zum Hauptinhalt
Boris Nemzow, Regimekritiker, wurde am Freitagabend in Moskau erschossen.

© dpa

Putin-Kritiker in Moskau erschossen: Gab der Kreml den Mord an Boris Nemzow in Auftrag?

Vier Schüsse treffen ihn in den Rücken. Der Regimekritiker Boris Nemzow ist sofort tot. Angeheuerte Killer sind die Täter, sagen die Ermittler. Aber wer hat den Befehl gegeben? Viele in Russland und fast alle in der Ukraine sind sicher: der Kreml.

Es ist die Zeit der großen russischen Oppositionsdemonstrationen. Am 6. Mai 2012, auf der letzten Kundgebung jenes Protestwinters, sieht man Boris Nemzow durch die Reihen der Demonstranten laufen, braun gebrannt wie immer, in Jeans, einer weißen Jacke und einem T-Shirt. Es ist ein warmer Nachmittag, und politisch ist es der heißeste Tag seit Jahren: Auf dem Protestzug zum Bolotnaja-Platz unweit des Kremls ist es gerade zu schweren Auseinandersetzungen mit der Polizei gekommen, die daraufhin die Abschlusskundgebung kurzerhand abgesagt hat. Vor der Bühne stehen trotzdem einige hundert Menschen und können doch nur zuschauen, wie die Polizei mit den schwarzen Helmen einen Oppositionsführer nach dem anderen von der Bühne zerren und in Polizeiautos verfrachten.

Flink klettert Nemzow auf ein Metallpodest, das eigentlich für die Kameras gedacht war, und ruft mit rauer Stimme in ein weißes Megafon: „Sie haben unsere Genossen verhaftet, Nawalny und die anderen, sie haben sich in die Hosen geschissen und uns verboten, eine Demonstration abzuhalten. Aber wir sind keine Sklaven!“ Dann sieht er unter sich die Helme der russischen OMON-Polizisten, schreit noch „Russland wird frei sein“, dann entreißen die Polizisten ihm das Megafon und zwingen ihn, das Podest zu verlassen. Nemzow streckt noch einmal die Hand zum Victory-Zeichen aus, die Kameras klicken, Boris Nemzow liebt die Pose. Dann wird er festgenommen, wieder einmal.

Ermittler gehen derzeit von drei Versionen aus

Wenige hundert Meter von dieser Stelle, mitten im Zentrum von Moskau, wird Nemzow am Abend des 27. Februar 2015 um 23.40 Uhr Ortszeit erschossen. Der oder die Täter hätten aus einem Auto heraus sieben oder acht Schüsse auf Nemzow abgefeuert, sagte die Sprecherin des russischen Innenministeriums, Jelena Alexejewa. Vier Kugeln sollen Nemzow in den Rücken getroffen haben. Anschließend flüchtete der Schütze in einem weißen Auto. Am Tatort gibt es Videokameras, die möglicherweise Hinweise auf die Täter geben könnten, hieß es.

Wenige Minuten zuvor soll Nemzow mit einer Bekannten über den Roten Platz spaziert sein. Die Frau, Medien zufolge eine 23 Jahre alte Ukrainerin, sei nicht getroffen worden. Nemzow galt als glühender Unterstützer der proeuropäischen Führung in Kiew. Im Oktober wäre er 56 Jahre alt geworden.

Niemand zweifelt in Russland daran, dass es ein Mord mit politischem Hintergrund war. Aber noch tappen die Ermittler im Dunkeln. Sie gehen derzeit von drei Versionen aus: Nemzows neoliberale oppositionelle Partei „Bund der rechten Kräfte“ hatte vor zwei Jahren bei den Wahlen zum Regionalparlament im zentralrussischen Jaroslawl ihr erstes und bisher einziges Mandat gewonnen und dieses Nemzow – einem der Vizevorsitzenden der Partei – übertragen. Der hatte sofort damit begonnen, die Kremlpartei „Einiges Russland“ frontal anzugreifen, insbesondere Präsident Putin wegen dessen Ukraine-Politik. Als weitere mögliche Tatmotive nannten die Fahnder geschäftliche Aktivitäten Nemzows und persönliche Aversionen gegen ihn.

Wer war Boris Nemzow?

Konkrete Hinweise zu den Tätern fehlen bisher. Kennzeichen und Typ des weißen Wagens, aus dem die Todesschüsse kamen, sind bisher ebenfalls nicht identifiziert. Indizien, so ein Sprecher der Ermittlungsbehörde bei der Generalstaatsanwaltschaft, würden Auftragsmord vermuten lassen. Killer und Hintermänner seien offenbar bestens über den Terminkalender ihres Opfers informiert gewesen. Wichtigste Zeugin sei jene Bekannte, mit der Nemzow bei dem tödlichen Nachtspaziergang unterwegs war. Zu ihren Aussagen wollte sich der Behördensprecher im Interesse der Ermittlungen nicht äußern.

Im Jahr 2000 schüttelte ihm Putin noch die Hand.
Im Jahr 2000 schüttelte ihm Putin noch die Hand.

