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Mesale Tolu: Wie eine deutsche Journalistin Erdogans Geisel wurde

Serkan ist zwei Jahre alt und lebt mit seiner Mutter im Frauenknast. Mesale Tolu ist politische Gefangene der Türkei. Ihr drohen 15 Jahre Haft.

Und jetzt plingt wieder das Handy. Hüseyin Tolu unterbricht das Gespräch, er muss einfach schauen, wer ihn da kontaktiert. Er muss. Das geht schon den ganzen Morgen so. Belanglose Mails bisher, die ihn erreichten, er drückte sie alle schnell weg.

Aber jetzt, jetzt treibt ihn die Nachricht hoch aus seinem Sessel, er schluckt, weil mit der Handy-Nachricht auch die Tränen rauskommen wollen, er strahlt trotzdem über das ganze Gesicht, er stammelt: „Schauen Sie, schauen Sie, hier, hier, das ist mein Vater, und das ist Serkan, Serkan, der Kleine, mein Vater hat ihn aus dem Gefängnis geholt, er darf heute raus, mein Vater hat es geschafft, Serkan darf raus, seinen Vater besuchen, im anderen Gefängnis.“

Muss man diese kleine Szene vom Mittwochmorgen in einem Berliner Hotel am Bahnhof Friedrichstraße so dramatisch schildern? Man muss, weil die Geschichte hinter der Szene noch viel dramatischer ist, sehr viel dramatischer, viel trauriger und viel, ja auch das, viel auswegloser und hilfloser.

50 Quadratmeter, geteilt mit 24 anderen Frauen

Hüseyin Tolu, 36 Jahre alt, ist der Onkel von Serkan, der ist zweieinhalb Jahre alt. Serkan sitzt ein im Frauengefängnis in Bakirköy, weil er bei seiner Mutter Mesale sein will. Die sitzt auch ein. Serkan hat einen kleinen Plastikball, das ist sein einziges Spielzeug, er hat am Tag eine Stunde Hofgang, ansonsten hockt er bei seiner Mutter in der Zelle.

50 Quadratmeter ist die groß, Mesale Tolu und Serkan Tolu teilen sie mit 24 anderen Frauen. Man kann sich ja vorstellen, dass Serkan schwer umhätschelt wird. Wenn er, wie an diesem Mittwoch raus kommt, darf er, von Polizisten bewacht, seinen Vater Suat Çorlu besuchen, der sitzt in einem anderen Gefängnis ein. Vater und Mutter sind in Untersuchungshaft, die kann in der Türkei bis zu fünf Jahre andauern. Man muss sich auch vorstellen, dass das doppelt so lang ist wie Serkans bisheriges Leben.

Der Bruder muss die Tränen unterdrücken

Diesseits der Vorstellung wissen wir das alles nur aus dritter Hand. Wir waren nicht in Bakirköy, wir haben die Zelle nicht gesehen, kennen weder Mesale Tolu noch Ehemann Suat Çorlu persönlich, haben den kleinen Serkan nur auf Fotos gesehen und wissen nichts über den Plastikball, mit dem er spielt. Wir haben Hüseyin Tolu getroffen, den Bruder von Mesale, am Morgen, nachdem er in der Talk-Show von Dunja Hayali im ZDF war.

Hüseyin ist Abteilungsleiter im Baumarkt von Hornbach in Ulm, aber derzeit überwiegend und mit Wohlwollen seines Arbeitgebers in Sachen seiner Schwester, seines Schwagers, seines Neffen unterwegs. Hüseyin Tolu sitzt in der Lobby des Berliner Hotels, kahl rasierter Schädel, darunter eine Designerbrille vor den Augen, darunter ein Grunge-Bärtchen, und schluckt, immer wieder stoppt er in seinem Redefluss, weil er schlucken muss, um die Tränen zu unterdrücken, weil die Fakten zu grausam sind, um sie einfach zu erzählen.

Hüseyin Tolu
In Sorge. Hüseyin Tolu kämpft für die Freiheit seiner Schwester Mesale.

© picture alliance / Stefan Puchner

Die Fakten sind inzwischen auch dem Auswärtigen Amt bekannt. Hüseyin Tolu sagt, dass er mit dem in Kontakt sei, dass von dort aus alles getan werde, um seine Angehörigen freizubekommen. „Aber wissen Sie, wenn wir in Deutschland endlich anders mit der Türkei umgehen und diesen Erdogan nicht mehr umgarnen, dann hat Mesales Haft etwas erreicht.“

Die Fakten, so wie sie inzwischen bestätigt wurden von allen beteiligten Behörden: Mesale Tolu ist wie ihr Ehemann Journalistin und Übersetzerin. Sie wurde 1984 in Ulm geboren, ihr Vater Ali Riza war zehn Jahre zuvor aus der Türkei nach Deutschland gekommen, er war Automechaniker. Mesale, was sich Meschale spricht, hat in Frankfurt am Main Ethik und Spanisch fürs Lehramt studiert und sich nach dem Examen entschieden, die doppelte Staatsbürgerschaft abzulegen. Mesale Tolu Çorlu war fortan nur noch Deutsche wie etwa Lieschen Müller Deutsche ist. Ihre Staatsbürgerschaft muss man in diesem Fall besonders betonen, weil sie bedeutet, dass die türkische Justizbehörde im Fall von Mesale Tolu Çorlu völkerrechtswidrig gehandelt hat und die deutschen Behörden nicht von der Verhaftung einer deutschen Staatsbürgerin informierte.

