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Essen und Trinken: Kochen nach Plan

Auf Omelett folgt stets Lasagne: In der Küche der Gottsteins gibt es keine Überraschungen. Und das ist gut so, finden sie.

Zu den liebsten Vorstellungen von Solveigs Vater gehört eine Szene, die seine Tochter in 20 Jahren zeigt. Er stellt sich vor, wie sie mit einer Bierflasche in der Hand auf einer Party herumsteht und von ihren irren Eltern erzählt, die sie, so lange sie denken kann, nach einem Plan ernährt haben.

Aber jetzt ist Solveig noch fünf. Dichte Jacken schützen sie, ihre zweijährige Schwester Malia und ihre Eltern Björn und Martina vor dem Berliner Regen. Sie betreten nach dem Kindergarten den nächstgelegenen Supermarkt, werfen eine Münze in den Einkaufswagen und bleiben resistent gegen jede Verführung durch die aktuellen Sonderangebote. Sie ignorieren die neonfarbenen Schilder und steuern zielgerichtet auf die Butter und den Risotto-Reis zu. Nach ihrer eigenen Zeitrechnung befinden sie sich in der zehnten Woche, was sie jetzt etwas Öl kaufen lässt, damit das Gorgonzola-Walnuss-Risotto was wird.

Es ist schwierig für den Handel, wenn nicht unmöglich, in der Familie Gottstein/Seeber ein Bedürfnis zu wecken, das sie nicht zuvor selbst formuliert haben. Denn ihre Bedürfnisse haben sie für zwölf Wochen im Voraus festgelegt.

Folgendes möchte Björn Gottstein in der Kindheit seiner Töchter als normal verstanden wissen: zusammen essen, und zwar jeden Abend; kochen, Gemüsesorten kennen und mit dem Messer immer von den Fingern wegschneiden. Erst im Vergleich mit anderen Kindern werden Solveig, 5, und Malia, 2, irgendwann feststellen, dass ihre Normalität so besonders ist, dass sie in die Zeitung kommt.

An einem Abend, der jetzt auch schon wieder erschreckende viereinhalb Jahre zurückliegt, setzt Björn Gottstein sich hin und verfasst in wenigen Stunden einen Essensplan, nach dem die Familie fortan leben wird. Er nennt ihn: „Ewiger Speiseplan“. Es wird eine subjektive, vegetarische, extrem biografische Speisekarte mit der Borschtsch-Suppe von ihren Vorfahren und Spinatknödeln und Polenta aus der Südtiroler Ecke. Lieblingsessen gibt es mehrmals, es gibt Milchreis und Senf-Eier.

Gottstein, seine erste Tochter ist anderthalb, ist in diesem Moment erfüllt von einem Verlangen nach Ordnung, und zugleich beseelt von einem romantischen Gedanken. Er und seine Frau hatten immer vor, für ihre Kinder zu kochen. Am liebsten wollten sie das jeden Abend tun. Aber sie stellten fest, dass das gar nicht so einfach war. Die Spontaneität, mit der sie abwechslungsreich und nach Lust und Laune kochen wollten, war gar keine. Ihnen fiel nach einem langen Arbeitstag immer nur das Gleiche ein. Sie hatten auch weder Lust noch Laune, sich unter Zeitdruck ein Gericht auszudenken. Ihre Vorratshaltung war wirr. Immer wieder mussten sie Lebensmittel wegschmeißen, die verdorben waren, bevor sie Eingang in ein Gericht gefunden hätten. Aber mit dem Plan änderte sich alles.

Einkauf für Einkauf, Abend für Abend, Löffel für Löffel und Jahr um Jahr erfüllt sich jetzt ein Traum, der auch eine Vorstellung von einer idealen Kindheit ist. Björn Gottstein hatte nämlich ein Buch mit Kindheitserinnerungen gelesen, es handelte von Ritualen, Gerüchen, Geschmäckern, die in das Empfinden der Autorin tief eingesunken waren. Es gab das Gute und das Pampige, und beidem war eigen, dass es jahrelang immer wiederkehrte. Er selbst, sagt Gottstein, hatte keine ritualhaft verlässliche Kindheit, vielleicht fand er diese deshalb so romantisch.

„Und du, Martina“, ruft er über die Einkaufstüten hinweg. „Siehst du etwas Romantisches in unserem Plan?“ „Nein, überhaupt nicht.“ Martina Seeber muss lachen. Sie sieht vor allem etwas ungeheuer Praktisches. Zuerst quittierte sie seine Liste mit einem Lächeln, das er für verächtlich hielt. Noch heute bezeichnet er die Mutter seiner Kinder manchmal als „das Opfer meines Plans“. Er sagt:  „Auch die Kinder sind sauer – manchmal schon Tage vorher.“

Björn Gottstein ist Musikwissenschaftler, eine gewisse Taktung im Leben macht ihm keine Angst. Er mag das Serielle in der Kunst, die Loops, aneinandergehängt in geringfügigen Variationen. Er findet, es liegt eine gewisse Poesie darin. Ein Komponist neuer Musik, den er einmal interviewte, hatte in seiner Küche ein nur diskret alternierendes Muster farbiger Kacheln. Das fand er sehr fein.

