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Im Zweifel. Oliver Wolschke ist sich nicht sicher, ob es einen Gott gibt. Die Frage habe für ihn gerade wenig Bedeutung, sagt er. Wichtiger sei, das Leben mit seiner Familie zu genießen.

© Thilo Rückeis

Berliner Aussteiger: Warum ein junger Vater die Zeugen Jehovas verließ

Er hat geglaubt. An das Ende der Welt, die Mission, die Gemeinschaft. Dann bekam er zwei Söhne - und stieg bei den Zeugen Jehovas aus. Oliver Wolschke zahlt dafür einen hohen Preis.

An einem Freitagabend Ende März besucht er noch einmal den Gottesdienst. Sitzt neben seiner Frau in der vorletzten Reihe. Sie lesen aus der Bibel, Jeremia 13, sie singen, es wird ein Video gezeigt, in dem Gläubige aus aller Welt in perfekt ausgeleuchteten Wohnzimmern erklären, wie der wöchentliche Bibelunterricht zu Hause ihr Leben verändert hat. Ein Mädchen sagt: „Durch das Familienstudium wurde mir klar, wie glücklich ich sein kann, dass Jehova mein Gott ist.“ Ein kleiner Junge sagt: „Das Familienstudium hat mir geholfen, nicht mehr so viel mit weltlichen Freunden zusammen zu sein.“ Ein Vater sagt: „Selbst wenn ich müde bin - es ist wichtig, dass das Familienstudium immer stattfindet.“

Oliver Wolschke fällt es schwer, dem Video zu folgen. Diese Versammlung im Berliner Süden, im Königreichssaal Steglitz, einer alten Villa nahe dem Bahnhof Lichterfelde-Ost, soll die letzte sein für ihn und seine Frau. Sobald ihr Austritt bekannt gegeben wird, werden die anderen Zeugen Jehovas den Kontakt zu ihnen abbrechen, und das bedeutet: alle Freunde und Bekannten, so gut wie alle Menschen, mit denen sie Zeit verbrachten.

Das Prinzip der „Liebevollen Vorkehrung“

Ehemalige sollen auf der Straße nicht mal mehr gegrüßt werden, denn jeder Gruß könnte der Anfang eines Gesprächs sein. Zeugen nennen diese Isolierung „Liebevolle Vorkehrung“. Aussteigern werde so eine mögliche Rückkehr in die Gemeinschaft der Zeugen erleichtert.

Oliver Wolschke malt sich aus, wie er sich gleich, nach Ende des Gottesdienstes, von möglichst vielen im Raum verabschieden kann und dabei nicht sagen wird, dass es für immer ist. Vielleicht kann er manche noch in den Arm nehmen, ohne dass es auffällt.

Oliver Wolschke, 32, ist mit den Zeugen Jehovas aufgewachsen. Seine Eltern trennten sich, als er fünf war, die Mutter nahm ihn mit in die neue Wohnung in Lankwitz. Bald lernte sie Zeugen Jehovas kennen, später heiratete sie einen. Und er erfuhr, dass die meisten Menschen in der Schlacht von Harmagedon, dem Ende der bösen Welt, brutal ausgelöscht werden und dass er selbst strenge Regeln befolgen muss, falls er verschont bleiben und die ersehnte tausendjährige Herrschaft Christi erleben will.

Wolschkes Geschichte ist eine der seltenen Gelegenheiten, einen Blick zu werfen auf eine Gruppe, die sich nach außen hin abschottet - und von innen wenig herausdringen lässt.

Nach diversen Gerichtsverfahren gelten die Zeugen Jehovas in Deutschland als Körperschaft des öffentlichen Rechts. Sektenbeauftragte warnen, die Organisation habe Züge eines totalitären Zwangssystems. Kindern werde höhere Schulbildung verwehrt, Kontakte zur Außenwelt würden minimiert.

Die mit dem "Wachtturm" in der Hand

Für die meisten Deutschen sind Zeugen Jehovas bloß die seltsamen Menschen, die an der Straßenecke mit dem „Wachtturm“ in der Hand stehen - und die bei Fremden klingeln, weil sie über Gott sprechen wollen. Wolschke beginnt damit im Alter von neun Jahren, mit 16 lässt er sich taufen. Das Missionieren ist wichtig, wenn man Harmagedon überleben möchte. Die Anzahl der Stunden pro Monat halten Zeugen in Berichten fest, die dann den Ältesten, den Vorstehern einer Regionalgruppe, vorgelegt werden. Wer in der Gemeinde ein Amt übernimmt, muss über dem Durchschnitt liegen.

