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Moskau-Marzahn. Spätaussiedler Heinrich Groth hat schon zu Sowjetzeiten für die Rechte der deutschen Minderheit gekämpft. Seit 2002 lebt er in Deutschland.

© Kitty Kleist-Heinrich

Integration in Berlin: Warum der "Fall Lisa" Russlanddeutsche empört

Lange lebte Heinrich Groth unauffällig in Berlin. Wie die meisten Russlanddeutschen. Der „Fall Lisa“ änderte alles. Nun führt er die Demos gegen Zuwanderer an. Viele seiner Landsleute folgen ihm. Marionetten Putins sind sie nicht – aber wütend.

Mehr als 150 TV-Sender, per Satellit, auf Russisch. So versprechen es Werbeplakate an der Tür eines Souvenirladens im Carrée Marzahn. Drinnen steht eine Kassiererin, die ihren Namen nicht nennen möchte. „Die Journalisten kommen ständig, filmen alles und meinen, die dürfen das.“ Im Laden hängen Putin-Shirts, die sich nun „ausgezeichnet verkaufen, auch an Deutsche“, DVDs über den Zweiten Weltkrieg, verschnörkelte Tassen und über einer Bücherwand orthodoxe Ikonen. Es sind kulturelle Anker einer Gemeinde, die gerade Halt sucht. Oder wie die Verkäuferin sagt: „Man weiß doch nicht mehr, wem man glauben soll.“

Vor mittlerweile 14 Jahren sei sie aus Sibirien eingewandert. „Ich benehme mich hier. Die Muslime aber führen sich auf wie Könige.“ Manchmal müsse sie „die“ rauswerfen, gerade Jungs, weil sie klauten. „Ich bin keine Nationalistin, wobei ... vielleicht werde ich gerade zu einer.“ Sie glaubt, dass Polizei und Medien lieber politisch korrekt sind, statt Bürger zu schützen oder zu informieren. Sie wolle doch nur Frieden. Sie ist eine für diese Zeit und diese Gegend sehr typische Russlanddeutsche.

Die sind seit dem „Fall Lisa“ in Aufruhr. Mitte Januar war die 13-Jährige aus Marzahn verschwunden, behauptete anschließend, von Migranten entführt und vergewaltigt worden zu sein. Das stimmte zwar nicht, bei ihren Ermittlungen fand die Polizei aber heraus, dass Lisa lange vor ihrem Verschwinden Sex mit zwei Männern mit Migrationshintergrund hatte – gegen die wird nun wegen Kindesmissbrauchs ermittelt. In der fraglichen Nacht war sie bei einem 19-jährigen Bekannten. Die Polizei sagte anfangs öffentlich nur wenig, weil es um eine Minderjährige ging. Der russische Staatssender „Pervyj Kanal“ machte die Geschichte groß. Am Ende warf der russische Außenminister Sergej Lawrow den Behörden „Vertuschung“ vor, sein deutscher Amtskollege wies das als Propaganda zurück. Für viele Russlanddeutsche steht seither fest, dass die Behörden nicht auf ihrer Seite stehen. Dabei war es jahrelang still um sie. Ähnlich wie die Polen galten sie als gut integriert, unauffällig.

Wie ein Standbild aus dem Russland der Jahrtausendwende

In Marzahn-Hellersdorf, um das Carrée herum, leben bis zu 30 000 Russlanddeutsche. Das einzige westliche am Marzahner Carrée ist sein französischer Name. Die Gegend wirkt wie ein Standbild aus dem Russland der Jahrtausendwende, vor dem Wirtschafts- und Bauboom. Umgeben von Plattenbauten gibt es einen russischen Supermarkt, ein Restaurant, ein Reisebüro – und eben den Souvenirladen. 150 Sender. Grenzenloses Russland, auf allen Kanälen, überall.

