zum Hauptinhalt
Tempelberg und Klagemauer in Jerusalem.

© Israel Ministry of Tourism/dpa/gms

Streit um den Jerusalemer Tempelberg: Steine des Anstoßes

Juden dürfen den Tempelberg besuchen, dort aber nicht beten. So ist das seit 1967. Aktivisten wollen das nun ändern. Und seitdem flammt die Gewalt wieder auf. Der religiöse Konflikt ist auch ein politischer. Einige fürchten bereits eine neue Intifada.

Es sieht friedlich aus an einem der umstrittensten Orte der Welt. Hier auf dem Tempelberg in Jerusalem hat die Sonne auch spät im November noch Kraft. Die israelischen Polizisten mit Sonnenbrillen lehnen lässig an den Mauern. Muslimische Männer und Frauen sitzen im Schatten auf Plastikstühlen, manche in Schriften versunken, andere plaudernd.

Zugegeben, es sind wenig Touristen hier oben. Keine Schlange steht heute unten vor der Sicherheitskontrolle. Das ist in ruhigeren Zeiten anders; und doch – für einige Minuten lässt sich vergessen, wie erbittert Juden und Muslime um diesen Ort ringen. Ein kurzer Moment des Innehaltens, des Friedens – oder zumindest des Waffenstillstands.

Dann zerreißt ein schriller Frauenchor die Stille: „Allahu Akbar! Allahu Akbar!“ – kein Gebet, ein Kampfruf. Er gilt einer kleinen Gruppe von Männern, fünf oder sechs, die gerade das Areal betreten haben. Ihre Kippas und Schläfenlocken lassen sie sofort als religiöse Juden erkennen. Scheinbar unbeteiligt schlendern sie über den Platz. „Allahu Akbar!“ – auch die muslimischen Männer stimmen jetzt ein in die wütenden Rufe. Drei Polizisten folgen den jüdischen Besuchern in wenigen Metern Abstand. Das Innehalten, der Frieden, hat ein Ende.

Ein sensibler Status quo

Szenen wie diese sind zu einem täglichen Ritual geworden, beispielhaft für die Spannungen an dem Ort, bei dem sich die beiden Parteien nicht mal auf einen Namen einigen können: Tempelberg nennen ihn die Juden, denn sie glauben, dass hier der Erste und der Zweite jüdische Tempel standen und – eines Tages – der Dritte Tempel stehen wird. Haram al Scharif, „nobles Heiligtum“, wiederum nennen die Muslime die Al-Aqsa-Moschee und den Berg, auf dem sie steht – ihre drittwichtigste religiöse Stätte. Sie glauben, dass ihr Prophet Mohammed von hier aus seine Himmelsreise antrat.

Seit Israel das Gelände im Sechs-Tage-Krieg 1967 von Jordanien eroberte, gilt ein sensibler Status quo: Das gut zwanzig Fußballfelder große Areal unterliegt jordanisch-islamischer Verwaltung, die israelische Polizei ist für die Sicherheit zuständig. Juden und Touristen dürfen das Areal zu festgelegten Zeiten besuchen, aber nicht dort beten.

Eine kleine Gruppe israelischer Aktivisten will diese Regelung nun stürzen: Auch Juden sollen auf dem Tempelberg beten dürfen – allein die Forderung sorgt für Wut unter Muslimen. Seit Wochen erschüttern Anschläge die Stadt. Bei einem Angriff auf eine Synagoge am 18. November kamen fünf Israelis sowie die beiden palästinensischen Attentäter ums Leben. Manche israelische Medien sprechen schon von einer „Jerusalem-Intifada“. Die Angst ist nicht ganz unbegründet. Auch die Zweite Intifada im Herbst 2000 begann, nachdem der Politiker Ariel Scharon das Gelände besucht hatte.

"Der ganze Platz ist eine Moschee"

Die jüdischen Besucher stehen jetzt ganz am Rand des Areals, die „Allahu-Akbar“-Rufe sind abgeebbt. Eine der Frauen, die eben noch geschrien haben, heißt Nihad. Inmitten einer Gruppe von Frauen sitzt sie auf einem Plastikstuhl, hinter ihr wölbt sich das Golddach des Felsendoms. Sie ist ganz in schwarzen Stoff gehüllt, ihr Niqab lässt nur einen Schlitz für die Augen frei. Sie sagt, sie sei 50 Jahre alt und komme aus einem Dorf nahe Jerusalem.

