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„Ich bin fassungslos.“ Markus Nierth redet gegen die Sprachlosigkeit seiner Mitbürger an. Auch nach seinem Rücktritt als Bürgermeister.

© Hendrik Schmidt/dpa

Tröglitz nach dem Brand im Aslybewerberheim: Die leise Hoffnung

Nach dem Brand in einem Asylbewerberhaus gehen die Menschen in Tröglitz auf die Straße, wollen Haltung zeigen. Da ruft ein Störer: „Es wird noch viel schlimmer!“ Niemand widerspricht. Der ehemalige Bürgermeister Markus Nierth ahnt, warum das so ist.

Er hat immer von der Angst gesprochen, von der Angst seiner Leute hier in Tröglitz vor dem Unbekannten. Er hat im Gemeindeblatt davon geschrieben und zum Mut aufgerufen, er hat das Gleiche auf Versammlungen gesagt und in Gesprächen am Straßenrand, später dann im Radio und im Fernsehen. Dann hat er sein Bürgermeisteramt aufgegeben. Und dann brannte in der Karfreitagsnacht ein Haus, in dem zwei Menschen schliefen.

Angst, Herr Nierth? Haben Sie sich nicht furchtbar getäuscht in Ihren Leuten? Die sind doch bestimmt nicht von Angst getrieben gewesen, als sie vor einigen Wochen vor Ihrem Wohnhaus Aufstellung nehmen wollten. Und die Brandstifter vom Osterwochenende doch wohl auch nicht.

Markus Nierth, einstiger Ortsbürgermeister der Gemeinde Tröglitz, Burgenlandkreis, der Südzipfel Sachsen-Anhalts, sagt: „Es wollte nicht ganz Tröglitz vor meinem Haus auflaufen, und die Brandstifter kennen wir noch nicht.“ Aber dass beispielsweise die Nachricht von 40 Asylbewerbern, die bald in diesen Ort kommen würden, bei einer Mehrheit der Alteingesessenen auch Angst auslöst, das wisse er aus eigenem Erleben. Auch Familienangehörige von ihm hätten „Übergriffe erlebt“, in Berlin, von Männern, die ganz offenkundig aus Einwandererfamilien stammten. Im nahen Zeitz ebenso, wo es bereits ein Asylbewerberheim gibt.

Auch er schrieb, er wolle die Flüchtlinge nicht

Nierth sagt: „Ich wollte die Angst, die ich habe, offen eingestehen und nicht den Multikulti-Versteher spielen.“ Im Gemeindeblatt schrieb er schon im Dezember, gemünzt auf Kriegsflüchtlinge: „Keiner will sie. Ich eigentlich auch nicht. Aber sie sind einfach da.“ Sätze wie diese finden sich in Nierths öffentlichen Verlautbarungen aus dem letzten Vierteljahr etliche. Sie dienen ihm dazu, einen Bogen zu spannen, seine Tröglitzer dort zu packen, wo deren vom ihm vermuteten Ängste lauern, um ihnen dann hinterher ins Stammbuch zu schreiben: Wir alle müssen helfen.

Nierth informierte, wo er konnte. Zu Weihnachten predigte er, der evangelische Theologe, zum ersten Mal seit Jahren wieder in der Kirche. Wieder sprach er vom Mut, der die Angst besiegen und die Herzen öffnen sollte. Er handelte mit dem Landrat aus, dass statt der geplanten 50, 60 Asylbewerber nur 40 in Tröglitz untergebracht werden sollten.

Trotzdem zogen fortan jeden Sonntag Menschen durch den 2700-Einwohner-Ort, meist um die 100, veranstaltet wurden die Demonstrationen von der NPD. Nierth wich ihnen nicht aus, sondern suchte auch dort das Gespräch. Anfang März sollte direkt vor seinem Haus demonstriert werden. Das Landratsamt verbot dies nicht, Nierth fühlte sich und seine Familie alleingelassen und ungeschützt – und trat zurück.