Draußen, vor dem Laden, laufen viele Menschen mit ernsten Gesichtern vorbei. Wie um ein Klischee über Russen zu erfüllen, torkelt ein einzelner alter Säufer umher, er trägt eine Michael-Schumacher-Kappe und pöbelt den türkischen Betreiber einer Dönerbude an. „Suka, ty!“ – Hure du! Der lacht und klopft dem Alten auf die Schulter. Es wirkt okay, das Leben in Marzahn.

Gespräche mit Russlanddeutschen lassen vor allem einen Eindruck entstehen: Sie wollen besonders gute Deutsche sein. Oder das, was sie für besonders deutsch halten. Ordnung geht über alles, „fremde Kulturkreise“ sind nicht willkommen. Sie ähneln Konvertiten, die besonders eifrig predigen, weil sie meinen, etwas aufholen zu müssen. Die Russlanddeutschen sind nach vielen Jahren vergeblichen Kampfes in der Sowjetunion zum Deutschtum konvertiert. Und das verteidigen sie jetzt.

Die größte mediale Aufmerksamkeit erfuhren die Russlanddeutschen zuletzt durch eine Demonstration vor dem Kanzleramt. Sie waren wegen Lisa und „gegen Ausländergewalt“ auf die Straße gegangen. Angemeldet und geleitet hat diesen Protest Heinrich Groth, der schon zu Sowjetzeiten für die Rechte der deutschen Minderheit im Riesenreich gekämpft hat und seit 2002 in Deutschland lebt.

Bürgerwehren mit russlanddeutscher Beteiligung?

Groth betritt in einem dunklen Mantel ein Café am Carrée. „Wir sind hier wie in einer Falle. Jahrelang haben wir in der Sowjetunion dafür gekämpft, unter Deutschen zu leben. Jetzt sind wir hier und können das doch nicht.“ Um für Sicherheit zu sorgen, hat Groth an den Innenminister Thomas de Maizière einen Brief geschrieben, in dem er Bürgerwehren vorschlägt, mit russlanddeutscher Beteiligung. Der Fall Lisa sei dabei nur der letzte Auslöser, die Menschen seien spätestens seit den Ereignissen von Köln tief verunsichert.

Groth und sein „Internationaler Konvent der Russlanddeutschen“ haben weniger Berührungsängste nach rechts als der Normaldeutsche. „Ich will keine Kooperation mit der NPD“, sagt Groth. Doch wenn niemand anderes zuhöre, müsse eben mit den oppositionellen Kräften geredet werden, die gleiche Interessen verfolgen. „Ich bin nicht gegen Muslime“, sagt Groth, „aber in Deutschland ist die Stimmung überreizt und die Polizei hilflos. In dieser Lage Menschen aus fernen Kulturkreisen kommen zu lassen, ist ein großer Fehler.“

Groth bestreitet, aus Moskau finanziert oder gesteuert zu sein. Nachprüfen lässt sich das nicht. Einige Medien hatten die Russlanddeutschen schon als „fünfte Kolonne“ Putins bezeichnet. So pauschal, das lässt sich sagen, stimmt das vermutlich nicht.

Der "Fall Lisa" änderte alles

Solche Behauptungen ärgern deshalb auch Waldemar Eisenbraun, den Vorsitzenden der Landsmannschaft der Deutschen in Russland, der sonst eher das Gegenteil von Heinrich Groth ist. „Wir alle geraten unter den Pauschalverdacht, rechtsorientiert und fremdgesteuert zu sein.“ Die Landsmannschaft, die zum Bund der Vertriebenen gehört, hatte den Demonstrationsaufruf verurteilt.

Eisenbraun sorgt sich um das Ansehen der Spätaussiedler: „Der Ruf der Russlanddeutschen ist in den vergangenen zehn Jahren mühsam ins Positive gedreht worden.“ Heute ist die Arbeitslosigkeit in dieser Gruppe vergleichsweise gering, wie eine Studie des Bundesamts für Migration zeigt. Das Einkommensniveau liegt nur knapp unter dem der Gesamtgesellschaft, viele haben in Deutschland ein Haus gebaut. Die Familie hat einen besonderen Stellenwert, die Bindungen zur eigenen Community sind oft eng. Was auch bedeuten kann: Man bleibt unter sich.