Privat bleiben Zeugen Jehovas meist unter sich, sollten auch nur untereinander heiraten. Berührungspunkte zu Andersgläubigen gibt es in der Regel nur im Berufsleben. Wolschke arbeitet als Suchmaschinenexperte im Tagesspiegel-Verlag, die Kollegen seiner Abteilung wissen, warum er nie zum Geburtstag gratuliert und auf Weihnachtsfeiern fehlt.

Weltweit gibt es mehr als acht Millionen Zeugen Jehovas, 165 000 davon leben in Deutschland. An der Spitze einer strengen Hierarchie steht die „Leitende Körperschaft“: sieben Männer, die in der Weltzentrale im US-Bundesstaat New York residieren. Es heißt, sie seien von Gott geleitet. Wann genau Harmagedon droht, verraten sie ihren Mitgliedern nicht. In der Vergangenheit haben Zeugen und ihre Vorläufer, die „Ernsten Bibelforscher“, mehrfach konkrete Termine genannt: 1874, 1914, 1925, 1975. Diesen Fehler machen sie nicht mehr.

Über die falschen Prophezeiungen der Vergangenheit wird in den Gottesdiensten nicht gesprochen. Und Hinweise von Nicht-Zeugen werden sowieso ignoriert. Wolschke sagt, Zeugen Jehovas seien sehr gut darin, Außenstehende nicht ernst zu nehmen. Deren Argumente gelten als „von Satan dem Teufel kommend“. Besonders verachtet werden die „Abtrünnigen“, die ehemaligen Glaubensbrüder, die sich aus der Gemeinschaft lösten. „Es ist wie eine Firewall“, sagt Wolschke. „Eine extrem starke, die nur Informationen der Organisation durchlässt.“

Er sagt, man solle ihn nicht falsch verstehen. Zeugen Jehovas seien keine Ungeheuer. Sondern Menschen, die nur das Beste wollen für sich und ihre Familien: Harmagedon überstehen. Wolschke ist sich sicher, dass man auch als Zeuge Jehovas ein gutes Leben haben kann. Dass er selbst es nicht kann, hängt mit seinen Kindern zusammen.

Bei Kindesmissbrauch gilt die Zwei-Zeugen-Regel

Ausgaben der Publikationen "Wachtturm" und "Erwachet".
Ausgaben der Publikationen "Wachtturm" und "Erwachet".

© Arne Dedert/dpa

Der erste Sohn kommt 2011 zur Welt, der zweite 2013. Wolschke ist inzwischen zum Dienstamtgehilfen aufgestiegen, ein Rang unter dem Ältesten. Aber jetzt als junger Vater hat er Mühe, seinen Missionsdienst zu erfüllen. Mehrfach bitten ihn Älteste zum Gespräch, ermahnen ihn. Falls er sich nicht bessere, müssten sie ihm sein Amt wegnehmen. „Ich habe vor ihnen geweint“, sagt Wolschke. „Der Entzug wäre ein furchtbarer Gesichtsverlust gewesen.“ Also beginnt er, mehr Stunden in seinem Bericht zu notieren, als er tatsächlich missioniert. Er denkt sich: Wenn ich irgendwann wieder mehr Zeit habe, werde ich zusätzliche Stunden leisten und die dann als Ausgleich nicht angeben. Jehova wird das verstehen.

Wolschke bekommt auch Zweifel, ob er die Regeln, nach denen er aufgewachsen ist, seinen Kindern zumuten will. Was soll er tun, sollte einer seiner Söhne mal eine Bluttransfusion benötigen? Zeugen Jehovas lehnen diese ab, begründen es mit Bibelstellen. Immer wieder sind deswegen Menschen ums Leben gekommen. Eine „Wachtturm“-Ausgabe erzählt die Biografien von Heranwachsenden, die starben, weil sie keine Transfusion erhielten. Die Ausgabe heißt: „Jugendliche, die Gott den Vorrang geben“.