Das Fernsehen wurde aufmerksam, die Zeitungen. Nierth ließ sich geduldig von ihnen befragen. Er bestand weiterhin aus kaum mehr als Verständnis für die Tröglitzer, nahm sie in Schutz, so gut es ging. Nierth sagt bis heute: „Die 100 Demonstranten sind nicht das Problem. Was mich stört, das ist die Sprachlosigkeit der Mehrheit. Die ist nicht bösartig, die ist auch nicht feige, sie können es einfach nicht. Sie haben es nie gelernt und nie geübt. Das ist eine Hemmschwelle.“ Als die Anfragen zu viel wurden, schlug er schließlich zwei Einladungen zu Talkshows aus. Dennoch, Tröglitz wurde bekannt und bekam – vielleicht auch durch zu flüchtiges Hinschauen – einen Ruf: den des ostdeutschen Kaffs, das geprägt ist von Fremdenfeinden.

Wie Nierth sich die sprachlose Mehrheit erklärt

„Ich bin fassungslos.“ Markus Nierth redet gegen die Sprachlosigkeit seiner Mitbürger an. Auch nach seinem Rücktritt als Bürgermeister.
„Ich bin fassungslos.“ Markus Nierth redet gegen die Sprachlosigkeit seiner Mitbürger an. Auch nach seinem Rücktritt als Bürgermeister.

© Hendrik Schmidt/dpa

Tröglitz, am Ostersamstagnachmittag. Der ausgebrannte Dachstuhl der geplanten Asylunterkunft qualmt nicht mehr, doch die Feuerwehr ist noch da. 150 Meter die Ernst-Thälmann-Straße herunter, auf dem Friedensplatz, treffen die ersten Menschen ein. Nierth, seine Frau und einige Gleichgesinnte haben eine Kundgebung anberaumt. Zwischen dem alten Kaufhallengebäude, der Grundschule und einem Wohnblock wollen sie mit jedem, der vorbeikommt, Haltung zeigen, den Schrecken verdauen, in die Zukunft blicken.

Nierth, der nie bei den Pionieren und nie in der FDJ gewesen ist, wird am Ende das Pionierlied „Kleine, weiße Friedenstaube“ anstimmen lassen, und viele der dann anwesenden 250 bis 300 Menschen werden tatsächlich mitsingen. Sie werden sich auch, auf seinen Aufruf, an den Händen fassen. „Wir brauchen Gemeinschaft“, wird er sagen, „ich lade euch ein, dass wir uns alle an die Hand nehmen.“

Das unter Ideologieverdacht stehende DDR-Kinderlied, gesungen von den sich hinterher festhaltenden Menschen – zwei Wunder an einem Tag in einem Ort, dem es aus Nierths Sicht ganz grundsätzlich an Gemeinschaft mangelt, aber offenkundig nicht an der Sehnsucht danach.

Nierth hat eine Erklärung dafür. Tröglitz ist ein junger Ort. Er wurde 1937 als Arbeitersiedlung gebaut, als Wohnstätte für die aus allen Himmelsrichtungen zuziehenden Beschäftigten eines Kohle-Hydrierwerks, einer Anlage also, die aus der in der Umgebung gewonnenen Braunkohle Benzin machte. Es gibt kein jahrhundertelang gewachsenes Vereinsleben hier, nur über wenige Generationen greifende Familienbande. „Die Menschen hier haben sich lange Zeit nur über ihre Arbeit definiert“, sagt Nierth.

Er erlebt das bis heute. Nierth verdient seinen Lebensunterhalt als Trauerredner, er kennt hunderte Lebensläufe, und immer wieder stehe er an Gräbern von einstmals gestandenen Männern, verwurzelt mit der Arbeit im Werk, das sie dann nach 1989 selbst mit abgerissen haben, „zwei, drei Jahre lang“, sagt Nierth. Als Letztes mussten sie ihr Werkzeug in den Müll schmeißen.