Gefunden hat die Polizei nichts - egal

In der Nacht zum 30. April stürmten türkische Polizisten die Istanbuler Wohnung von Mesale Tolu Çorlu. Warum? Darum. Mesale Tolu pendelt arbeitsbedingt zwischen Neu-Ulm und Istanbul. Mit in der Wohnung schlief auch der kleine Serkan, den Polizisten mit gezückten Pistolen weckten und bei wildfremden Nachbarn abgaben. Mesale Tolu wurde verhaftet, ihre Wohnung auf der Suche nach irgendeinem Beweismaterial für irgendetwas verwüstet. Es wurde aber nichts gefunden. Mesale Tolu wurde trotzdem ins Gefängnis verbracht.

Das war um 4.30 Uhr. Um 6.30 Uhr, erzählt ihr Bruder Hüseyin Tolu, schaffte es seine Schwester, irgendeinen Wachhabenden zu überreden, dass sie Vater Ali Riza anrufen könne. Der lebt inzwischen in Elbistan, was 1300 Kilometer von Istanbul entfernt ist. Ali Riza Tolu, die Mutter war 1990 bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen, reist umgehend nach Istanbul. Erst am 15. Mai bekommt er die Erlaubnis, seine Tochter im Gefängnis zu besuchen und bringt ihr dabei auch den kleinen Serkan mit, der seitdem bei der Mutter im Gefängnis lebt. In diesem Istanbuler Frauengefängnis sind Mutter-Kind-Beziehungen möglich, es gibt auch ein Spielzimmer, aber da darf Mesale Tolu mit Serkan nicht hin. Warum nicht? Darum nicht.

Hüseyin Tolu erzählt, dass er inzwischen zweimal mit der Schwester habe telefonieren können. „Sie sagt, dass es ihr gut gehe, aber das würde sie uns, der Familie auch noch sagen, wenn sie den eigenen Kopf unter dem Arm trägt. Nur damit wir uns nicht sorgen.“ Hüseyin Tolus Gesicht ist anzusehen, dass er das nicht als Scherz meint.

Warum? Darum

Seit Recep Tayyip Erdogan Staatspräsident der Türkei ist, ist Pressefreiheit in der Türkei nur noch ein Wort aus der Vergangenheit. Deniz Yüzel, der Korrespondent der „Welt“, an dessen Inhaftierung der Tagesspiegel täglich erinnert, ist der bekannteste Fall. Mehr als 160 Journalisten sitzen in türkischen Gefängnissen. Warum? Darum. Der Vorwurf ist, immer vage, Angehöriger einer terroristischen Vereinigung zu sein, Spionageverdacht, irgendetwas, wofür es keine Beweise gibt, was aber leicht zu behaupten ist.

Mesale Tolu soll Terrorpropaganda betrieben haben und soll Mitglied einer Terrororganisation sein. Sie war Berichterstatterin über die Beerdigung von Sirin Öter und Yeliz Erbay, zwei Mitgliedern der MLKP, Marksist Leninist Komünist Parti, die 2015 von der Polizei bei einem Einsatz getötet wurden, etwa 2000 Menschen nahmen an der Beerdigung teil. Übertragen auf Deutschland, würde das die Verhaftung auch von Tagesspiegel-Kollegen bedeuten, wenn sie im Januar über die Demonstrationen der Linken und versprengten Alt-DDRler zu Ehren von Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg berichten. Der zweite Vorwurf: Es liegen Fotos vor, die Mesale Tolu bei der Gedenkveranstaltung für eine in Syrien getötete Kämpferin der kurdischen Miliz zeigen.

