in Sicherheit war. Leonidas ist gefallen und wird seither als Held verehrt. Alexis Tsipras steht noch. Seine Chancen auf Heldenruhm sind vergleichsweise schlecht. Aber der griechische Ministerpräsident versucht es. „Wir haben in einer gerechten Schlacht bis zum Ende gekämpft“, sagt Tsipras und zählt Siege auf: Der „Plan finanzieller Erstickung“ sei verhindert, „die Schlacht um die Schuldenrestrukturierung“ gewonnen; sein Land werde wieder auf eigenen Füßen stehen.

Wenn nicht im Hintergrund sein Finanzminister Euklid Tsakalotos zu sehen wäre mit einer zerknitterten Aktentasche und ebensolchem Gesicht, und wenn nicht nachher auf dem Weg zum Auto der französische Präsident François Hollande tröstend den Arm um seine Schulter gelegt hätte – fast hätte man dann denken können, Tsipras glaubt das selbst. Dabei bleibt ihm gar nichts anderes übrig. 17 Stunden haben die Staats- und Regierungschefs der Eurozone mit ihm und mit einander gerungen, gestritten, gebrüllt. Die längste Sitzung aller Zeiten, viele sagen: auch die härteste.

Kurz nach 9 Uhr tritt Donald Tusk vor die blaue Wand im Brüsseler Pressesaal. Der EU-Ratspräsident schwankt leicht vor Müdigkeit, doch ein Rest Galgenhumor ist geblieben. „Wir haben es geschafft“, sagt der Pole. „Manche würden es ein Agreekment nennen.“ Ein englisches Wortspiel: Agreement, eine Einigung, auf griechisch. Aber die Einigung ist gar nicht griechisch. Sie liest sich vielmehr ausgesprochen deutsch.
Angela Merkel sieht infolgedessen nicht zerknittert aus, sondern sogar relativ munter. Sie könne, sagt die Bundeskanzlerin, dem Bundestag „aus voller Überzeugung“ empfehlen, Verhandlungen über ein neues, drittes Griechen-Rettungspaket zuzustimmen. „Vorteile überwiegen die Nachteile, Grundprinzipien sind eingehalten.“ Merkel lächelt.

Drei Stunden vorher hat sie nicht gelächelt. Zornig ist Merkel aus dem Nebenraum marschiert, in dem sie mit Tsipras, Tusk und Hollande einen Durchbruch im kleinen Kreis versuchte. Auch Tsipras ist wutentbrannt rausgepoltert. Tusk pfeift die Streithähne zurück. „Ihr könnt jetzt nicht einfach gehen!“, hören ihn Ohrenzeugen rufen. Die Zwei kommen zurück.

Die Deutschen sitzen halt am längeren Hebel

Auf dem Tisch da drinnen liegt die Bombe. Die Bombe hat Wolfgang Schäuble gelegt: Entweder Griechenland kriegt unter härtesten Bedingungen noch einmal Kredit von den Europäern – oder es nimmt „eine Auszeit vom Euro“.

Merkel wird hinterher beteuern, dass das doch eine „kooperative“ Idee gewesen sei, immer nur gemeinsam mit den Griechen. Aber das ist eine Sichtweise, die nur unter den „Falken“ Freunde findet. Die „Falken“, das sind Niederländer, Finnen, Balten, Slowaken und Slowenen, eine Nordgruppe, die den „Grexit“ in Kauf genommen hätte. Sie haben auch nichts gegen die deutsche Forderung, Griechenland solle für 50 Milliarden Euro Staatsvermögen an eine Treuhand-Anstalt in Luxemburg übergeben, die es Stück für Stück verkaufen soll. „Flughäfen, Seehäfen, Autobahnen, Immobilien – das soll jetzt von Profis verkloppt werden“, sagt lapidar ein deutsches Delegationsmitglied.

Die anderen sind fassungslos. „Ich weiß nicht, wie ich das meinen Lesern erklären soll“, sagt eine griechische Journalistin. Ob die Deutschen sich im Klaren seien, was sie mit derart gnadenloser Härte anrichteten, rätselt ein Regierungsmitglied eines Nachbarlandes. Noch nie, sagt ein Diplomat, sei von einem EU-Land ein derartiger Eingriff in die Souveränität verlangt worden. Und der Belgier Philippe Lamberts steht mitten in der Nacht im Pressesaal des Brüsseler Ratsgebäudes und schüttelt empört den Einigungsentwurf in der Luft. „Wenn das Europa ist“, ruft der Grünen-Fraktionschef im Europaparlament, „dann bin ich nicht mehr Europa. Europa ist heute Nacht kaputtgegangen!“

Merkel wird später ihrerseits erklären, dass das Vertrauen zu Tsipras nach all den Wendungen vom „Oxi“-Referendum bis zum Rettungsschirmantrag schwer erschüttert sei und „Papier geduldig“. Nur wegen dieser und anderer Sicherheiten könne sie ein neues Kreditpaket von mindestens 80 Milliarden Euro verantworten. Ob das nicht wie der Versailler Vertrag sei? „An historischen Vergleichen beteilige ich mich nicht“, sagt Merkel, „besonders wenn ich sie nicht selbst aufgestellt habe.“ Überhaupt, was soll die Aufregung: Andere Krisenländer hätten genau so harte Bedingungen erfüllen müssen, das sei „nichts Besonderes“.

Ein gespaltene Union

Eine starke Untertreibung. Die Währungsunion ist in dieser Nacht tief gespalten. Drei Mal muss die große Runde der 19 Staats- und Regierungschefs unterbrochen werden. Jedes Mal kommt die Viererrunde Merkel-Hollande-Tsipras-Tusk zusammen. Daneben beraten die „Stellvertreter“. Der niederländische Premier Mark Rutte schart die „Falken“ um sich und überbringt deren Position in die „Renzi-Gruppe“, die für Nachsicht mit den Griechen wirbt. „Genug ist genug“, hatte Italiens Premier Matteo Renzi der Kanzlerin in einem Interview entgegen gehalten. Luxemburg, Österreich und Zypern sind auf seiner Seite.