Viele haben den Bruch nach 1989 nicht überwunden

Diesen Bruch, die dann oftmals folgende Arbeitslosigkeit, hätten viele nie verwunden. Sich künftig von allem und jedem zurückgezogen, aus Scham. Zum Teil komme das bei ihren Kindern wieder durch.

Mit dieser Erklärung von der „besonderen sozialen Struktur“ – so stand es auch im Gemeindeblatt – hat Nierth beim Landrat auch die reduzierte Zahl der geplanten Asylbewerber durchgesetzt. Der logische Gedanke dahinter: Tröglitz, das mit sich selbst Integrationsprobleme hat, kann bei der Integration von Asylbewerbern auf weniger Ressourcen zurückgreifen als andere Gemeinden.

Doch selbst diese vergleichsweise differenzierte Sicht auf den Ort wird dem, was hier in den vergangenen Wochen Aufmerksamkeit erregte, nicht gerecht. Etliche der trillerpfeifenden Anti-Asyl-Demonstranten stammten nicht aus Tröglitz, nicht einmal aus der Umgebung. Von den Brandstiftern vom Wochenende weiß man es noch nicht. Dass wiederum einstige Volkspolizisten unter den Protestierern gewesen sind, passt wieder wunderbar ins handelsübliche Bild von DDR-Biografien: einmal autoritär, immer autoritär.

"Wir halten das aus!"

„Ich bin fassungslos.“ Markus Nierth redet gegen die Sprachlosigkeit seiner Mitbürger an. Auch nach seinem Rücktritt als Bürgermeister.
„Ich bin fassungslos.“ Markus Nierth redet gegen die Sprachlosigkeit seiner Mitbürger an. Auch nach seinem Rücktritt als Bürgermeister.

© Hendrik Schmidt/dpa

Nierth hatte dieses Land in den 80er Jahren mit seiner Familie verlassen müssen. Seinem Vater, der ein Pfarrer war und krank, wurde damals die nötige „medikamentöse Behandlung nicht zugesichert“, sagt Nierth. 1999 kam er zurück, kaufte einen alten Gasthof in Tröglitz, stieß rasch auf Akzeptanz im Ort.

Und jetzt also steht er auf dem hiesigen Friedensplatz, eine Parkbank ist seine Rednertribüne. Nebenan die Grundschule, auf der Fassade ein sozialistisches Wandbild, junge Menschen darauf. Einer mit Ball und Turnzeug, einer mit Halstuch, einer mit Fahne und einer Friedenstaube in den Händen. Darunter steht in Großbuchstaben: Wir lehren, lernen und kämpfen für den Frieden.“

Nierth blickt in die Augen seiner Zuhörer. „Ich hab’ keine Worte mehr“, sagt er, „ich bin fassungslos, ich bin entsetzt, aber ich bitte euch, liebe Tröglitzer, erstmal zu Wort.“ Menschen betreten die Parkbank, stellen sich vor, sagen oft, „ich bin nicht aus Tröglitz, aber“. Der Pfarrer spricht, der Landrat, der Fraktionschef der Linken im sachsen-anhaltinischen Landtag, der Ministerpräsident, Nierths Frau. Sie ruft: „Ich will euch fragen: Wovor habt ihr solche Angst?“ Vor ein paar fremden Neuankömmlingen, sei das denn so schlimm? „Das, was gestern passiert ist, das ist schlimm.“ An dieser Stelle kommt der erste Zwischenruf aus den Reihen der Versammelten. „Falsch!“, ruft ein junger Mann. „Das wird noch viel schlimmer werden.“

Das ist es, was Nierth gemeint hatte: Laut sind immer nur wenige, und die Tröglitzer lassen es unwidersprochen zu.

Angereiste Rechtsextremismus-Experten kannten den jungen Mann. Auf die später gestellte Frage, ob er stellvertretend für eine Partei oder Organisation hier sei, sagte er: „Nein, privat.“ Auf die Frage, was denn genau noch schlimmer werden würde, die Tatsache, dass in Tröglitz trotz des zerstörten Hauses bald dennoch Asylbewerber leben würden, oder ob er weitere Brandschatzungen in diesem Fall angekündigt hat, sagt er nichts.

