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Die Kurden fühlen, dass sie es diesmal schaffen können. Nachdem es mehrere Anschläge auf Parteiräume gab, demonstrierten sie diese Woche in der Türkei.

© Reuters

Parlamentswahl in der Türkei: Wie Kurden Erdogan das Fürchten lehren

Früher galten sie in der Türkei als Bürgerschreck, jetzt treten die Kurden als linksliberale Kraft auf. Die „Demokratische Partei der Völker“ könnte als erste Kurdenpartei die Zehnprozenthürde knacken.

Nur wenige hundert Meter trennen das Viertel Tarlabasi vom noblen Teil Istanbuls, wie ihn jeder Besucher kennt. Und doch liegt Tarlabasi in einer ganz anderen Welt. Viele Häuser in dem Bezirk in der Nähe des zentralen Taksim-Platzes sind heruntergekommen, einige sind verlassen und zum Teil zu Ruinen zerfallen. Syrische Flüchtlingskinder bolzen auf der Straße mit einem Plastikball. Wenn es nach den Plänen der Stadtregierung geht, wird Tarlabasi bald abgerissen und als schickes Wohn- und Geschäftsviertel wieder aufgebaut. Tarlabasi stört die Mächtigen. Genau wie der Mann, der mit seiner Kurdenpartei HDP hier das Istanbuler Hauptquartier hat: Selahattin Demirtas.

Wenn die Türken am 7. Juni wählen, könnten er und seine „Demokratische Partei der Völker“ (HDP) es erstmals schaffen, als eigene kurdische Fraktion ins Parlament einzuziehen. Mindestens zehn Prozent der Stimmen brauchen Parteien in der Türkei. Die Hürde wurde nach dem Militärputsch von 1980 eigens eingeführt, um Kurdenparteien, die sich traditionell um die sechs Prozent bewegten, aus dem Parlament heraus zu halten. Etliche Vorgänger-Parteien der HDP wurden wegen ihrer Nähe zur Rebellengruppe PKK reihenweise verboten. Um die Parlamentshürde zu umgehen, schickten früher Kurdenparteien jahrelang ihre Politiker als nominell unabhängige Kandidaten mit Direktmandaten ins Parlament; erst nach dem Wahltag schlossen sich die Abgeordneten dann zu Kurdenfraktionen zusammen. HDP-Chef Demirtas könnte nun den ersehnten Erfolg bringen. Weil er nicht nur Kurden anspricht, sondern viele Erdogan-Gegner im Land.

Eine Generation jünger als Erdogan

Demirtas, telegen, wortgewandt, wurde in Elazig geboren. Das liegt in Ostanatolien, wo der Konflikt zwischen der kurdischen PKK und der türkischen Armee die Region in den 90er Jahren zum Kampfgebiet machte. Seine Familie verließ die Heimat. Demirtas wuchs in der inoffiziellen Kurdenhauptstadt Diyarbakir als eines von sieben Kindern einer armen Handwerkerfamilie auf. Sein Bruder Nurettin saß wegen PKK-Mitgliedschaft mehr als zehn Jahre im Gefängnis. Mit 18 Jahren entschied sich der heutige HDP-Chef in die Politik zu gehen: Damals erlebte er bei einer Trauerfeier für einen von den Sicherheitskräften ermordeten Kurdenpolitiker, wie die Polizei das Feuer auf die Menge eröffnete und viele Trauergäste erschoss. „Das hat einen anderen Menschen aus mir gemacht“, sagte Demirtas. Er studierte Jura und stieg in der Kurdenbewegung auf.

Selahattin Demirtas ist Chef der kurdischen Partei HDP - und Hoffnungsträger vieler Wähler, die gegen Präsident Erdogan sind.
Selahattin Demirtas ist Chef der kurdischen Partei HDP - und Hoffnungsträger vieler Wähler, die gegen Präsident Erdogan sind.

© AFP

Mit seinen 42 Jahren ist Demirtas eine ganze Generation jünger als der 61-jährige Recep Tayyip Erdogan, und das zeigt er auch. Während sich Erdogan und seine Ehefrau Emine nach Meinung von Kritikern aufführen wie ein Sultanspaar, geht Demirtas mit seiner Frau Basak und seinen Töchtern Delal und Dilda auf Fahrradtour.