Wolschke denkt auch: Was passiert, sollte sich eines meiner Kinder taufen lassen, dann aber aussteigen? Er kann sich nicht vorstellen, dass er zum radikalen Kontaktabbruch, zur „Liebevollen Vorkehrung“, imstande wäre.

Anfang dieses Jahres öffnet er sich seiner Frau. Sie will es nicht hören, sie weiß, was passieren muss, sollte Oliver die Zeugen verlassen. Sie sagt: Damit würdest du unsere Familie zerstören. Nach ein paar Tagen sprechen sie doch. Tauschen Zweifel aus. Und beginnen, im Internet zu suchen. Auf Seiten von Aussteigern finden sie Berichte über interne Richtlinien, von denen sie selbst bis dahin nichts wussten. Oliver Wolschke glaubt, in diesen Tagen habe er es irgendwie geschafft, seine Firewall auszuschalten.

Eine fürchterliche Entdeckung

„Für andere Menschen gibt es sicher andere Gründe, aus dieser Organisation auszusteigen“, sagt Wolschke. Er selbst fand es am schlimmsten zu erfahren, wie in seiner Religionsgemeinschaft mit Fällen von sexuellem Kindesmissbrauch umgegangen wird. Dass es diese auch unter Zeugen Jehovas gibt, war ihm klar - nur die Regeln nicht: Bei Zeugen ist es gängige Praxis, Fälle von Kindesmissbrauch nicht den Behörden zu melden. Stattdessen wird im kleinen Kreis unter Ältesten darüber beraten. Und es gilt die Zwei-Zeugen-Regel. Das bedeutet: Außer dem Kind muss mindestens eine weitere Person bestätigen, dass sich der Missbrauch ereignet hat.

Die Zeugen begründen das mit einem Vers bei Matthäus. Kann also außer dem Opfer selbst niemand den Missbrauch bezeugen und streitet der Beschuldigte die Tat ab, wird nichts gegen den mutmaßlichen Täter unternommen. Oder wie es im Buch „Hütet die Herde Gottes“, einer unter Verschluss gehaltenen Handlungsanweisung für die Ältesten, heißt: „die Angelegenheit wird Jehova überlassen“.

Was aber, wenn das Opfer eines Missbrauchs von sich aus auf die Idee kommt, den Täter bei der Polizei anzuzeigen? Im Buch für die Ältesten steht: „Auf Anfrage sollte man deutlich sagen, dass es jedem selbst überlassen ist, die Angelegenheit anzuzeigen oder nicht “ Auf Anfrage.

In einer „Wachtturm“-Ausgabe findet Wolschke außerdem den Rat, wie Älteste reagieren sollen, wenn ein Erwachsener einen früheren Missbrauch anzeigen will: Demjenigen soll empfohlen werden, zunächst mit dem mutmaßlichen Täter zu sprechen. „Auf diese Weise kann sich der Angeklagte vor Jehova zu der Beschuldigung äußern.“ Und dann noch: „Es könnte auch sein, dass der Beschuldigte gesteht und es zu einer Aussöhnung kommt. Welch ein Segen das doch wäre!“

Aus Australien, wo sich Zeugen Jehovas an dasselbe Regelwerk wie überall halten, gibt es Zahlen. Eine staatliche Kommission untersuchte dort den Umgang mit Kindesmissbrauch in verschiedenen Organisationen, unter anderem bei den Zeugen Jehovas. In ihrem Abschlussbericht nannte sie vier Zahlen: Zwischen 1950 und 2014 wurden mindestens 1800 Kinder mutmaßlich missbraucht, es gab 1006 mutmaßliche Täter. 579 von ihnen haben ihre Verbrechen im internen Rechtskomitee der Zeugen Jehovas gestanden. Und keiner wurde anschließend den Behörden gemeldet.

Wolschke und seine Frau sind fassungslos, als sie von diesen Zahlen erfahren. Und es ist ihnen klar, dass sie die Organisation verlassen müssen.

Ein Versuch, ihn doch noch umzustimmen

Im Zweifel. Oliver Wolschke ist sich nicht sicher, ob es einen Gott gibt. Die Frage habe für ihn gerade wenig Bedeutung, sagt er. Wichtiger sei, das Leben mit seiner Familie zu genießen.
Vieles aus der Vergangenheit kommt Oliver Wolschke heute irreal vor: "Es gab eine Sklaverei des Denkens."

