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Hartes Pflaster. Rund um die polnischen Läden im Stadtteil Hammersmith fürchten viele eingewanderte Londoner, nun nicht mehr willkommen zu sein.

© REUTERS

Neue Fremdenfeindlichkeit nach der Brexit-Wahl: Lizenz zum Hassen in Großbritannien

Joanna Mludzinska ist in London geboren, hat hier studiert – und wird jetzt als Polin attackiert. Seit der Brexit-Wahl spaltet eine neue Fremdenfeindlichkeit das Land. Es trifft nicht nur Einwanderer aus der EU.

Der Mann mit dem Kapuzenpulli wartet nicht lange. Keine 48 Stunden später, in der Nacht zum Sonntag nach dem EU-Referendum, fährt er mit einem Fahrrad vor die Tür des polnischen Kulturzentrums POSK in London-Hammersmith und zückt seine Spraydose. Die Sicherheitskamera vor dem Gebäude zeichnet auf, wie er, die Kapuze tief ins Gesicht gezogen, die Glasfront mit Farbe besprüht. Joanna Mludzinska, die Leiterin des Kulturzentrums, sieht ihm am nächsten Morgen dabei zu, auf einem Bildschirm neben der Rezeption in der Eingangshalle. „FUCK YOU“ steht in verschmiertem Gelb auf der Eingangstür des Kulturzentrums. Die Farbe zieht sich quer über die Front, klebt auf der Glastür und an der Wand daneben. Seit Gründung des Zentrums in den 1970er Jahren ist so etwas nie passiert.

Doch nach dem Referendum, bei dem sich die Mehrheit der Briten gegen die Europäische Union entschieden hat, scheint sich im Land eine neue Fremdenfeindlichkeit durchzusetzen. Allein in den ersten vier Tagen nach der Abstimmung verzeichnete „True Vision“, eine Webseite der Polizei, auf der Menschen rassistische Übergriffe melden können, einen 57-prozentigen Anstieg solcher Taten. Und viele berichten auf Twitter und Facebook von Aufforderungen, das Land zu verlassen, von Beschimpfungen, von gewalttätigen Übergriffen. Bei der Initiative „Stop Hate UK“, die eine Hotline für Opfer rassistischer Übergriffe betreibt, meldeten sich in der Woche nach dem Referendum vier- bis fünfmal so viele Menschen wie sonst. Auch jetzt ist die Zahl immer noch doppelt so hoch .

Ihre Eltern verließen Polen während des zweiten Weltkrieges

Wenige Tage nach der Attacke sitzt Joanna Mludzinska – graue Tunika, grau-blonder Bob, Bernsteinschmuck – im Foyer des polnischen Zentrums. Mludzinska spricht Englisch ohne Akzent. Ihre Eltern verließen Polen während des Zweiten Weltkriegs. Sie suchten Sicherheit und fanden sie in Großbritannien. Ihr Vater kämpfte wie viele andere Polen an der Seite der Briten gegen die Nazis. Nach dem Krieg blieben er und seine Frau im Königreich. Mludzinska ist in London geboren und aufgewachsen, sie hat hier studiert und gearbeitet, für das British Council, das unter anderem Englischsprachkurse für Ausländer anbietet. England ist ihre Heimat, in Polen hat sie nie gelebt. Sie liebt das Land und bis vor Kurzem hatte sie keinen Grund zu glauben, dass das nicht auf Gegenseitigkeit beruhe.

Seit der Brexit-Wahl ist Mludzinska sich da nicht mehr so sicher. Besorgt erzählt sie von einer polnischen Familie in Plymouth, deren Grundstück mit Brandbomben beworfen wurde und davon, wie eine ihrer Freundinnen in Nottingham im Bus beschimpft wurde, als sie am Telefon mit ihrer Mutter polnisch sprach.