Noch ein paar Minuten später fährt ein lila lackierter Hummer-Geländewagen um die Versammelten. Er fährt Schritt. Aus dem Beifahrerfenster filmt einer, der Fahrer lässt den Motor mehrmals aufbrummen. Die Rechtsextremismus-Experten: Ja, man kenne den Wagen. Mehr könne man nicht sagen.

Die NPD ist auch auf dem Platz

Die NPD ist auf dem Platz, auch einige der Sonntagsdemonstrierer sind da. Gesprächsangebote kommen von der Parkbankbühne, „wir wissen nicht, wer es war“, der den Brand gelegt hat, „lasst uns nicht neue Feindschaften bilden.“ Und direkt an den jungen Mann gerichtet: „Stellen Sie sich vor, vor 25 Jahren hätten Sie das hier nicht gekonnt.“ Aber auch: „Wir halten das aus.“ „Wir werden nicht weichen.“ „Wir werden die dezentrale Unterbringung durchführen.“

Einer der Redner erzählt noch einmal die Geschichte von jenem NPD-Funktionär, der Nierth nach dessen Rücktritt öffentlich nachgerufen hatte, er hätte doch, statt Angst um seine Familie zu haben, mit ihr gemeinsam in ein Schnellrestaurant fahren und dort die Demo vor seinem Haus abwarten können. „Hätte er es den beiden Leuten im abgebrannten Haus gestern auch gesagt?“

Ein Kamerateam des MDR befragt unterdessen die Menschen. „Ich hab‘ die ganze Zeit ein Gedicht im Kopf, von Johannes R. Becher, aus den 50er Jahren“, sagt eine Frau. „Wenn nicht Friede wird auf Erden, was soll aus uns allen werden? Friede, Friede, sei auf Erden! Menschen, lasst uns Menschen werden!“ Sie wirkt, als sei sie den Tränen nahe.

Reiner Haseloff, der Ministerpräsident, hatte am Mittag auf einer Pressekonferenz in Halle an der Saale einen ähnlichen Eindruck gemacht. Danach ist er nach Tröglitz gefahren, ist herumgelaufen, hat Dinge besprochen und erledigt, und wie um sich selber Mut zu machen, sagt er zum grünen Landtagsabgeordneten Sebastian Striegel, als er ihn auf dem Platz erblickt, was bereits alles abgearbeitet ist. Ein Gespräch mit dem Besitzer der Hausruine. Erste Klärung der Versicherungsfragen. Er sagt, dass dieser Ostersamstag in Sachsen-Anhalt nicht der Tag für große Reden ist, sondern fürs Solidarisch-Sein. Dann sackt er wieder ein bisschen zusammen. „Das ist ein richtig widerliches Verbrechen“, sagt er.

Oben auf der Parkbank ist er wieder etwas zuversichtlicher, er sagt: „Dieses abgebrannte Haus, das wird nicht das Wahrzeichen von Tröglitz werden.“ Es klingt entschlossen, so wie die meisten dort oben entschlossen klingen.

Die Leute unten singen das Lied von der kleinen, weißen Friedenstaube. Die Frauen etwas lauter als die Männer, die Alten lauter als die Jungen. Als die Kundgebung zu Ende ist, bleiben viele noch auf dem Platz, reden miteinander, leise, nachdenklich. Sie kommen ins Gespräch. Es ist vielleicht das, was sich Nierth für seinen Ort so lange gewünscht hat.

Vielleicht. Zwei Tage später, es ist Ostermontag, der einstige Bürgermeister hatte etwas Zeit zum Luftholen, und er weiß, dass er wird weitermachen müssen. Er hat angekündigt, den Asylbewerbern eigenen Wohnraum zur Verfügung zu stellen.

Der Text erschien auf der Dritten Seite des gedruckten Tagesspiegels.

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