© Thilo Rückeis

An dem Abend Ende März, als beide zum letzten Mal den Gottesdienst im Königreichssaal Steglitz besuchen, spricht Oliver Wolschke unter vier Augen den Gemeindeaufseher an und teilt mit, er gebe aus privaten Gründen seine Ämter auf. Er weiß, was nun passiert, es ist genau festgelegt in „Hütet die Herde Gottes“. Drei Tag später besuchen ihn zwei Älteste. Sie wollen das Treffen mit einem Gebet einleiten, Wolschke lehnt ab.

Es ist ein ruhiges, respektvolles Gespräch. Alle Anwesenden haben Tränen in den Augen. Die Ältesten geben zu, dass sich Oliver Wolschke und seine Frau gut informiert haben, über den Umgang bei Kindesmissbrauch womöglich besser Bescheid wüssten als sie selbst. Wolschke fragt, ob die Ältesten denn ausschließen könnten, dass es in ihrer oder einer anderen Berliner Gemeinde einen mutmaßlichen Pädophilen gibt, der aufgrund der Zwei-Zeugen-Regel nicht belangt wurde. „Ausschließen kann man das nicht“, sei die Antwort gewesen.

Beim nächsten Freitagsgottesdienst wird die Entscheidung der beiden in ihrer Abwesenheit im Königreichssaal verlesen. Gründe werden nicht genannt. Ab diesem Moment gilt es, Kontakt zu meiden. Noch am selben Abend beobachtet Wolschke auf seinem Smartphone, wie ihn die ersten Freunde bei Whatsapp blockieren. In den nächsten Tagen folgen Zeugen, die anderen Gemeinden angehören. Auch seine Mutter hält sich an die „Liebevolle Vorkehrung“. Und Oliver Wolschke denkt sich: Wie kann ein Gott so etwas Grausames zulassen?

Er sagt, seine Frau und er hätten Glück gehabt. Seine Schwiegereltern sind keine Zeugen, sie haben sich über die Entscheidung gefreut. „Andere kennen überhaupt keine Andersgläubigen, die sind komplett allein, wenn sie aussteigen.“ Etliche haben auch einen großen Teil ihres Vermögens der Organisation gespendet. Das Geld wird zum Beispiel für Bauten verwendet. In San Diego ließ Glaubensführer Joseph Rutherford einst eine riesige Villa bauen, in der nach Harmagedon die Auferstandenen Moses, Noah, Abel, Abraham und Isaak leben könnten - nicht als Geisteswesen, sondern in menschlicher Gestalt. Da Harmagedon erneut ausblieb, wohnte Rutherford bis an sein Lebensende in der Villa.

Mehr Missbrauchsfälle werden öffentlich

Wolschke sagt, in Zukunft werde die Organisation vermutlich auch viel Geld für Gerichtsprozesse brauchen. Er hofft, dass in immer mehr Ländern Missbrauchsfälle öffentlich gemacht werden. Und Opfer sich dann Anwälte nehmen. Seine Überlegungen, die Ergebnisse seiner Recherchen und die Einzelheiten des Ausstiegs hat Wolschke aufgeschrieben und auf seinem Blog oliverwolschke.de veröffentlicht. 120 einstigen Glaubensbrüdern schickte er den Link. Zwei antworteten, sie verstünden seine Sichtweise. Die anderen schweigen.

Im April haben seine Söhne das erste Mal Ostern gefeiert. Früher durften sie statt Eiern nur Steine anmalen, das zählte nicht. Die Kita-Erzieherin sagt, der Ältere sei seit dem Ausstieg aufgeschlossener gegenüber den anderen Kindern. „Ich glaube, wir haben unsere Söhne gerettet“, sagt Wolschke. Vieles aus der Vergangenheit kommt ihm heute irreal vor: „So schwer es war, aus dieser Sklaverei des Denkens herauszukommen, so schwer ist es jetzt, sich vorzustellen, dass man all das wirklich einmal geglaubt hat.“

Oliver Wolschke ist sich nicht sicher, ob es überhaupt einen Gott gibt. Aber er sagt, die Frage habe für ihn gerade wenig Bedeutung. Wichtiger sei, das Leben jetzt zu genießen. Er hofft auch, dass seine Mutter irgendwann wieder ihre Enkel in den Arm nimmt.

Der Link zum Blog: jwinfo.de 

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