Die Luft ist dick in dieser Nacht. „Ruppig“ nennt einer aus der EU-Kommission das Klima. Irlands Premier Enda Kenny berichtet von „blauen Flecken“. Tusk war sauer – selbst er hatte von Schäubles Bombe bis Samstagnachmittag keine Ahnung. So etwas wie das europäische Gesamtinteresse habe keine Rolle gespielt, sagt ein Sitzungsbeobachter: „Jeder war nur in seinen innenpolitischen Zwängen gefangen.“

Chef-Griechenlandversteher Hollande verhandelt mit Merkel direkt. Frankreichs Präsident tut sich am Morgen schwer, das Ergebnis als Erfolg zu verkaufen. „Ich habe Plan B verhindert“, sagt Hollande. Wäre es „nur nach einem Land gegangen“, wäre Griechenland jetzt auf dem Weg aus dem Euro. Stundenlang hat er Merkel bearbeitet. Aber früh in der Nacht schon hat Hollande akzeptieren müssen, dass es Plan A nur zusammen mit dem Treuhand-Fonds geben wird.

Tsipras kämpft an der Stelle weiter. Nachdem Ratschef Tusk ihn und Merkel um kurz nach sechs Uhr morgens an den Verhandlungstisch zurückbeordert hat, geht es noch einmal zwei Stunden weiter. Schließlich nimmt Merkel einige Abstriche in Kauf. Der Fonds muss nicht nach Luxemburg, sondern kann in Griechenland bleiben; ein Symbol ohne praktische Folgen. Und Merkel willigt auch ein, dass 12,5 Milliarden Euro, also ein Viertel des geplanten Privatisierungserlöses, für Investitionen in Griechenland verwendet werden und nicht das gesamte Tafelsilber im Schuldendienst aufgeht.

Angela Merkel, Alexis Tsipras und François Hollande beim Euro-Gipfel in Brüssel.
Angela Merkel, Alexis Tsipras und François Hollande beim Euro-Gipfel in Brüssel.

© dpa

Um 8.20 Uhr schlägt Tsipras ein. Hollande nennt es eine „mutige Entscheidung“. Noch so eine Untertreibung an diesem Tag. In Brüssel bezweifelt einer, ob der Grieche „mit diesem Paket das Athener Parlament lebendig wieder verlassen kann“. Tsipras hatte schon keine eigene Mehrheit mehr, als er Ende letzter Woche seinen Hilfsantrag für den Euro-Rettungsfonds ESM im Athener Parlament zur Abstimmung stellte. Schon dieser Antrag war das Gegenteil von dem, was der Syriza-Chef seinen Wählern versprochen hatte. Er war fast wortgleich das, was sein Volk noch eine Woche vorher abgelehnt hatte.

Tsipras wird vielleicht die Regierung umbilden müssen

An dem Punkt hat Merkel übrigens von dem Griechen gelernt. Tsipras ist ziemlich grandios darin, die Wirklichkeit so hin und her zu deuten, bis sie ihm gerade passt. Die Kanzlerin deutet jetzt das Referendum auf ihre Weise. Ja sicher, die Griechen hätten „Nein“ gesagt zu weiteren harten Sparauflagen. Aber „die ganzen Prozesse“ in Griechenland hätten doch dazu beigetragen, dass sich „herausgefiltert“ habe, dass die Griechen im Euro bleiben wollten.

Das dürfte sogar stimmen. Aber vor allem aber wirkt das Volk von Athen und Thessaloniki langsam nur noch mürbe. Die Banken bleiben am Montag weiter zu, auch am Dienstag, auch am Mittwoch. Dann soll das griechische Parlament vier Gesetze im Schnelldurchgang beschließen – eine Mehrwertsteuerreform, Veränderungen an der Rente, eine neues Recht für das amtliche Statistikamt, die nationalen ESM-Gremien. Nächste Woche kommt die Troika vorbei, um über eine „Entpolitisierung“ der Staatsverwaltung zu reden. Die Troika – pardon, „die Institutionen“ sollen sowieso jetzt regelmäßig wieder kommen, kontrollieren, mitbestimmen, jeden Gesetzentwurf vorher absegnen.

Tsipras wird die Opposition brauchen für die komplette Rolle rückwärts. Er wird vielleicht die Regierung umbilden müssen. Er wird womöglich im Herbst Neuwahlen anberaumen müssen. Schon am Montagabend gab es Proteste in Griechenland gegen die Vereinbarung mit Brüssel. „Geistiges Waterboarding“ hätten die Deutschen mit dem Chef veranstaltet, hat sich ein griechischer Diplomat in der Nacht noch empört. Aber jetzt, nach dem Agreekment – was bleibt ihm übrig, als die Schlacht für siegreich zu erklären?
Gewonnen hat sie aber Merkel. Ob sie angesichts von Abweichlern in der Union die Abstimmung im Bundestag mit einem Vertrauensvotum verknüpfen werde? Die Kanzlerin winkt ab. „Nein, die Vertrauensfrage erwäge ich nicht zu stellen.“ Das wird nicht nötig sein. Nicht im Bundestag. In Brüssel stellt sie sich dafür nach dieser Nacht um so dringlicher. „Okay, jetzt haben wir vielleicht Griechenland gerettet“, sagt der Italiener Renzi beim Hinausgehen. „Aber die eigentliche Herausforderung besteht nun darin, Europa zu retten.“

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