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Denise Linke im Kreuzberger Redaktionsbüro von „Nummer“.

© Thilo Rückeis

"Nummer" - ein Magazin von und für Autisten: Der Sinn fürs Besondere

Für Denise Linke war die Diagnose Autismus eine Erleichterung. Erschreckend fand sie etwas ganz anderes: wie viele den Begriff als Schimpfwort nutzen. Heute gibt sie Menschen eine Stimme, denen man bislang nicht zutraute, eine zu haben. Mit einem Magazin. Von Autisten für Autisten – und alle anderen.

Fragt man Denise Linke, wie ihre Woche so war, dann zückt sie ihr Handy und rechnet los. Gestern habe sie, Moment, in 25 Minuten 103 Kartons 44 Stufen hoch getragen. Eine Freundin half, die schleppte pro Gang fünf Kartons, sie selbst schaffte immer nur vier, „ein Karton wiegt 7,8 Kilo, vier Kartons wiegen also 31 Kilo und ich selbst nur 45 Kilo“. Und heute gehe es weiter, da müsse sie 493 Etiketten kleben.

Dass Denise Linke gut mit Zahlen umgehen kann, entspricht ganz dem Klischee. Schließlich ist sie Autistin. Doch warum sie mit all diesen Zahlen hantiert, passt so gar nicht ins gängige Bild. Linke, 25, will nicht still und zurückgezogen leben, sie hat etwas zu sagen und deshalb gibt sie eine Zeitschrift heraus. In den 103 Kartons, Gesamtgewicht 803 Kilogramm, sind 2500 Exemplare der ersten Ausgabe. „Nummer“ heißt sie und ist eine Revolution in DIN-A4-Format. Weil sie Menschen eine Stimme gibt, denen man bislang nicht zutraute, eine zu haben.

Die Idee kam Linke, als sie morgens in Berlin-Charlottenburg unter der Dusche stand. Sie wollte gleich los in die Uni, zu einem Seminar im Studiengang Zeitgeschichte an der Uni Potsdam, und während das Wasser auf sie niederprasselte, dachte sie an die Bahnfahrt dorthin.

Einmalig in Deutschland und der Welt

Bei vielen Autisten ist ein Sinnesorgan besonders empfindlich, in Linkes Fall ist es das Gehör, vor allem Menschen beim Essen kann sie kaum ertragen. In Restaurants geht sie deshalb nur, wenn es sich nicht vermeiden lässt. Doch auch morgens in der Bahn kauen Menschen geräuschvoll ihr Brot, beißen krachend in Äpfel, und Linke dachte, wie gern sie für den Weg eine Zeitschrift hätte. Eine, in die sie sich versenken, mit der sie sich abschirmen könnte gegen das Schmatzen der Menschen, das Stampfen der Bahn, und mit einem Mal war sie da, die Idee. Ein Magazin müsste man erfinden, von Autisten für Autisten, einmalig in Deutschland und der Welt.

Die erste „Nummer“-Ausgabe überhaupt wird eine Sabine aus Kleve erhalten. Denise Linke klebt den Adressaufkleber auf einen braunen Umschlag. Um ihn zu verschließen, muss sie ihn anlecken. Sie verzieht das Gesicht. „Ich hätte selbstklebende besorgen sollen.“ Sie probiert es noch ein paar Mal, dann holt sie Klebestreifen.

Die nächsten Stunden an diesem Dezembertag wird Linke auf dem Boden ihres Wohnzimmers sitzen und wird eintüten, schneiden und kleben. Liest zwischendurch immer wieder die Namen der Menschen vor, die haben wollen, was sie da erschaffen hat, freut sich über Bestellungen aus Irland und China, streichelt ihren Kater Elvis. Erst als es draußen schon dunkel ist, wird der Magazinstapel vor dem Fenster so weit abgetragen sein, dass man es wieder öffnen kann.