„Mesale“, sagt Hüseyin Tolu, „hat eine Besuchserlaubnis für ihren Mann beantragt, das hat sie ins Visier gebracht.“ Ihr Mann sitzt seit dem 5. April im Gefängnis Silivri ein. Warum? Darum. „Es war der gleiche Staatsanwalt, der hat erst meinen Schwager ins Gefängnis gebracht, nun auch Mesale.“

Von Deutschland aus arbeitet er für seine Schwester

Hüseyin Tolu sitzt immer noch in seinem Berliner Hotel in der Lobby, äußerlich stattlich, gefestigt, das Zittern in der Stimme spricht eine andere Sprache. „Ich bin auch der Meinung, dass sich der deutsche Staat nicht erpressen lassen darf. Mesale für Anhänger der Gülen-Bewegung auszuliefern, nein, dann muss Mesale im Gefängnis bleiben.“ Erdogan hatte der deutschen Regierung zu verstehen gegeben, er sei bereit, deutsche Gefangene freizulassen, wenn im Gegenzug türkische Staatsbürger, Gülen-Anhänger, ausgeliefert würden, die in Deutschland Asyl beantragt haben. Fethullah Gülen, Chefdenker und Oberhaupt der islamischen Gülen-Bewegung, gilt bei Erdogan und Anhängern als Organisator des gescheiterten Putsches vor einem Jahr.

Den Kontakt zu Hüseyin Tolus Schwester hält der Vater. Der ist inzwischen in Mesale Tolus Wohnung eingezogen, schreibt täglich Eingaben, Anträge, er darf seine Tochter und seinen Enkel einmal in der Woche sehen. Er selber, Hüseyin Tolu, traut sich nicht, in die Türkei zu reisen. „Die Gefahr, dass auch ich verhaftet werde, ist inzwischen zu groß.“

Stattdessen arbeitet er gegen Erdogan und für seine Schwester von Deutschland aus. „Wir haben in Ulm einmal in der Woche ein Meeting in Stadtmitte, immer freitags, da kommen etwa 100 Menschen, die für die Freilassung von Mesale auftreten.“ Und es kommen Störer, Anhänger Erdogans, die ohne Kenntnis der Sachlage, ohne Kenntnis der Personen, die Inhaftierung gut heißen. „Die Polizei“, sagt Hüseyin Tolu, „hat inzwischen aufgestockt, anfangs waren nur zwei Beamte bei den Meetings dabei, jetzt sind es regelmäßig sechs.“

Serkan würde es ohne Mutter nicht aushalten

Und wie geht es weiter?  Der Prozess gegen Mesale Tolu soll am 11. Oktober beginnen. Ihr drohen 15 Jahre Haft. „Wofür?“, fragt Tolu. Dafür, dass sie ihren Mann und Vater ihres Sohnes sehen wollte. „Mesale und Serkan sind Geiseln, politische Geiseln, wir dürfen dem nicht nachgeben.“

Aber könnte man nicht wenigstens Serkan rausholen?

Zum einen, sagt Hüseyin Tolu, fürchte er, dass dann das Jugendamt auf dem Plan wäre und Serkan in einem Heim unterbringt. Was eher unwahrscheinlich ist, aber Beleg für das Misstrauen und die Angst der Familie Tolu. „Zum anderen wird es Serkan ohne seine Mutter nicht aushalten.“

In einem Brief, den Mesale Tolu aus dem Gefängnis heraus hat absetzen können, berichtet sie ein wenig, wie das Leben in der Gemeinschaftszelle im Frauengefängnis ist. Das Essen für den Kleinen ist das Gefangenenessen, man ahnt, dass das nicht das Essen ist, was ein Zweieinhalbjähriger gerne isst. Einwegwindeln gibt es nicht, zwar habe das deutsche Konsulat versucht, solche zu beschaffen, das aber ist an Verordnungen gescheitert. In den Gefängniskindergarten darf Serkan noch nicht, dazu ist er zu klein. In das Spielzimmer darf er nicht mit der Mutter, nur mit einem Wärter. Man muss nicht mal Elternteil sein, um zu ahnen, welche Freude so ein kleiner Junge im Spielzimmer hat, wenn er, eingeschlossen, von der Mutter getrennt, mit einem fremden Menschen in einer fremden Umgebung sitzt.

Mesale Tolu sagt: Jetzt erst recht

„Gott ja“, sagt Hüseyin Tolu, „was erwarte ich? Mehr politischen Druck aus Deutschland, viel mehr politischen Druck. Es sind Verbrecher am Werk in der Türkei. Man muss denen wie Verbrechern gegenübertreten.“

Dann reist er ab. Das ZDF hat ihm einen Wagen geschickt, mit dem er vom Bahnhof Friedrichstraße zum Hauptbahnhof kutschiert wird. „Ich muss um 17 Uhr in Ulm sein, ich muss ja noch arbeiten, das Leben geht doch weiter“, sagt er. Ja, geht es. Auch für Mesale Tolu und ihren Sohn Serkan und ihren Mann Suat Çorlu. „Wissen Sie“, sagt Hüseyin Tolu bei der Abschiedszigarette vor der Tür, „im letzten Telefonat mit Mesale habe ich sie gefragt, ob sie, wenn sie rauskommt, wieder in die Türkei reisen werde. Sie sagte: jetzt erst recht.“

Am Abend, wenn der Onkel wieder daheim in Ulm ist, muss Serkan vom Gefängnis seines Vaters wieder in das Gefängnis seiner Mutter umziehen.

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