Der Vorwurf gegen Immigranten ist immer wieder derselbe. Die Einwanderer, so sagen sie, nehmen den Briten die Arbeitsplätze weg, sie drücken Löhne, oder noch härter, sie würden das Sozialsystem ausnützen und nichts zum Gemeinwohl der Briten beitragen. Für Mludzinska sind solche Argumente lachhaft. Die Polen haben eine lange Geschichte im Vereinigten Königreich. Im Kulturzentrum erinnert vieles daran, gleich neben der Rezeption hängt ein Poster für eine Ausstellung mit dem Namen „Enigma Relay“.

Attackiert. Joanna Mludzinska arbeitet im polnischen Kulturzentrum in London. Probleme gab es bis zur Brexit-Wahl nie.
Attackiert. Joanna Mludzinska arbeitet im polnischen Kulturzentrum in London. Probleme gab es bis zur Brexit-Wahl nie.

© Laubmeier

Es waren Polen, die im Zweiten Weltkrieg frühe Versionen der deutschen Enigma-Maschine knackten und so den Briten im Kampf gegen die Nazis halfen. In der Schlacht „Battle of Britain“, bei der die Royal Airforce die Insel gegen die Flugzeuge der Nazis verteidigte, halfen ihnen polnische Piloten. Eine der Einheiten, Dywizjon 303, wurde nach dem Krieg als zweitbeste Fliegereinheit ausgezeichnet. Im Zentrum in Hammersmith hat deshalb bis heute auch die Polish Air Force Association ihre Büros.

Dass Polen das Sozialsystem besonders belasten, ist ein hartnäckiges Gerücht

Die Polen sind die größte Ausländergruppe in Großbritannien, 15 Prozent aller Menschen mit ausländischem Pass kommen von dort. Bei der britischen Volkszählung 2001 lebten rund 60.000 Menschen auf der Insel, die in Polen geboren sind. Nach dem EU-Beitritt 2014 wurde die Zahl der Polen im Land auf bis zu 600.000 geschätzt.

Dass sie die Sozialsysteme belasten, erweist sich als ein besonders hartnäckiges Gerücht. Die meisten Polen haben Jobs, verdienen also ihr eigenes Geld. „Viele machen einfach die Arbeit, die Briten nicht machen wollen“, sagt Joanna Mludzinska leise. Von der gelben Farbe ist draußen an der Fassade fast nichts mehr zu sehen. Noch am selben Morgen hatten sie das Graffiti entfernt. „Wir wollten nicht, dass unsere Besucher das sehen müssen“, sagt sie. Nur in den Kanten des polnischen Adlers neben dem Eingang hat sich die Farbe festgesetzt.

Auf die polnischen Einwanderer hatten es viele Brexit-Befürworter abgesehen. „Breaking Point“ stand auf einem Poster, das Nigel Farage, damals Chef der rechtspopulistischen Ukip, während des Wahlkampfs enthüllte. Die Botschaft: Großbritannien ist voll, die Bewegungsfreiheit in der EU sei zur Gefahr geworden, das Land stehe vor dem Zusammenbruch. Doch schnell haben sich auch Online-Initiativen gebildet, die helfen wollen.

Auf Facebook und Twitter kursiert beispielsweise die Aktion #safetypin. Dabei werden Menschen aufgefordert, Sicherheitsnadeln an ihre Kleidung zu heften, als Zeichen dafür, dass sie „sicher“, also keine Rassisten, sind. Erfunden hat die Aktion die Twitter-Nutzerin @cheeahs. Am Tag des Referendums twitterte sie ihre Idee, die sich schnell in den sozialen Netzwerken verbreitete. @cheeas heißt eigentlich Allison und ist US-Amerikanerin, die seit sechs Jahren in London lebt.

Seit dem Referendum werden auch Moslems angegriffen

Hartes Pflaster. Rund um die polnischen Läden im Stadtteil Hammersmith fürchten viele eingewanderte Londoner, nun nicht mehr willkommen zu sein.
Hartes Pflaster. Rund um die polnischen Läden im Stadtteil Hammersmith fürchten viele eingewanderte Londoner, nun nicht mehr willkommen zu sein.

