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Legendär. Alice Waters eröffnete 1971 das „Chez Panisse“. Bei ihren Küchenchefs bewies sie Geschmack.

© Susan Wood/Getty

Begegnung mit Köchin Alice Waters auf der Berlinale: Koste es, was es wolle

Es heißt, Alice Waters habe die absolute Zunge. Nie entfällt ihr ein einmal probierter Geschmack. Sie gilt als Revolutionärin der amerikanischen Küche. Für die Filmszene ist ihr Restaurant ein zweites Zuhause.

Als der Regisseur Werner Herzog 1980 einmal eine Wette verlor, musste er seinen Schuh essen. Es erschien ihm völlig selbstverständlich, dass den einzig und allein Alice Waters kochen durfte: allerdings stundenlang und ohne den geringsten Effekt auf seine Genießbarkeit. Alice Waters, Berkeley, Kalifornien. Besitzerin des legendären Restaurants „Chez Panisse“, das für die amerikanische Filmszene seit den 1970er Jahren so etwas wie ein zweites Zuhause geworden war.

Es heißt, sie habe die absolute Zunge, wie manche Leute das absolute Gehör. Nie entfalle ihr ein einmal gekosteter Geschmack. Sie gilt als Revolutionärin der amerikanischen Kochkultur. Eine Biografie über sie und ihr Restaurant wurde in den USA ein Bestseller. Die viel gerühmte „kalifornische Küche“ sei durch sie erst entstanden.

Diesseits des Atlantiks schwebt sie gerade per Aufzug in die Lobby des Marriott Hotels am Potsdamer Platz. Draußen tobt die Berlinale. Alle haben die Haare schön. Sie ist jetzt 70 Jahre alt, man wird ihr im „Kulinarischen Kino“ eine Berlinale Kamera verleihen, zusammen mit Carlo Petrini, dem Gründer der Slow-Food-Bewegung. Die Vertreterin der guten alten, einfachen Küche setzt sich mit dem Glamour von Hollywood und der Haltung einer Ballerina auf ein lila Sofa.

Mineralwasser hat sie abgeschafft

Dann kommt das Mineralwasser. Sie stürzt es ins Glas und drückt der Kellnerin die Flasche in die Hand. Schnell, aus ihrem Blickfeld. Als hielte sie den Anblick kaum aus. „Wasserflaschen haben wir abgeschafft im ,Chez Panisse‘ “, sagt Waters. Wegen der Materialverschwendung und der Transportwege, weil es nicht ökologisch ist. „Wir filtern unser Wasser selbst.“ Nie habe sie gedacht, dass ihre Gäste Wasser akzeptieren würden, das nicht aus der Flasche kommt. Man hat sie überrascht. „Wir verzichten auf das Extra-Einkommen aus dem Wasserverkauf,“ sagt sie. „Es ist dann doch so einfach, das Richtige zu tun.“

Was ist das Richtige? „Wir verleiben uns mit unserem Essen auch die Werte ein“, sagt Waters. Für Amerikaner im Griff der Lebensmittelindustrie sei da an Werten nicht mehr viel vorhanden. Sogar die Scheidungsraten führt sie auf fehlende Essenskultur zurück. Ganz anders in dem Frankreich, in das sie 1965 einreiste. Mit 19 ging Alice Waters mit einer Studienfreundin nach Europa, um die Sprache und Männer kennenzulernen. Die Offenbarung aber wartete ganz woanders. Sie hatte einen „Cours de la civilisation“ an der Sorbonne belegt. Aber ihre tatsächliche Ausbildung fand auf Märkten und in Restaurants statt. Ein Semester lang hat sie hauptsächlich gegessen. „Zwei Mal täglich ging man auf den Markt!“

Von der Lehrerin zur Küchenchefin

Legendär. Alice Waters eröffnete 1971 das „Chez Panisse“. Bei ihren Küchenchefs bewies sie Geschmack.
Legendär. Alice Waters eröffnete 1971 das „Chez Panisse“. Bei ihren Küchenchefs bewies sie Geschmack.

© Susan Wood/Getty

Alice Waters war schwer beeindruckt. Als sie zurückkam, trank sie ihren Milchkaffee aus Schalen, und das war nur das geringste der Symptome. „Ich wollte Französin sein!“ Sie mochte „die Art, einen Tisch zu decken, die Konzerte“, die Kleidung, die Kochbücher, die Kultiviertheit. „Ich dachte, ich bringe das Essen zurück.“ Aber es war das ganze Paket.

Sie schmiss ihre Rolle als Montessori-Lehrerin. Was sie wirklich wollte, war ein Restaurant. Möglich, dass es im Nachhinein betrachtet nur Erziehung mit anderen Mitteln war.

„Ich kochte ja jeden Tag für meine Freunde.“ Also hat sie das Restaurant eröffnet. „Dann hatte ich keine Zeit mehr für meine Freunde.“ Also hat sie ihre Freunde angestellt. Das war das Konzept der „Famille Panisse“. Familie sind alle, die um einen Tisch sitzen.