Demirtas’ Wahlkampfreden sind spontaner und witziger als die mancher Konkurrenten. „Seine ganze Rhetorik ist anders, jünger, moderner“, sagt der Istanbuler Politologe Behlül Özkan, der Demirtas für ein politisches Ausnahmetalent hält. „Ich habe Bekannte, die bisher immer die Rechtsnationalisten gewählt haben und sich überlegen, ob sie diesmal für die HDP stimmen sollen“, sagt Özkan. Mit Charme und Charisma liefere Demirtas den Wechselwählern einen überzeugenden Grund, der HDP eine Chance zu geben: Mit der HDP könnten die Wähler „Erdogan loswerden“.

Präsident Erdogan kennt die Gefahr und hat sich deshalb trotz der verfassungsmäßigen Verpflichtung zur parteipolitischen Neutralität als Staatspräsident in den Wahlkampf gestürzt. In seinen Reden nimmt er sich vor allem Demirtas vor. Während Erdogan den Geheimdienst mit dem inhaftierten PKK-Chef Abdullah Öcalan über eine Friedenslösung für den Kurdenkonflikt verhandeln lässt, erklärt er den HDP-Chef kurzerhand zum Feind des Friedensprozesses.

Der Präsident warnt vor dem "gottlosen Kurden"

Mit dem Koran in der Hand warnt Erdogan zudem die konservativen kurdischen Wähler davor, dem gottlosen HDP-Chef ihre Stimme zu geben. Regierungsnahe Zeitungen sekundieren: Bei einem Wahlkampfaufenthalt in Deutschland habe Demirtas im vergangenen Jahr Schweinespeck gegessen, berichten sie in großer Aufmachung. Ministerpräsident Ahmet Davutoglu verkündete, er werde den Vornamen des HDP-Chefs nicht mehr in den Mund nehmen, weil Demirtas einen Helden der Muslime entehre. Selahattin ist die türkische Version des Namens Saladin – das war der Sultan, der im Jahr 1187 die christlichen Kreuzfahrer aus Jerusalem vertrieb.

„Der Staat tut alles, um uns unter zehn Prozent zu drücken“, sagt Cafer Selcuk. Er ist Mitglied im Istanbuler HDP-Vorstand und sitzt in einem Besprechungszimmer mit roten Plastiksesseln und kleiner Teeküche in Tarlabasi, der HDP Zentrale. Im Hintergrund läuft ein Fernsehprogramm, übertragen wird eine der vielen Parteiveranstaltungen in Anatolien. Selcuk ist Ende 50 und hat schon viele Wahlkämpfe mitgemacht, doch noch nie hat er so viel Zuspruch für seine Partei erfahren. Noch nie war das Ziel, Erdogan politisch ernsthaft gefährlich zu werden, so nah. Demirtas, glaubt er, könne es schaffen.

Der türkische Präsident Recep Tayyeb Erdogan geht selbst Funktionären der regierenden AKP zu weit. Er will die Verfassung ändern und sich mehr Machtbefugnisse sichern.
Der türkische Präsident Recep Tayyeb Erdogan geht selbst Funktionären der regierenden AKP zu weit. Er will die Verfassung ändern und sich mehr Machtbefugnisse sichern.

© dpa

Seit 2002 hat Erdogans AKP jede Wahl mit großem Abstand gewonnen. Wenn die HDP die Zehnprozent-Hürde knackt, zieht sie mit mindestens 60 Abgeordneten ins Parlament ein – dann kann Erdogan seinen Plan vergessen, mit einer verfassungsändernden Mehrheit ein Präsidialsystem durchzusetzen. Dem Staatschef würde das weitreichende Befugnisse zugestehen. HDP-Mann Selcuk sagt: „Wenn Erdogan bekommt, was er will, wird außer ihm niemand mehr etwas zu sagen haben.“ Selbst Funktionären der AKP wird das inzwischen zu viel.