© REUTERS

Ihren vollen Namen will Allison nicht verraten. Sie schreibt, dass sie nach einem Weg gesucht habe, etwas Positives zur Situation nach dem Referendum beizutragen. Die Sicherheitsnadel erschien ihr als eine gute Idee. „Es ist simpel, weil man nicht extra etwas kaufen muss und weil es keine Sprache oder politische Slogans braucht. Es ist einfach ein kleines Symbol, das Menschen, die mit Rassismus zu kämpfen haben, zeigt, sie sind nicht allein.“ Nach wenigen Tagen begannen Menschen die Bilder von Sicherheitsnadeln als Profilfotos zu benutzen. Seit Kurzem gibt es sogar T-Shirts mit dem Motiv. Dass das Symbol so bekannt würde, sagt Allison, habe sie überrascht.

Seit dem Referendum werden aber nicht nur Einwanderer aus der EU angegriffen. Vor der Majid-Ayesha-Moschee in Tottenham in Nord-London wartet Areeb Ullah. Mit seinem schwarzen Vollbart und den kurzen Haaren sieht er ein wenig wie ein Hipster aus. Für den 24-jährigen Journalisten ist der Bart ein religiöses Statement. Ullah ist Muslim. Tottenham ist eines der multikulturellsten Viertel der Stadt, nur 35 Prozent der Bewohner sind weiß und britisch.

Weißes Pulver rieselte aus dem Brief - Anthrax?

Am Morgen des 7. Juli, des elften Jahrestags der Bombenanschläge, mit denen islamische Terroristen die Stadt erschütterten, landete ein Brief im Postkasten der Gemeinde, der am Ende des Tages zu einem großen Polizeieinsatz führen sollte. Ullah zeigt die Fotos auf seinem Smartphone. Eine Hand im Plastikhandschuh hält ein weißes Kuvert. Jemand hat mit Kugelschreiber eine Moschee gemalt und dann durchgestrichen. Daneben, gekritzelt: „Paki Filth“, pakistanischer Dreck. In Großbritannien ist das eine so schwere Beleidigung, dass die meisten Zeitungen die Beschimpfung nur verpixelt zeigen. Vor allem aber ist auf den Bildern zu sehen, dass weißes Pulver aus dem Brief rieselte.

Zuerst, erzählt Ullah, warf der Imam den Brief in den Müll. Als er nach dem Abendgebet davon erfuhr, überredete der junge Journalist den Vorsteher, die Polizei zu rufen. Die Beamten nahmen den Vorfall ernst. Die Moschee wurde evakuiert. Die, die mit dem Brief in Kontakt gekommen waren, mussten im Gebäude bleiben. Verdacht auf Anthrax, Quarantäne. „Ich hatte das Gefühl, meine Atemwege schwellen zu“, erzählt Ullah und fasst sich mit zwei Fingern an die Nase. Nach 20 Minuten rückte das Kampfmittelkommando in Gasmasken und Schutzanzügen an. Dann die Entwarnung, das Pulver war Kreide, die Symptome nur Angst.

Von den Polizisten erfuhr Ullah, dass ähnliche Briefe an diesem Tag an mehrere Moscheen geschickt wurden. Auch ein muslimisches Mitglied des Oberhauses hatte das Pulver erhalten. Dass die Moschee nach dem Referendum Hassbriefe bekommt, überrascht Ullah nicht. Rassismus gehöre seit Jahren zur britischen Gesellschaft. Das Referendum aber habe den „Rassisten eine Lizenz zum Rassistischsein gegeben“.

Dabei werden die meisten dieser Taten nicht in der Hauptstadt registriert. Anders als auf dem Land hat hier die Mehrheit auch gegen den Brexit gestimmt. Nur im ärmeren Osten Londons entschieden sich die meisten Wähler gegen die EU. Einer dieser Bezirke ist Barking-Dagenham.

