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Der SPD-Vorsitzende und Bundeswirtschaftsminister Sigmar Gabriel.

© dpa

Interview mit SPD-Chef Sigmar Gabriel: "Russland darf nicht ins wirtschaftliche Chaos rutschen"

Vizekanzler und SPD-Chef Sigmar Gabriel über die Forderung nach weiteren Sanktionen, die Lage seiner Partei in der großen Koalition und sein Verhalten im Fall Sebastian Edathy.

Herr Gabriel, das Jahr 2014 hat für die SPD mit der Edathy-Affäre begonnen und es geht mit der Edathy-Affäre zu Ende. Wie groß ist der Schaden für Ihre Partei?
Natürlich schadet es der SPD, wenn ein Ex-Abgeordneter im Zusammenhang mit Kinderpornografie Schlagzeilen macht und sich damit nun ein Untersuchungsausschuss beschäftigt. Menschliche Abgründe können tief sein – wie wir lernen mussten, leider auch bei einem SPD-Abgeordneten.

Können Sie sicher sein, dass alle in der SPD-Spitze in der Edathy-Affäre zu jedem Zeitpunkt korrekt gehandelt haben?
Ja, natürlich. Sebastian Edathy war damals durch seine sehr gute Arbeit im NSU-Untersuchungsausschuss ein sehr bekannter und beliebter Abgeordneter. Und natürlich war er ein denkbarer Kandidat für mögliche Führungsaufgaben sogar in der Bundesregierung. Davor allerdings wollte uns der damalige CSU-Innenminister Hans-Peter Friedrich warnen, um Schaden zu verhindern. Aber völlig klar ist: Niemand aus der SPD-Führung hat Herrn Edathy vor möglichen Ermittlungen der Staatsanwaltschaft im Zusammenhang mit Kinderpornografie gewarnt – das sagt ja selbst Herr Edathy.

Sie haben Edathy nach Bekanntwerden der Vorwürfe in der Öffentlichkeit in einer SMS geschrieben: "Sebastian, es tut mir sehr leid für Dich. Wenn Du Hilfe brauchst, melde Dich. Kopf hoch! Es kommen auch wieder bessere Zeiten." Warum?
Ich nahm an, dass Sebastian Edathy sich in einem seelisch labilen Zustand befand und sich vielleicht sogar etwas antut. Da ist es ein Gebot der Menschlichkeit, Hilfe anzubieten. Bei allem, was hier an schlimmen Dingen passiert ist, handelt es sich ja auch um eine menschliche Tragödie. Bis heute lässt mich das nicht kalt.

Wenig später haben Sie dann ein Parteiverfahren gegen Edathy angestoßen, um ihn aus der SPD auszuschließen, Wie passt das zusammen?
Das eine hat mit dem anderen nichts zu tun. Ich würde mich um jeden Menschen kümmern, bei dem ich Sorge hätte, dass er sich vielleicht das Leben nimmt. Aber das hat mit der Mitgliedschaft in der SPD nichts zu tun. Ich war und bin der Überzeugung, dass jemand, der sich kinderpornografische Schriften beschafft, keinen Platz in der Sozialdemokratie hat. Denn diese Bilder kommen immer durch den Missbrauch und oft durch die Vergewaltigung von Kindern zustande.

Inzwischen behauptet Edathy, der SPD-Abgeordnete Hartmann habe ihn über drohende Ermittlungen informiert. Auch der SPD-Führung sei klar gewesen, dass Hartmann im Bilde gewesen sei. Alles Lüge?
Ich halte die Vorwürfe gegen Herrn Hartmann nicht für glaubwürdig. Und sie widersprechen ja allem, was Herr Edathy in der Vergangenheit gesagt hat.

Das Koalitionsklima wird nicht nur durch den Fall Edathy belastet. Die Kanzlerin hat das erste Jahr mit scharfen Angriffen auf die SPD beendet. Wie erklären Sie sich das?
Ich werte das als Versuch der CDU-Vorsitzenden, die Unzufriedenheit ihrer Partei mit der Dominanz der SPD in der großen Koalition zu dämpfen. Es ist doch so: 2014 war das erfolgreichste sozialdemokratische Jahr seit langem. Wir haben die abschlagsfreie Rente nach 45 Versicherungsjahren, den Mindestlohn, die Mietpreisbremse und die Frauenquote durchgesetzt, außerdem Milliarden für Bildung und Forschung, Städtebau und Kommunen. Die SPD hat allen Grund, stolz zu sein und ihre Leistung in der Koalition selbstbewusst nach außen zu vertreten.

Wie soll die SPD Stolz entwickeln, solange sie in den Umfragen bei 25 Prozent liegt?
Wir haben im ersten Jahr unsere Wahlkampfversprechen erfüllt. Das hat Vertrauen geschaffen. Das ist die Basis für künftigen Erfolg, reicht aber natürlich nicht aus. Die SPD wird 2015 neue Themen anpacken. Wir müssen die Generation der 30- bis 50-Jährigen mit Kindern ins Zentrum unserer Politik stellen. Sie wird bisher von der Politik alleinegelassen, obwohl sie enorme Belastungen trägt. Sie muss im Beruf Höchstleistungen erbringen, die Kinder erziehen, womöglich noch die Eltern pflegen. Sie macht sich Sorgen um die Ausbildung der Kinder und um explodierende Mieten. Die SPD muss der Anwalt dieser "gehetzten" Generation werden.