Sie war 27 Jahre alt, als im August 1971 das „Chez Panisse“ in einem Wohnhaus in der Shuttack Avenue in Berkeley seine Türen öffnete. Das Licht war wichtig, die Frauen sollten gut aussehen. Vor allem sollte man lange, lange dort sitzen und reden können. Waters wollte Großzügigkeit. Die Karte allerdings: alternativlos. Es würde radikal ein einziges Menü geben.

Ihre Köchin hatte die tagelang reduzierte Sauce zum ersten Mal in ihrem Leben gekocht. Die Gäste, die schon von ihren sagenhaften privaten Abendessen gehört hatten, standen um den Block – die, die saßen, mussten über eine Stunde auf ihren Hauptgang warten. Es war auf geradezu nervenzerfetzende Art Slow-Food. Dabei gab es den Begriff noch gar nicht.

Es war auf lustvolle Art elitär. Aber lässig elitär sollte es sein, die Zutaten nur die allerbesten, koste es, was es wolle. Die Vorstellung davon, was genau das Beste sei, schälte sich allerdings erst über die Jahre immer klarer hervor.

„Ich dachte eine Zeit lang, die Haute Cuisine wäre mein Ziel – vielleicht ein Stern.“ Sie hat sich da ein bisschen verfizzelt. Sie wusste selbst noch nicht, wohin die Reise ging. Zugleich bewirtete sie Gäste, für die schon Olivenöl ein Erweckungserlebnis war.

Französisch war ein Synonym für hochwertig

Damals habe es kein französisches Restaurant in den USA gegeben, dessen Karte auf Englisch gedruckt wurde. Französisch war das Synonym für hochwertig. Sie erkannte schnell, dass es in Frankreich deshalb so gut war, weil man dort die Zutaten so frisch bekam. Hier waren sie kaum aufzutreiben. Dasselbe in Kalifornien zu machen hieße eben: regionale Produkte aus Kalifornien.

Hier hat Waters’ Geschichte ihren ganz persönlichen Kolumbus-Moment: Sie war ausgezogen, um Frankreich zu suchen – und hatte Amerika gefunden. Genauer: den Norden Kaliforniens.

Das Credo musste also lauten: regionale Produkte. Nicht: französische Produkte. 1977 hörte sie auf, ihren Gerichten französische Namen zu geben. Sie rannten los und suchten wilden Fenchel am Straßenrand. Waters stellte eine Person ein, deren einzige Aufgabe es war, lokale Bauern zum Anbau bestimmter Gemüsesorten zu überreden. Aussteiger zu finden, die guten Ziegenkäse selbst herstellten. Sie waren verrückt.

Ein Freund, ein Filmmanager namens Tom Luddy, hatte hierfür prominente Zeugen angeschleppt: Wim Wenders. Werner Herzog. Rossellini. Luddy vertrat Luc Godard in Amerika, er kannte die Coppolas, organisierte ein Filmfestival. Und alle brachte er zu Alice Waters.

„Chez Panisse“ war ein irrer Erfolg. Und dabei ständig kurz vor der Pleite. Wein verschwand. Drogen, hey, das war Berkeley in den 1970ern. Sie waren frei und politisiert und gegen den Vietnamkrieg und für freie Rede und guten Ziegenkäse und in jeder Hinsicht schnell erregt.

Alice Waters’ Obsession mit dem Essen habe, schreibt ihr Biograf, unterliegend etwas Sexuelles gehabt. Das Essen und diese manische Beschäftigung damit folge im Kern einem sexuellen Impuls. Es ging um eine Art von Einverleibung. In Männer wie Frauen und Gemüse habe sich Alice immer „verliebt“.

Waters, selbst ohne Kochausbildung, umgab sich mit gut aussehenden Charakteren, Küchenchefs und Mitarbeitern. Haltung war wichtiger als Erfahrung. Aber alle teilten diesen Fetisch des exzellenten Essens. Es gab Phasen komplizierter französischer Verrenkungen und ölhaltiger, provenzalischer Rosmarin-Landküche. Freunde bekamen die Mahlzeit oder den Champagner danach umsonst. Andere versuchten, ihr finanziell zu helfen. In der Biografie von 2007 kann man diesen ständigen Kampf bis in schmerzhafte Details nachlesen, und je tiefer man sich hineinversenkt, desto unwahrscheinlicher scheint es, dass diese Frau überhaupt ein Unternehmen führen kann. Zeitweise gehörte ihr der Laden gar nicht mehr. 1982 ist er abgebrannt und wurde sofort wieder aufgebaut. Wenn ihr die Küchenchefs abhandenkamen, sprang sie kurzzeitig selbst ein.

Das „Chez Panisse“ war da schon eine Legende. Aus dieser Keimzelle entsprangen auch politische Meinungen und lange Freundschaften. Man sprach von einer Zelle der Revolution, die sich schließlich von der sonnigen West- bis an die politische Ostküste ausbreitete. Die Ideen, die sie üppig an der West-Küste gesät hatten, durchwurzelten den ganzen Kontinent. Und schossen schließlich in Form von Keimlingen an der Ostküste, Washington D.C., direkt hinter dem Weißen Haus wieder ans Licht: Im Garten von Michelle Obama nämlich, die nun ihrerseits Schulkinder dorthin führt, damit sie sehen können, dass Essbares direkt aus der dreckigen Erde kommt.