Der „Fall Lisa“ änderte alles. „Zum ersten Mal traten Russlanddeutsche öffentlich und bundesweit in Erscheinung“, sagt der Migrationsforscher Jannis Panagiotidis, der an der Universität Osnabrück die Integration der Russlanddeutschen untersucht. Dass in der deutschen Öffentlichkeit automatisch angenommen worden sei, diese Gruppe würde durch russische Propaganda vom Kreml aus gesteuert, hat das Ganze noch schlimmer gemacht. Nicht nur die Berichte in den russischen Staatsmedien hätten Einfluss auf die Russlanddeutschen. „In der deutschen öffentlichen Debatte über Flüchtlinge ist derzeit die Rede von Krise, von Kontrollverlust und sogar von einem ,Schweigekartell‘, das russische Staatsfernsehen verstärkt diesen Effekt.“ Auf den Kundgebungen der Russlanddeutschen höre man Ähnliches wie auf den Demos von Pegida oder der AfD, betont der Historiker. Groths Konvent sei „einer der Akteure, die schon länger versuchen, die Russlanddeutschen mit der rechten Szene zusammenzubringen“.

Aufruf zur Demonstration über Whatsapp

Aber gab es eine direkte Einflussnahme aus Russland? „Das wissen wir nicht“, sagt Eisenbraun. Der Aufruf zu der Demonstration verbreitete sich über Whatsapp, in scharfem Ton und in russischer Sprache, und war offenbar sehr breit gestreut. Eisenbraun selbst erhielt die Nachricht gleich von vier verschiedenen Personen. Man habe den Urheber nicht zurückverfolgen können.

Historiker Panagiotidis meint aber eine Erklärung für die Wut ausgemacht zu haben: „Wer sich gegen Zuwanderer stellt, betont, dass er zur deutschen Gesellschaft dazugehört.“ Das zu betonen ist wohl nötig, denn während Russlanddeutsche in der alten Heimat „die Deutschen“ waren, wurden sie in Deutschland plötzlich „die Russen“. So erfüllten sich für viele die Erwartungen nicht, die sie mit ihrem neuen Leben verbunden hatten. Und es hat eine bittere Ironie, dass der russische Außenminister Lawrow dadurch, dass er die 13-Jährige aus Marzahn als „unser Mädchen“ bezeichnete, die Russlanddeutschen wieder zu Russen erklärte.

Ab 1987 stieg die Zahl der Aussiedler aus der ehemaligen Sowjetunion sprunghaft an. Im Kreml hatte Michail Gorbatschow den Beginn der Perestroika verkündet, eine Ausreise aus der Sowjetunion war plötzlich ohne große Schwierigkeiten möglich. Diejenigen Sowjetbürger mit deutschem Hintergrund, die sich schon lange um eine Ausreise bemüht hatten, konnten fahren. Sie brachten gute Deutschkenntnisse mit und wurden nach der Ankunft mit Sprachkursen und finanziellen Starthilfen unterstützt.

Doch als von Jahr zu Jahr mehr Menschen aus der Sowjetunion kamen, wurden in Deutschland die Gesetze verschärft. Nicht mehr als 200 000 Auswanderer, die ab 1993 „Spätaussiedler“ hießen, sollten ins Land kommen dürfen. Das Geld für Eingliederungshilfen wurde gekürzt. Für die Familienangehörigen wurde eine Deutschprüfung erst viel später Pflicht, und selbst heute reichen Grundkenntnisse. So kamen seit den 90er Jahren viele Menschen, die kaum die Sprache beherrschten. Für einen Teil von ihnen blieb Russisch Alltagssprache, nicht nur in Marzahn.