Augenkontakt zu halten hat sie trainiert

Unfähigkeit zu sozialer Interaktion. Stereotype Verhaltensweisen. Fehlendes Interesse an der Umgebung. Immer wieder werden diese Eigenschaften als autistische Merkmale genannt. Denise Linke, platinblonde Haare, mit Pailletten besetzte Jacke, schaut ihrem Gegenüber beim Sprechen in die Augen, erzählt von ihrer Reise nach New York, war gerade noch um die Ecke beim Friseur. Ja, geht das denn? Reisen, Gespräche, Berührungen?

Augenkontakt zu halten hat Denise Linke gelernt, nachdem Menschen ihr immer wieder unterstellt haben, dass sie lüge – und das nur, weil sie wie die meisten Autisten lieber auf den Boden schaut als anderen ins Gesicht. Den Friseur, bei dem sie war, kennt sie so gut, dass sie ihn als Freund bezeichnet. Und in New York ist sie vor allem nachts unterwegs gewesen, wenn die Stadt ein wenig zur Ruhe gekommen war.

Der Eindruck, dass Denise Linke so lebt wie alle anderen, stimmt also nur auf den ersten Blick. Was Nicht-Autisten mühelos tun, kostet Linke Anstrengung. Allerdings würden viele Autisten eine Reise nach New York gar nicht erst antreten. Und genau das – die Tatsache, dass die Bezeichnung einerseits ein breites Spektrum umfasst und sich andererseits viele Betroffene scheinbar normales Verhalten antrainiert haben – stiftet Verwirrung.

"Nummer" heißt ihr Magazin. In Anspielung auf ein Klischee

Was ist Autismus denn nun? Eine Krankheit? Eine Behinderung? Ein Bündel an Eigenschaften? Oder, wie es im ICD-10, dem internationalen medizinischen Klassifikationssystem heißt, eine tiefgreifende Entwicklungsstörung?

Auch über die Auslöser wird seit Jahrzehnten diskutiert, mal waren gefühlskalte Mütter schuld, mal Luftverschmutzung, mal Impfungen. Heute gehen seriöse Forscher davon aus, dass ein Gendefekt verantwortlich ist. Aber selbst die Diagnosestellung ist kompliziert. Für Autismus gibt es keinen Bluttest und keine Checkliste. Und so wusste Denise Linke zum Beispiel lange gar nicht, dass sie Autistin ist. Bis sie eines Tages, sie war 21 Jahre alt, wieder mal das tat, was ihre Freunde so gerne machten: Zusammen in einem überfüllten Zimmer sitzen und laut palavern. Als dann noch ein Krankenwagen vorbeifuhr, hielt Linke sich unwillkürlich die Ohren zu. „Wann hast du deine Diagnose eigentlich bekommen?“, fragte ein Bekannter. Denise Linke schaute ihn verständnislos an. Als sie auf sein Anraten schließlich zu einer Ärztin ging, nahm sie ein ausgedrucktes Worddokument mit. „99 Dinge, die mir an mir selbst aufgefallen sind“. Einsortiert in verschiedene Kategorien. Genau das, fast zwanghaftes Auflisten und Ordnen, verbunden mit der Angst, im direkten Gespräch etwas zu vergessen, ist ziemlich typisch. Das Gespräch mit der Ärztin dauerte dann noch mehrere Stunden, das Ergebnis: Asperger, eine milde Form des Autismus. Außerdem hat Linke ADHS, eine Paarung, die oft auftritt.

"So ein Quatsch, du bist doch kein Rain Man"

Manche in Linkes Umgebung reagierten ungläubig. „So ein Quatsch, du bist doch kein Rain Man.“ Aber der Savant mit einer einzigartigen Begabung, wie er im gleichnamigen Film von Dustin Hoffman verkörpert wird, ist eben nur eine Facette von Autismus, und eine seltene dazu. Für Linke selbst war die Diagnose eine große Erleichterung. „Mein Leben lang habe ich mich gefragt, was mit mir nicht stimmt.“ Nun endlich hatte sie die Antwort. Erschreckend fand sie etwas ganz anderes. Nämlich wie viele Menschen den Begriff, der ihr Wesen erklärte, als eine Art Schimpfwort benutzen.