Was wollen Sie konkret tun?
Wir werden beispielsweise das Projekt Familienarbeitszeit unserer Familienministerin Manuela Schwesig vorantreiben. Bislang hat die Flexibilisierung von Arbeitszeiten immer nur den Betrieben genutzt. Jetzt müssen wir Flexibilität für Menschen schaffen.

Der Rubel verfällt, Russlands Wirtschaft stürzt ab. Ist das im deutschen Interesse?

Sind Steuererhöhungen zum Zweck der Umverteilung noch Bestandteil Ihrer Politik? Die Vermögensteuer haben Sie ja schon beerdigt ...
Der Staat braucht Steuereinnahmen, damit wir mehr investieren können in Bildung, Forschung, Breitband und auch in die klassischen Verkehrswege. Während die kleinen und mittelständischen Unternehmen in Deutschland Steuern und Sozialabgaben zahlen, drücken sich mehr und mehr gerade große Konzerne vor dem Steuerzahlen. Die, die die größten Gewinne machen, Konzerne wie Amazon oder Google, zahlen die geringsten Steuersätze. Jeder Bäckermeister in Berlin hat höhere Steuersätze. Und das alles nur, weil sich diese Konzerne in Europa Steueroasen aussuchen können. 26 Millionen Arbeitslose, darunter Millionen von Jugendlichen, haben wir in Europa. Es kann doch nicht wahr sein, dass wir in Europa händeringend nach Geld suchen, um in Wachstum und Arbeit zu investieren und Europa gleichzeitig nicht in der Lage ist, dieses Steuerdumping zu bekämpfen. Allein Deutschland gehen so 150 Milliarden Steuereinnahmen verloren. Das muss jedem Arbeitnehmer, Handwerksmeister, Mittelständler die Zornesröte ins Gesicht treiben.

Wie sollte nach dem Karlsruher Urteil die Erbschaftsteuer reformiert werden?
Wir werden in den nächsten Monaten eine Regelung schaffen, bei der der Betriebsübergang von Familienunternehmen weiterhin gesichert wird. Sonst entziehen wir kleinen und mittleren Firmen Eigenkapital und treiben sie in die Hände der Banken. Das kann sehr schnell viele Arbeitsplätze kosten.

Die Freihandelsabkommen mit den USA und Kanada sind in der SPD hoch umstritten. Können Sie SPD-Chef bleiben, wenn die Partei gegen Ihren Willen Nein zu Ceta und TTIP sagt?
Diese Frage stellt sich so ja gar nicht. Wir Sozialdemokraten wollen ebenso wie die Gewerkschaften Freihandel, denn Millionen von Jobs hängen in Deutschland am Export. Und wir sehen ja, dass die Welt sich immer mehr nach Asien verschiebt. In Wahrheit geht es nicht um die Frage, ob wir ein Freihandelsabkommen schließen oder nicht. Sondern nur darum, ob Europa und die USA die Standards dieser Freihandelsabkommen weltweit bestimmen oder ob wir uns in naher Zukunft den Standards anpassen müssen, die die USA mit China vereinbart haben. Die allerdings werden weit schlechter sein als die, die wir Europäer mit den USA erreichen können. Deshalb nützt es auch nichts, sich jetzt vor dieser schwierigen Aufgabe zu drücken. Sondern entweder wir verhandeln selbstbewusst oder es wird bald über uns verhandelt. 

Klingt wie ein Basta.
Nein. Ich finde es gut, dass in der SPD die gleichen kritischen Fragen gestellt werden wie im Rest der Gesellschaft. Wir wollen natürlich nicht Freihandel um jeden Preis. Es darf dabei keine schlechteren sozialen, ökologischen oder kulturellen Standards geben als heute. Und was wir überhaupt nicht wollen, sind intransparente Geheimgerichte. Wenn wir diese privaten Geheimgerichte aus den Abkommen nicht herausbekommen, werden die Abkommen in vielen Ländern der EU keine Mehrheit bekommen und scheitern. Deshalb sind alle, die diese Abkommen wollen, gut beraten, dazu Alternativen zu entwickeln. Und es gibt ja denkbare Alternativen wie zum Beispiel öffentlich-rechtliche Schiedsverfahren, in die nur obere Bundesrichter entsandt werden dürfen. Zwischen den USA und Europa würde es sich sogar lohnen, einen echten Handelsgerichtshof einzurichten. Eines muss klar sein: Wir wollen Investitionen schützen, aber kein neues Geschäftsfeld für Wirtschaftsanwälte eröffnen, die an milliardenschweren Klagen verdienen und gegen demokratische Parlaments- oder Regierungsentscheidungen aushebeln. Ich wäre übrigens ganz froh, wenn auch die Union mal den Alternativen zu der privaten Geheimjustiz entwickeln würde Diese Themen gehen uns alle an.