Jahrelang bombardierte sie den Präsidenten mit Briefen

Jahrelang, sagt Alice Waters auf dem lila Hotelsofa in Berlin, habe sie schon die Clintons mit Briefen bombardiert: Sie sollten einen essbaren Garten anlegen. „Natürlich nicht hinter dem Weißen Haus, sondern für alle sichtbar davor!“ Wäre es nach ihr gegangen, hätte sie ihn nicht so versteckt. „Er hätte gar nicht gestört, er wäre den Repräsentationsaufgaben des Weißen Hauses, seiner Würde, keineswegs in die Quere gekommen.“

Am 20. März 2000 schrieb sie in einem Brief an den damaligen Präsidenten Bill Clinton den Satz: „Mr. President, plant the garden on the White House grounds!“

Es hatte die Dringlichkeit von: „Mr. Gorbatchov, tear down this wall!“

Auf Clintons Absage gab sie zu bedenken, dass der Küchengarten von Versailles anerkanntes Kulturerbe sei. Aber es war wohl noch zu früh für ein derart großes Rad. Die Clintons antworteten nicht mehr auf diesen Brief. Jemand anders legte schließlich Michelle Obamas Garten an.

Was Alice Waters über Vollkorn denkt und dachte

Legendär. Alice Waters eröffnete 1971 das „Chez Panisse“. Bei ihren Küchenchefs bewies sie Geschmack.
Legendär. Alice Waters eröffnete 1971 das „Chez Panisse“. Bei ihren Küchenchefs bewies sie Geschmack.

© Susan Wood/Getty

Waters ist in den USA eine prominente „Revolutionärin“, acht Bücher hat sie geschrieben, bei uns ist sie eher unbekannt. Der „Revolution“ fehlt in Europa einfach die Fallhöhe, sie gilt hier eher als Rückbesinnung. Nie hatte die Lebensmittelindustrie die Bevölkerung derart komplett im Griff wie in den USA. Irgendwo saß immer noch jemand, der wusste, wie man Gemüse einmacht. Und weil es sich da um eine gewachsene Kultur handelt, wird sie auch nicht an einer einzigen Person festgemacht. Sie lebt in den entlegensten italienischen Bergdörfern, ist in den abgeschiedenen Landgasthöfen Frankreichs zu finden und in den handgeschriebenen Rezeptbüchern deutscher Großmütter. Sie blüht in Klostergärten, Schloss- und Schulgärten. In den USA ist in Ermangelung einer solch breiten Kultur Waters ihr Apostel und Vollstrecker.

Waters will davon nichts hören. „McDonald’s hat unsere Kultur gekidnappt.“ Das gelte auch für Frankreich. Das Land sei die Nummer drei in der Verwendung von Pestiziden. Aber Gott sei Dank, „30 Jahre Lebensmittelindustrie können unsere Gene nicht verändern“.

Trotzdem ist es auffällig, dass die Trends des amerikanischen Essens seit Jahren davon handeln, was man nicht essen soll: Kohlenhydrate. Cholesterin. Keine Eier. Kein Zucker. Kein Weißmehl. Kein Gluten. Kein Fleisch. Da geht es nicht um Lust, sondern um Angst. Waters interessiert das natürlich überhaupt nicht. „Ich hatte selbst einmal hohe Cholesterin-Werte“, sagt sie. Da riet ihr jemand zu Vollkornbrot und fermentiertem chinesischen Tee. Den Tee hat sie heute überall dabei.

Sie fühlte sich zu Geschmack hingezogen

„Aber Vollkorn?“, sagt Waters. „Das war Hippie-Food für mich. Ich war Gastronomin! Aus Frankreich!“ Ist es nicht das Schlimmste, wenn gesundes Essen „danach aussieht“? Sie sei immer vom Geschmack zu etwas hingezogen gewesen.

Ihrer Tochter Fanny wegen hat sie mit den „Edible Schoolyards“ angefangen, „Essbaren Schulgärten“, in denen Kinder unterrichtet werden. Ihre Tochter wuchs im Restaurant auf. „Ich habe ihr nie gesagt, was sie essen soll – es kam immer durch Begeisterung für etwas.“

Fanny, langhaarig, in der nun 32-jährigen Fassung ihrer selbst, biegt um die Ecke, grüßt kurz und verschwindet zum Hotelfrühstück. „Sie interessiert sich sehr für extrem nahrhafte Lebensmittel: Samen, Nüsse, orientalische Gewürze. Essen kann heilen!“

Go West! Go to the Moon! Go Home and eat. Amerika hatte zunächst die Westküste und in den 1960ern den Weltraum als New Frontier. Amerikaner sind immer noch Pioniere. Sie gehen dorthin, wo noch nie vorher einer der ihren gewesen ist. Und wenn das der eigene Herd ist.

Der Text erschien auf der Dritten Seite des gedruckten Tagesspiegels.

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