Eine kleine Presseschau: In einem Leitartikel der „Zeit“ war neulich von sozialem Autismus die Rede, gemeint war fehlender Gemeinschaftssinn. Die „FAZ“ prangerte den politischen Autismus der europäischen Regierung an – sie ignoriere die Bedürfnisse der Menschen. Und ereignet sich irgendwo ein Amoklauf, wird immer wieder darüber spekuliert, ob der Täter vielleicht Autist ist.

Doch es sind nicht mal nur die Medien, die den Begriff derart negativ besetzen. 2009 strahlte „Autism Speaks“, die weltgrößte Organisation zu dem Thema, ein Video aus, in dem in schneller Folge verschreckte Kinder gezeigt wurden und eine verzerrte Stimme dazu düstere Prophezeiungen ausstieß: „Ich bin der Autismus. Ich weiß, wo du wohnst. Ich werde deine Ehe zerstören. Ich werde dir dein Geld nehmen. Du wirst jeden Morgen aufwachen und um deine Kinder weinen.“

Autismus als Synonym für alles Schlechte

Bestimmt meinen es Suzanne und Bob Wright, Gründer von „Autism Speaks“ und Großeltern eines Autisten, gut und wollen mit solch einer PR-Kampagne zeigen, wie überfordert sich die Angehörigen von Autisten oft fühlen. Doch blenden sie dabei aus, dass es unter den weltweit 67 Millionen Autisten nicht nur diejenigen gibt, die in sich verkapselt vor und zurück schaukeln, sondern auch etliche, die trotz aller Schwierigkeiten ihren Weg gehen und es als beleidigend empfinden, wenn suggeriert wird, das in ihnen ein kleiner Teufel nistet. Und all jene – die sogenannten hochfunktionalen Autisten – melden sich jetzt übers Internet zu Wort, geben durch Blogs Einblick in ihre Gefühlswelt und verbreiten es über sämtliche sozialen Kanäle, wenn Autismus wieder mal als Synonym für alles Schlechte herhalten muss. Als Stefan Niggemeier im vergangenen Jahr im Zusammenhang mit dem Kanzlerduell von Autismus sprach, gab es im Netz so viel Kritik, dass sich der Journalist entschuldigte.

Es scheint also, das Netz ist für Autisten das Medium geworden, mit dem sie sich die Deutungshoheit über ihren Zustand zurückholen. Für Denise Linke wurde es das Instrument, mit dem sie ihre Zeitschrift auf den Weg brachte. Mitte April stellte sie die Idee auf der Crowdfunding-Plattform „Startnext“ vor. Ein Magazin von Autisten für Autisten und ADHSler und andere Interessierte. Der Name: Nummer. Weil Autisten sich ja angeblich nur für Zahlen interessieren.

Die Autoren, alle Autisten und ADHSler, fand Linke über Twitter und Blogs

Innerhalb von drei Monaten sammelte Linke so 10 000 Euro, genug für eine Startauflage von 2500 Stück. Auch sonst spielte das Netz eine maßgebliche Rolle bei der Entstehung von „Nummer“. Weil Autisten mitunter sehr empfindlich auf taktile Reize reagieren, fragte Linke in sozialen Netzwerken, wie das Papier beschaffen sein solle. Nicht zu dünn und nicht zu rau, lautete die Antwort, eine Firma spendete dann das passende Papier. Graphosilk, 90 Gramm pro Quadratmeter.