„Dieser Ort hier ist heilig für uns“, sagt sie. „Nicht nur die Gebäude, der ganze Platz ist eine Moschee.“ Nihad sagt, sie arbeite als traditionelle Heilerin, und auch Juden kämen zu ihr. „Ich weiß, dass manche Juden gute Menschen sind. Sie dürfen nur nicht herkommen zum Beten – dann gibt es keine Probleme.“

Damit fasst sie recht gut die Haltung der islamischen Autoritäten zusammen, die nur ein paar Dutzend Meter von hier residieren: Gleich unterhalb eines der Tore, die zum Tempelberg führen, steht das Haus des Waqf, der islamischen Stiftung, die das Areal verwaltet.

In diesem Konflikt ist Religiöses selten nur religiös

Der Direktor des Waqf, Scheich Azam Abed Alkhatib Altamimi, empfängt in seinem Büro. Er trägt Anzug, Krawatte und einen schweren Silberring am Finger, an den holzgetäfelten Wänden hängen Bilder vom Felsendom und vom jordanischen König, dem der Jerusalemer Waqf formal untersteht. Der Direktor hat wenig Zeit: 15 Minuten.

Warum sollen Juden nicht auf dem Tempelberg beten dürfen?

„Der Haram al Scharif gehört zum islamischen Glauben, es ist ein Ort der Verehrung und des Gebets nur für Muslime. Wir haben nichts dagegen, wenn andere ihn besuchen. Aber wir wollen, dass sie unseren Glauben respektieren.“

Und was entgegnen Sie den Juden, die genauso argumentieren?

„Wir respektieren das Judentum, wir respektieren ihre heiligen Stätten. Wir wollen, dass Gläubige aller Religionen friedlich in Jerusalem leben. Aber warum jetzt dieser Aufruhr um die islamischen Heiligtümer? Diese Provokationen müssen aufhören; ich weiß nicht, was sonst passiert. Ich befürchte eine religiöse Krise.“

Nicht nur rechte Aktivisten

Tatsächlich sind es nicht nur rechte Aktivisten, die jüdisches Beten auf dem Tempelberg durchsetzen wollen, es gibt auch liberale jüdische Stimmen, die argumentieren, dies sei ein Gebot der Religionsfreiheit. Zumal die derzeitige Regelung gelegentlich zu absurden Verrenkungen führt: Manche Juden halten auf dem Tempelberg das Handy ans Ohr, um zu verbergen, dass sie in Wirklichkeit ein Gebet sprechen.

Das Problem ist: In diesem Konflikt ist Religiöses selten nur religiös. Einer der Tempelberg-Aktivisten musste das am eigenen Leib erfahren. Jehuda Glick, ein 49-jähriger Rabbiner, geboren in den USA, ist einer der lautesten Streiter für ein jüdisches Gebet auf dem Tempelberg. Am 29. Oktober hielt er in einem Konferenzzentrum in Jerusalem einen Vortrag darüber. Als er abends das Gebäude verließ, näherte sich ihm ein Palästinenser. Der Mann, so berichteten später israelische Medien, sagte: „Es tut mir leid, aber ich muss dich erschießen. Du bist ein Feind der Al-Aqsa-Moschee.“ Dann zog er eine Pistole und feuerte Glick viermal in die Brust.

Der Attentäter wurde von der Polizei erschossen, Glick überlebte schwer verletzt. Vor wenigen Tagen erst wurde er aus dem Krankenhaus entlassen, noch ist er zu schwach, um Interviews zu geben. Dafür spricht einer seiner engsten Mitstreiter: Yaacov Hayman.

"Eine extrem erhebende Erfahrung"

Hayman, sechzig Jahre alt, lehnt an einer Mauer am Fuß des Tempelbergs. Hinaufgehen kann er heute nicht mehr: Es ist 14 Uhr, die Besuchszeit für Juden ist vorbei. Er betont das gleich zu Beginn, der Punkt ist ihm wichtig, aber er erhebt nicht die Stimme dabei, wie er überhaupt selten die Stimme erhebt.

Wie sein Mitstreiter Glick stammt Hayman aus den USA. Vor zwanzig Jahren wanderte er nach Israel aus, Hebräisch spricht er noch immer mit stark amerikanischem Akzent. Er sei nicht religiös aufgewachsen, sagt er, seine Religiosität habe er als junger Mann entdeckt. Heute trägt er die typischen Insignien der orthodoxen Juden in Israel: einen langen Bart, Kippa, weiße Schaufäden.

16 Jahre ist es her, dass Hayman zum ersten Mal den Tempelberg bestieg. „Eine extrem erhebende Erfahrung: sich vorzustellen, dort zu stehen, wo einst der Tempel stand!“ Kurz darauf begann er, Gruppen von Juden auf den Berg zu führen.