„Ich verstehe nicht, was hier passiert. Ich habe so viel Angst“

Der Bahnhof von Barking ist ein speckiger Betonkasten inmitten einer langen Reihe gedrungener Häuser. Die Konferenzräume im Bürogebäude nebenan kosten 40 Pfund pro Woche. Im Stadtzentrum zahlt man an manchen Orten das Gleiche pro Stunde. In der Fußgängerzone gibt es vier Wettbüros und zwei Ein-Pfund-Shops, die Fenster des Pubs am Ende der Straße sind mit Brettern vernagelt. Am Haus gegenüber dem Bahnhof steht in großen Buchstaben „Barking Quality Halal Meat“. Im Schaufenster liegen Fleischstücke, vier Männer in weißen Kitteln stehen hinter der Theke.

Einer von ihnen ist Karim Abdul. Der 27-Jährige mit dem sauber gestutzten Vollbart und der Julius-Cäsar-Frisur arbeitet seit sechs Jahren in der Metzgerei. Rassistische Bemerkungen, erzählt er, habe es immer gegeben, meist abends. Pöbeleien von Betrunkenen - man wisse ja, wie das sei. Seit dem Referendum aber hätten die Vorfälle zugenommen. Er wisse von einer Halal-Metzgerei in den Westmidlands, die ausgebrannt sei, nachdem jemand eine Benzinbombe in den Laden geworfen habe. Hinter Abdul sind auf einem Fernseher die Bilder von zehn Sicherheitskameras zu sehen. „Seit dem Referendum fühle ich mich unwohl.“

Wie sehr diese Entwicklung das Land verunsichert, versteht, wer sich ein Video der „James OBrien Show“ des britischen Senders LBC ansieht. Zwei Tage nach dem Referendum rief während der Liveshow eine alte Frau den Moderator an. Sie sei 1973 aus Deutschland nach Großbritannien gekommen, 40 Jahre habe sie hier gelebt, mit ihrem verstorbenen Mann, einem britischen Hausarzt. Auch für sie war Großbritannien lange Heimat geworden. Doch jetzt, nach dem Referendum, sagt sie, hätten ihr die Nachbarn erklärt, sie würden nicht mit Fremden in einer Straße wohnen wollen. „Ich verstehe nicht, was hier passiert. Ich habe so viel Angst“, schluchzt die Frau. Und OBrien, der sonst nie um eine Antwort verlegen ist, sitzt mit offenem Mund hinter seinem Mikrofon. Er reibt seine Hände, fährt sich durch den Bart, starrt auf die Tischplatte. Dann versichert er der Frau, dass alles gut werde. Die Rassisten, sagt er, sind nur sehr wenige. Sie sei nicht allein. Die große Mehrheit der Briten stehe auf ihrer Seite.

Sie sind sicher: Die meisten Briten verurteilen Rassismus

Auch Rose Simkins von „Stop Hate UK“glaubt daran, dass die meisten Briten den Rassismus verurteilen. Seit dem Referendum sei ja nicht nur die Zahl der gemeldeten Übergriffe nach oben gegangen. „Sondern wir bekommen momentan mehr Spenden und Anrufe von Leuten, die helfen wollen, als je zuvor.“ Und das sei ja ein gutes Zeichen.

Nach dem Angriff auf das polnische Zentrum in Hammersmith kam dann sogar Jeremy Corbyn, der Chef der Labour-Partei, vorbei. Bis zur Rezeption stapelten sich Karten und Blumen, die Nachbarn und Schulen brachten. Zwei Wochen später stehen noch immer Rosen auf der Theke. Darunter hängt ein Poster. Eine Schulklasse hat es gemalt. „You are not alone“ steht da. Das O ist ein Peace-Zeichen.

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