Solveig, die seit einiger Zeit mit dem Messer umgehen kann, schneidet Äpfel für das Walnuss-Risotto. Ihre Mutter setzt die Brühe auf. Es gibt, sagt sie, natürlich Gerichte, die einer von beiden besser kann.

Es komme darauf an, diesen Plan als eine Erleichterung des Alltags zu sehen – und nicht als zusätzliche Pflicht.

Aber ist er nicht ein schreckliches Korsett?

„Er ist gelebte Dialektik“, sagt Björn Gottstein. Auch er sieht die starre Ödnis, die aus der Planhaftigkeit des Plans kommt. Tatsächlich aber garantiere er Vielfalt. Wie viel Abwechslung in so einem Plan liege! Wer komme, im Ernst, schon spontan darauf, Eier mit Senfsoße zu machen? Diesen vergessenen Klassiker zitieren sie jetzt alle drei Monate genau einmal.

Die Schwächen des ersten Plans stellten sich schnell heraus: Erst gab es nur einmal pro Woche Nudeln. „Das hält keine Familie aus“, musste Gottstein schnell einsehen. In einer anderen Woche, stellten sie fest, dass ihre Gerichte zufällig alle weiß waren: Risotto mit Gorgonzola, Milchreis, Gnocchi, Nudeln mit Pilzen... Das hielten sie ästhetisch nicht aus. Zum fünften Geburtstag von Solveig erhielt diese Mitspracherecht, seitdem gibt es den Programmpunkt „Kinderwunsch“, was in der jetzigen Phase bedeutet, dass sie dann immer Pfannkuchen machen müssen oder Milchreis.

Aber der Plan funktioniert, weil er mehrere Probleme auf einmal löst: Er vereinfacht und ritualisiert das Einkaufen. Er erzwingt das abendliche Kochen. Er regelt die Zuständigkeit. Er entschärft Konflikte. Er entfernt die Reibungsfläche in ihrer Beziehung. Irgendwann stellten sie fest, dass sie nichts mehr wegwerfen mussten, weil sie nichts mehr einkauften, das sie nicht auch verbrauchen würden. All die erratischen Lustkäufe auf dem Markt, Zutaten, die dann doch in den kommenden Wochen keinen Eingang in ein Gericht finden würden, waren überflüssig geworden.

Sie beschlossen, eine Lieblingswoche innerhalb der drei Monate fast komplett zu wiederholen. Und bevor sie anfingen, sich zu langweilen, haben sie die Rubrik: „Neu aus dem Kochbuch“ eingeführt. Wenn das neue Gericht überzeugt, kann es in den Plan Eingang finden und ein anderes verdrängen.

War es Björn Gottstein anfangs noch peinlich, von seiner häuslichen Planwirtschaft zu berichten, stellte er mehr und mehr fest, dass sie für jede entstehende Gesprächslücke ein willkommenes Thema war. Auf Partys sind sie die beiden nun bestaunten Unikate. Das Wunder ist ja nicht, dass jemand zum Jahresende einen Plan aufstellt, nach dem er sich künftig richten will. Das Wunder besteht darin, dass sich eine vierköpfige Familie über mehr als vier Jahre daran hält.

Auf diesen Partys hatte dann jeder eine Meinung. Alle hatten Fragen. Viele verlangten den Plan. Aber nur ein einziger hat in vier Jahren je selbst einen verfasst.

Man müsse, um damit glücklich zu werden, nicht genau seinen Plan nachkochen, sondern die Gerichte durch eigene Lieblingsgerichte ersetzen, sagt Gottstein.

Und weil das Leben das Leben ist, wird auch mal etwas verschoben. Nach dem Urlaub setzen sie da an, wo sie aufgehört haben. Martina berichtet von ständigen Ausbruchsfantasien. Ein Kitzel, der natürlich erst dadurch entsteht, dass der Plan überhaupt existiert. Ist Björn, der Vegetarier, verreist, macht Martina Fleisch. Oder Pommes. Oder irgend etwas anderes Verbotenes.

Der schwierigste Punkt war, dass die Essenszeit um sechs Uhr abends für Erwachsene zum gefühlten Nachmittag gehört. Wie sollte man da ein Hungergefühl entwickeln? „Man glaubt es nicht. Jetzt, nach fast fünf Jahren, kommt bei mir pünktlich um 18 Uhr der Hunger.“

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