© dpa

Boris Nemzow gehörte zu jener Politikerkaste, die in jungen Jahren selbst Teil des Machtapparats war. Er war in der Jelzin-Ära der jüngste Bürgermeister Russlands, dann der jüngst Gouverneur einer Region und wurde 1997 mit ganzen 37 Jahren auch jüngster Vizepremier. Er unterstützte öffentlich die Ernennung Putins zum Premierminister sowie später seine Kandidatur für das Präsidentenamt. „Ich bin der Meinung“, sagte er damals, „dass Russland einen neuen Präsidenten wählen sollte, der physisch stark ist und bereit, Verantwortung zu übernehmen. Ich bin überzeugt, dass der nächste Präsident Wladimir Putin sein sollte.“

Doch dann kam der Moment, da sich Nemzow von Putin lossagte. Alsbald wurde er vom System Putin marginalisiert: In die politischen Talkshows wurde er seit 2005 nicht mehr eingeladen, für einen politischen Posten kam er wegen seiner kompromisslosen Haltung gegenüber Putin nicht mehr infrage, anders als etwa sein Parteigenosse Nikita Belych, der 2009 den Gouverneursposten im Gebiet Kirow erhielt. Nemzows „Bund der rechten Kräfte“ wurde in den Bankrott getrieben, weil es kaum noch reiche Geschäftsleute gab, die unter Putin eine offen oppositionelle Partei unterstützen wollten. Allerdings gab es gegen ihn, anders als in den Fällen Alexej Nawalny oder Michail Chodorkowski, nie ein Gerichtsverfahren, nie den Versuch, ihn für längere Zeit ins Gefängnis zu verbannen.

Der Grund: Nemzow war, auch wenn er für sich selbst eine führende Rolle beanspruchte, kein echter Führer mit Perspektive, er trug das Brandmal eines ewigen Oppositionellen, ähnlich wie der Schachweltmeister Garri Kasparow.

Drei Stunden vor dem Mord gab er ein Interview. Es ist sein Vermächtnis

Besonders heftig waren die Reaktionen auf den Mord in der Ukraine. In Kiew gingen am Samstag viele Menschen auf den Maidan, den zentralen Platz in der Innenstadt, um dort Blumen niederzulegen und Kerzen anzuzünden. Einige kamen mit Plakaten. Ein Ehepaar hielt ein Plakat mit dem Slogan „Putin hat unseren Freund getötet“ in die Höhe.

Auch Oleg ist am frühen Samstagnachmittag in die Kiewer Innenstadt gefahren. Er hat Tulpen, zwei Kerzen und eine Botschaft dabei. Auf seinem Plakat ist zu lesen: „Boris ist tot, und Nadia liegt im Sterben“, damit spielt er auf die in Russland inhaftierte ukrainische Kampfpilotin an, die sich seit Mitte Dezember 2014 im Hungerstreik befindet und nach Meinung ihrer Ärzte bald nicht mehr am Leben sein wird.

Schon wenige Minuten nach Bekanntwerden der Todesnachricht brach der bekannte TV-Talker Savik Schuster seine Sendung ab. Den Tränen nahe sagte er: „Ich habe einen meiner engsten Freunde verloren, Boris und ich kannten uns seit mehr als 20 Jahren. Boris war ein guter Mann, ein ehrlicher Mann und ein gerechter Mann, deshalb musste er sterben. Ich habe keine Angst, das so offen zu sagen: Für mich steht fest, er wurde für seine politische Arbeit ermordet.“

Für die politische Führung der Ukraine steht ebenfalls außer Zweifel, dass der Kreml hinter dem Attentat auf Boris Nemzow steht. „Das ist ein Schock. Ich kann es nicht glauben, es hat Boris erwischt. Er war eine Brücke zwischen Russland und der Ukraine. Ein Schuss, und all das wurde zerstört. Ich glaube nicht an Zufall, aber ich bin sicher, dass sein Mörder gefunden wird – früher oder später“, schreibt Präsident Petro Poroschenko auf Facebook.

Als Vizepremier ging Nemzow bei den Mächtigen ein und aus, etwa bei Schwedens Prinzessin Victoria oder bei Helmut Kohl.
Als Vizepremier ging Nemzow bei den Mächtigen ein und aus, etwa bei Schwedens Prinzessin Victoria oder bei Helmut Kohl.

© dpa

Die Internetzeitung „Ukrainska Prawda“ schreibt, Poroschenko habe vor ein paar Wochen ein Gespräch mit Nemzow geführt, in dem es darum gegangen sei, dass der russische Oppositionelle „starke Beweise für die Beteiligung russischer Streitkräfte in der Ukraine bekannt machen wollte“. Poroschenko wird mit den Worten zitiert: „Es gab da jemanden, der große Angst davor hatte, dass das alles bekannt wird.“ Die frühere ukrainische Ministerpräsidentin Julia Timoschenko sieht das Attentat auf Boris Nemzow als einen Ausdruck dafür, dass der Kreml kurz davor ist, die Nerven zu verlieren.

Für den Sonntag sind sowohl in Kiew als auch in Moskau Demonstrationen angesagt. Der Marsch durch die russische Hauptstadt dürfe stattfinden, sagte ein städtischer Sprecher am Samstag. Die Route führt auch über die Bolschoi-Moskworezki-Brücke, den Ort, wo die Todesschüsse fielen.

Nur drei Stunden vor dem Attentat hatte Nemzow dem Kreml-Chef im Radiosender „Moskauer Echo“ erneut eine „unsinnige Aggression gegen die Ukraine“ vorgeworfen, die die russische Wirtschaft in die Krise gestürzt habe. Das Interview wurde zu seinem politischen Vermächtnis.

Zur Startseite