Der Rubel verfällt, Russlands Wirtschaft stürzt ab. Ist das im deutschen Interesse?
Am Ende des Tages können weder Deutschland noch Europa Interesse daran haben, dass Russland ins wirtschaftliche Chaos abgleitet. Deshalb ist die Forderung, die Sanktionen zu verschärfen, falsch. Da gibt es jetzt Scharfmacher nicht nur in den USA, die sogar den Beitritt der Ukraine zur Nato fordern. Als ob wir nicht schon genug gegenseitige Provokationen hätten. Dieser Debatte muss man Einhalt gebieten. Das Ziel ist doch nicht, Russland in die Knie zu zwingen, sondern zu Verhandlungen über eine friedliche Lösung des Ukrainekonflikts zu bewegen. Wir sollten stattdessen über eine neue Entspannungspolitik in Europa nachdenken. Wir brauchten die Sanktionen, um klarzumachen, dass wir den Bruch des Völkerrechts durch Russland nicht akzeptieren. Gleichzeitig aber brauchen wir neue Verhandlungen, für die sich Außenminister Frank-Walter Steinmeier so sehr einsetzt.

In Griechenland drohen Neuwahlen, wenn sich keine Mehrheit für einen neuen Staatspräsidenten findet. Kann das zu einer Rückkehr der Euro-Krise führen?
Ich hoffe sehr, dass mein Freund Stavros Dimas das Vertrauen der griechischen Parlamentsabgeordneten erringt. Er ist ein wirklicher Ehrenmann und Europäer und zugleich jemand, der selbstbewusst die Interessen Griechenlands vertreten wird. Die griechische Politik muss wissen, dass wir im Gegenzug für europäische Solidarität erwarten, dass in Griechenland keine parteipolitischen Spielchen gespielt werden.

Schwarz-Rot hat nach einem Jahr den Großteil des Koalitionsvertrags abgearbeitet. Und jetzt?
Der Koalitionsvertrag ist noch keineswegs abgearbeitet. Schauen Sie sich nur ganz aktuell an, wie der Missbrauch von Werkverträgen zu unhaltbaren Zuständen führt. Oder die großen Aufgaben, um Deutschland fit zu machen für eine globale und digital vernetzte Wirtschaft. Wir müssen dafür sorgen, dass die deutsche Industrie die digitale Revolution gestaltet – und nicht ihr Opfer wird. Das ist vielleicht die größte Herausforderung für die große Koalition in den kommenden Jahren. Noch ist Deutschland der Industrie-Ausrüster der Welt. Aber die Karten werden neu gemischt. Gegenwärtig verdienen deutsche Unternehmen ihr Geld mit dem Verkauf von Produkten wie Autos oder Maschinen. Doch das Geschäft von morgen wird sich viel stärker um Daten drehen. Diese Daten braucht man für den Service von Autos genauso wie für Produktinnovationen. Die Frage ist, ob dem Autohersteller aus Deutschland diese Daten gehören oder dem Internetkonzern aus Kalifornien oder dem Autofahrer selbst.

Nach einem harten ersten Jahr als SPD-Chef, Wirtschaftsminister und Vizekanzler: Erscheint Ihnen das Amt des Bundeskanzlers immer noch erstrebenswert?
Wer es als Politiker und Parteivorsitzender nicht erstrebenswert findet, Kanzler eines so bedeutenden und wichtigen Landes zu sein, wäre wohl fehl am Platz.

In Ihrer Partei heißt es: Diesmal muss Gabriel selber gegen Merkel ran ...
Dass der SPD-Vorsitzende ein möglicher Kandidat ist, kann keinen überraschen.

Wäre auch der Hamburger Olaf Scholz ein "möglicher" Kandidat?
Erfolgreiche Ministerpräsidenten der SPD kommen immer als Kanzlerkandidat infrage. Das ist doch klar.

Sie sind also nicht der Einzige, der zur Verfügung steht?
Gott sei Dank nicht. Wenn die SPD nur einen denkbaren Kandidaten hätte, wäre sie in einem schlimmen Zustand.

Das Interview führte Stephan Haselberger.

Zur Person Sigmar Gabriel

SPD-CHEF

2009 zum Parteichef gewählt, steht Sigmar Gabriel jetzt länger an der Spitze als jeder andere SPD-Vorsitzende nach Willy Brandt.

MINISTER

Hinter Gabriels Entscheidung für das Wirtschaftsministerium steht die Hoffnung, die SPD werde bei Wahlen besser abschneiden, wenn sie in die Mitte rückt. Die SPD soll dazu mehr Wirtschaftskompetenz beweisen.

VIZEKANZLER

In Abwesenheit der Kanzlerin darf Gabriel die Kabinettssitzung leiten. Dass er Angela Merkel einmal beerben kann, glaubt in seiner Partei derzeit aber kaum einer.

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