2,3 Millionen Menschen kamen als Spätaussiedler

Selbst auf die Frage, wie viele Russlanddeutsche heute in Deutschland leben, gibt es keine einfache Antwort. Mehr als 2,3 Millionen Menschen kamen in den vergangenen drei Jahrzehnten als Spätaussiedler. Die Landsmannschaft geht von vier Millionen Russlanddeutschen aus, rechnet dabei allerdings auch die zweite Generation hinzu, die in Deutschland geborenen Kinder der Aussiedler. Die Zahl der russischsprachigen Menschen in Deutschland wird mal auf vier, mal auf sechs Millionen Menschen geschätzt.

„Russlanddeutsch“ sind in der aktuellen Debatte ohnehin alle, die aus der ehemaligen Sowjetunion kommen und Russisch sprechen, fühlen und denken. Sie kommen aus Russland, der Ukraine, Kasachstan, Lettland. Es sind Menschen, die seit 20 Jahren in Deutschland sind oder noch keine zwei. So wie der Politaktivist Oleg Muzyka.

Ein Montagabend in Berlin, Starkwind peitscht über den Alexanderplatz. Muzyka beeindruckt das nicht. Er ist 48, stammt aus Odessa, trägt Seitenscheitel. Muzyka hält einen mannshohen Aufsteller. Oben steht „Ukraine-Nazi“, darunter sind Fotos zu sehen. Runenschrift, völkische Tattoos, Fackelmärsche, das volle Pogrom-Programm. Muzyka hat sich für seinen Kampf den „Müttern gegen den Krieg“ angeschlossen, überwiegend älteren Frauen, die seit vielen Jahren kleine Kundgebungen abhalten, oft an den großen Bühnen der Berliner Politik.

Muzyka lächelt freundlich und bestimmt, er hat einen klaren Auftrag: „Wir durchbrechen die Informationsblockade.“ Der Westen soll darüber aufgeklärt werden, wie braun die Maidan-Revolution gefärbt ist und welche Verbrechen die Rechtsradikalen im Land begehen. Mazyka war beim Feuer von Odessa mit 42 Toten im Gewerkschaftshaus. Er überlebte verletzt. Sein Bruder wurde schwer verletzt, ist seither behindert. Ukrainische Nationalisten sind nach allem, was bekannt ist, schuld an dem Drama. Westliche Politiker hüten sich, zum Fall Odessa eindeutig Position zu beziehen.

"Russland ist eine Geisteshaltung"

Ein junges Pärchen aus Kiew bleibt stehen, sichtlich berührt. Warum Muzyka denn solche Sachen über die Ukraine verbreite? „Wollt ihr also sagen, die Nazis in der Ukraine gibt es nicht?“, fragt Muzyka. Die beiden sagen zögerlich: „Ja, das sind Lügen.“ Muzyka ist nun nicht mehr zu halten, nennt Namen, erzählt von Narben, er war dabei. Der Aufsteller fällt fast um, Muzyka hält ihn fest und redet weiter. Die jungen Leute treten immer weiter zurück. Dann gehen sie.

Oleg Muzyka war auch bei der Demonstration vor dem Kanzleramt dabei, er ist sowieso meistens dabei, wenn für die Sache gekämpft wird. „Es geht mir nicht um den Anschluss der Ukraine an Russland, sondern um eine föderale Ukraine, die wirtschaftlich mit Russland kooperiert“, erklärt er. Als Mitglied der ukrainischen Partei „Rodina“ – nicht zu verwechseln mit der namensgleichen russischen Partei – wird er finanziell von Geschäftsleuten ausgestattet, die ihre Interessen vertreten sehen wollen. Er selbst bezeichnet sich politisch als links.

Muzyka teilt die Kritik an Angela Merkels Flüchtlingspolitik, träumt von einer engeren Bindung Deutschlands und der slawischen Welt und erklärt seine Ethik freundlich mit einer Abwandlung berühmter Worte: „Verhalte dich so, wie du von anderen behandelt werden willst.“ Kurzum, Muzyka ist ein typischer „Russe“, ohne einen russischen Pass zu besitzen. Oder, wie er selbst das sagt: „Russland ist kein Land, es hat keine geografischen Grenzen. Russland ist eine Geisteshaltung.“

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