Hayman sagt: „Ich bin in den 1960er Jahren in Kalifornien aufgewachsen. Damals sind schwarze Kinder auf schwarze Schulen gegangen und weiße Kinder auf weiße Schulen – das war der Status quo. Manchmal ist der Status quo nicht gut.“ Er nutzt die Vokabeln, die dem säkularen Westen heilig sind: Freiheit, Gleichberechtigung, Bürgerrechte. „Der Status quo auf dem Tempelberg diskriminiert Juden. Wir wollen die Bürgerrechte der Juden stärken. Jeder sollte dort beten dürfen.“

Vor einem Jahr beschloss er, das Gesetz zu brechen

Doch hinter diesem religiösen Bedürfnis steht ein politischer Anspruch, der, ließe er sich verwirklichen, die Vision einer Zwei-Staaten-Lösung endgültig zunichte machen würde. Denn für Hayman bekräftigt das jüdische Gebet auf dem Tempelberg jüdische Herrschaft über das Areal, über die ganze Stadt, ja über das ganze Land zwischen Jordan und Mittelmeer – einschließlich der Gebiete also, die in allen relevanten Friedensplänen der letzten Jahrzehnte für einen palästinensischen Staat vorgesehen sind. „Der Tempelberg ist das Herz unserer Nation“, sagt Hayman. „Die Muslime müssen sehen, dass wir ihn nicht aufgeben, damit sie begreifen: Es wird hier keinen palästinensischen Staat geben. Dieses Land hat Gott uns gegeben. Muslime können hier leben, wenn sie jüdische Souveränität akzeptieren – ansonsten sind sie eingeladen, in Frieden zu gehen.“

Worte, die im harten Widerspruch zur offiziellen Haltung der israelischen Regierung stehen. Israels Premierminister Benjamin Netanjahu betonte in den vergangenen Wochen immer wieder, er habe keinerlei Absicht, den Status quo auf dem Tempelberg zu ändern. Israels Polizeichef Jochanan Danino erklärte am Freitag, er wolle nationalistischen Parlamentariern den Besuch des Tempelbergs untersagen.

Nach traditioneller Lehre ist Juden das Betreten des Areals ohnehin verboten: Zu groß ist die Gefahr, dass sie versehentlich auf die Stelle treten könnten, an der einst das „Allerheiligste“ des Tempels stand, der Raum mit der Bundeslade, den selbst der Hohepriester nur einmal im Jahr betreten durfte.

Er vertritt eine Minderheit

Hayman weiß, dass er eine Minderheit der jüdisch-israelischen Gesellschaft vertritt, selbst unter gläubigen Juden. Er sagt, das störe ihn ebenso wenig wie die Tatsache, dass manche ihn einen Extremisten nennen. „Es war ja auch nur eine Minderheit von Juden, die vor 4000 Jahren beschloss, das ägyptische Exil zu verlassen“, sagt er, in Anspielung auf die biblische Geschichte des jüdischen Exodus. „Manchmal muss eine Minderheit die Arbeit machen, damit die Mehrheit am Ende folgt.“

Immerhin hat er ein paar prominente Unterstützer: Wohnungsbauminister Uri Ariel hat sich öffentlich der Forderung angeschlossen, Juden müssten auf dem Tempelberg beten – eine Rebellion gegen den eigenen Premierminister, wie sie nicht untypisch ist in der israelischen Politik. Vize-Parlamentssprecher Mosche Feiglin wiederum steigt selbst regelmäßig auf den Tempelberg. In israelischen Medien wurde er kürzlich mit den Worten zitiert: „Wenn Israel die Souveränität über den Tempelberg aufgibt, dann wird das die Aufgabe Jerusalems und des ganzen Landes nach sich ziehen.“

Zehn Monate wurde ihm der Zutritt verwehrt

Unten, vor dem Aufgang zum Tempelberg, unterbricht jetzt das Rufen der Muezzine die Worte Haymans. Fünfmal am Tag schallen ihre Gesänge durch den überwiegend arabischen Ostteil der Stadt, von Lautsprechern verstärkt rufen sie Muslime zum Gebet.

Vor einem Jahr, erzählt er, habe er beschlossen, das Gesetz zu brechen: Er sei auf den Tempelberg gestiegen und habe dort zu beten begonnen. „Ich wurde sofort von israelischen Polizisten verhaftet und habe einen Tag im Gefängnis verbracht.“ Danach wurde ihm zehn Monate lang der Zutritt zu dem Areal verwehrt. Die israelischen Autoritäten hätten ihn gebeten, schriftlich zu erklären, nicht mehr dort zu beten. Doch er habe sich geweigert. Wird er es wieder versuchen? Ja, sagt Hayman, irgendwann, wenn er fühle, dass es richtig sei. „Wir sind entschlossen, unser Recht durchzusetzen, auf dem Tempelberg zu beten – wenn nötig, mit Gewalt.“

Dieser Text erschien auf der Dritten Seite.

Mareike Enghusen

Zur Startseite