Das geplante Cover fanden einige im Netz unangenehm, weil zu grell, also veränderte Linke die Farbgebung. Und auch die Autoren, alle selbst Autisten und ADHSler, entdeckte Linke über ihre Blogs und Twitterbeiträge. Zum Thema der ersten Ausgabe machte sie ein Gefühl, das man Autisten gemeinhin nicht zutraut. In allen Artikeln geht es um Facetten der Liebe. Um Onlinedating und die Chancen, die das Autisten bietet, die Frage, wann man in einer Partnerschaft die Diagnose thematisiert und die Beziehung zwischen Müttern und ihren autistischen Kindern.

Bei Ballspielen die Punkte zählen

Als Denise Linke zur Welt kam, war ihre Mutter erst 25, weitere Kinder bekam sie nicht. „Ein Glück“, sagt die Tochter, „mit einem Bruder oder einer Schwester zum Vergleich wäre bestimmt aufgefallen, dass mit mir was nicht stimmt.“ So froh sie über ihre Diagnose auch war: Dass ihr Verhalten nie pathologisiert wurde, dafür ist Linke dankbar. So ist sie eben, sagte die Mutter, wenn Denise sich nicht auf ihren Schoss setzte, nachdem sie sich weh getan hatte, sondern lieber unter den Tisch kroch. So ist sie eben, sagte sie auch, wenn Denise sich erst einmal auf der Toilette einschloss, sobald andere Kinder zum Spielen kamen. So ist sie eben, sagte sie auch dann noch, als Denise auf dem Spielplatz einmal ohne Unterlass schrie, und das nur weil ein anderer Vater ihr aufhelfen wollte, nachdem sie hingefallen war. Trotzdem gingen sie weiter auf den Spielplatz, trotzdem wurden weiter Kinder eingeladen. „Meine Mutter“, sagt Linke, „hat mich gefordert, aber nie zu etwas gezwungen.“

Eine ähnliche Strategie hatten auch die Lehrer an der integrativen Gesamtschule im schleswig-holsteinischen Elmshorn, an der Linke Abitur machte. Vom Sportunterricht, den sie hasste, wurde sie befreit, musste dafür aber bei Ballspielen die Punkte zählen. In Biologie durfte sie einen Vortrag zur europäischen Schlafkrankheit halten, weil die sie so interessierte, obwohl die Klasse eigentlich gerade das Thema Ökologie durchnahm.

Außergewöhnlicher Sinn für Details

Wie wäre es also, wenn sich nicht nur die Autisten der Welt anpassten, sondern auch die Welt ihnen? Autisten unterstellt man ja starres Verhalten, aber wie flexibel ist eigentlich ihre Umgebung? Ist es nicht auch ein Stereotyp, dass man seinem Gegenüber immer die Hand geben und ihm in die Augen schauen muss? Und ist es nicht auch eine Bereicherung, wenn einer dank Autismus diesen außergewöhnlichen Sinn für Details hat? Im Wald nicht nur Bäume, sondern etliche Grüntöne sieht? Und beim Kochen Reis nicht einfach in den Topf füllt, sondern erst einmal wie Perlen durch die Hände rieseln lässt?

Das sind Fragen, die Linke interessieren und die sie im Heft thematisieren will. Organisationen wie „Autism Speaks“ stecken ihr Geld in Pränataldiagnostik und Ursachenforschung, so als sei Autismus etwas, das man tilgen müsse. „Nummer“ soll eine Gegenstimme sein. „Wir waren viel zu lange viel zu leise“, schreibt Linke in ihrem Editorial.

Einen Tag nach dem großen Kleben hat Denise Linke die 493 Umschläge zur Post gebracht. Saß dann dort in der Filiale auf dem Boden und frankierte. Zahlte dafür insgesamt 750 Euro. Seitdem gab es 300 neue Bestellungen. Noch 1700 weitere, rechnet sie aus, dann wäre die zweite Auflage finanziert. Vier Artikel hat sie sicherheitshalber schon bestellt.

Das Magazin ist bestellbar unter: https://nummer-magazin.de. Dieser Text erschien auf der Dritten Seite.

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