In den Umfragen liegt die HDP mal knapp unter, mal knapp über zehn Prozent. Aber mit steigender Tendenz. Das gibt Leuten wie Selcuk Auftrieb und macht die Regierungspartei AKP und den Präsidenten Recep Tayyip Erdogan nervös. „Viele sind gegen die AKP, weil Erdogan eine Ein-Mann-Show abzieht“, sagt ein kurdischer Wahlkampfmitarbeiter. „Diese Leute kommen zu uns.“

Scheitert Demirtas, will er zurücktreten

Bei der Präsidentenwahl im vergangenen Jahr kandidierte Demirtas gegen Erdogan und erzielte mit 9,8 Prozent einen unerwarteten Achtungserfolg. Dieses Ergebnis gab der HDP den Mut, diesmal nicht mit Einzelkandidaten bei der Wahl anzutreten, sondern als Partei ins Rennen zu gehen. Es geht um alles oder nichts – mit 9,9 Prozent hätte die HDP keinen einzigen Abgeordneten mehr im Parlament. Demirtas setzt alles auf eine Karte. Wenn die HDP den Sprung ins Parlament verfehlt, will er zurücktreten.

Derzeit hat er gute Chancen, auch nach der Wahl noch HDP-Chef zu sein, trotz der Stärke der AKP auch im Kurdengebiet. Bei seinen Auftritten wendet sich Demirtas nicht nur an kurdische Wähler, sondern an alle, denen Erdogans Ansprüche unheimlich werden. Nicht-kurdische Intellektuelle, Akademiker und Geschäftsleute tendieren inzwischen zur HDP, die unter Demirtas ihr Image als Bürgerschreck ablegt und als linksliberale Kraft auftritt. Er werde aus dem Löwen Erdogan ein sanftes Kätzchen machen, sagt Demirtas.

Wenn das klappen soll, ist Istanbul mit seinen 15 Millionen Einwohnern entscheidend für die HDP. Es ist die Heimat der Gezi-Bewegung von 2013 und vieler Erdogan-Gegner, die für die Botschaft der HDP offen sind. Mehrere hundert Intellektuelle und Künstler haben in einem Appell zur Stimmabgabe für die HDP aufgerufen – Sympathie für die Kurdenpartei sei derzeit wohl die große Mode, kommentierte die Zeitung „Cumhuriyet“.

Zwei Bomben gingen in Büros der HDP in den südtürkischen Städten Adana und Mersin hoch.
Zwei Bomben gingen in Büros der HDP in den südtürkischen Städten Adana und Mersin hoch.

© dpa

In Tarlabasi, jenem Bezirk, den die Regierung schon abgeschrieben hatte und aus dem heraus nun die vielleicht größte politische Herausforderung für das System-Erdogan organisiert wird, läuft der Wahlkampf weiter. Vor dem Gebäude der Parteizentrale flattern bunte Parteiwimpel im Wind. Im Eingang stapeln sich Fahnen und Plakate mit dem Bild von HDP-Chef Selahattin Demirtas in Kartons. Per Bus werden Wahlkampfhelfer von einer Veranstaltung herangekarrt und fahren nach einer kurzen Pause zur nächsten Kundgebung weiter.

Bomben gingen in Parteibüros hoch

Und das, obwohl erst Anfang der Woche zwei Bomben in Parteibüros in den südtürkischen Städten Adana und Mersin hochgingen. Vor ein paar Tagen sollen auch ein paar HDP-Leute in einem Istanbuler Außenbezirk zusammengeschlagen worden sein. Wer hinter den Taten steckt, kann Selcuk nur mutmaßen. Ohnehin lässt er sich von den Anschlägen ebenso wenig beeindrucken wie HDP-Chef Demirtas. Für sie geht es bei der Wahl nicht nur um den Parlamentseinzug einer Partei und um Erdogans Präsidialpläne. Es geht auch um das Selbstbewusstsein der zwölf Millionen Kurden im Land. „Wenn wir ins Parlament kommen, dann wird niemand mehr die Existenz dieses Volkes anzweifeln“, sagt Selcuk. „Es wird ein neues Machtgefüge geben.“

Der Text erschien auf der Dritten Seite im gedruckten Tagesspiegel

Mehr Texte von unserem Türkei-Korrespondenten Thomas Seibert finden Sie hier

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