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Besetzt die Wall Street - Unter dem Motto ziehen seit dem 17. September Tausende wütende US-Amerikaner gegen die Macht des Finanzmarktes zu Felde.

© REUTERS

Proteste: Gegen die Wall Street, irgendwie

Der Protest in den USA sucht noch seine Thesen. Dennoch schließen sich ihm immer mehr Menschen an. Zahlreiche Anwälte haben bereits angeboten, den Demonstranten im Fall von Verhaftungen beizustehen.

Unter blauen Plastikplanen erwacht der Protest einer Generation. Acht Uhr morgens, Liberty Square. Ganz langsam, einer nach dem anderen, schälen sich die Demonstranten aus ihren Schlafsäcken. Sie gähnen. Sie frösteln. Es ist kalt geworden in New York, doch wer für die Freiheit kämpft, gegen Konsum und Kapitalismus, der darf nicht zimperlich sein.

In dem kleinen Park im New Yorker Finanzviertel harren einige hundert Demonstranten nun schon seit drei Wochen aus. Sie haben kalte Nächte überstanden, viel Regen und unerwartet brutale Aktionen der New Yorker Polizei, die vor ein paar Tagen ohne ersichtlichen Grund vier junge Frauen mit Pfefferspray außer Gefecht setzte. Der Aufruf der Demonstranten: „Occupy Wall Street“ - Besetzt die Wall Street! Das Zentrum der globalen Finanzmärkte und die New Yorker Börse liegen nur ein paar Meter südlich. Alles ist großräumig abgesperrt und verbarrikadiert. Überall ist Polizei, doch die Demonstrationen verlaufen friedlich, wenn auch etwas planlos.

Was laut Organisatoren eine „amerikanische Version des Tahrir Square“ werden sollte, erinnerte in den vergangenen Tagen mehr an ein Sommercamp für Studenten und Althippies als an die verzweifelten Proteste in Ägypten. Trotz der offensichtlichen Verbitterung der Demonstranten über das System und trotz ihrer erklärten Absicht, die Tyrannei von Corporate America und die Korruption in Washington zu stoppen, stehen am Liberty Square doch Spaß und Unterhaltung im Mittelpunkt. Mitten auf dem Platz findet sich jeden Nachmittag ein Trommelkreis ein, junge Männer mit Rastalocken zupfen an ihren Gitarren, ein paar Leute lassen Hulahoop-Reifen kreisen und zwei Mädchen heizen der Menge als Cheerleader ein – sie sind so außer Atem, dass ihre Slogans kaum zu verstehen sind. Egal, denn die Busse und Taxis, die sich langsam den Broadway entlangquälen, übertönen sowieso alles.

Großinvestor George Soros bekundet seine Sympathie

Vom „arabischen Frühling“, der mit Verzweiflungstaten wie der Selbstverbrennung des Straßenhändlers Mohammed Bouazizi begann, sind hier nur ein paar Grundgedanken übrig. Und auch die sind nicht vollständig formuliert. Jeden Tag werden zudem neue Sprüche auf Pappschilder gepinselt. Da steht etwa: „Es gibt keine Wirtschaft auf einem toten Planeten“. Man steht ein für Weltfrieden, Umweltschutz und Gewerkschaften, gegen die Banken, den Bail-out großer Finanzkonzerne auf Kosten der Steuerzahler, aber auch, etwas zusammenhanglos, gegen die Israel-Politik der US-Regierung.

Während sich manche noch aussuchen, wofür oder wogegen sie protestieren, ziehen andere in vollem Ornat los. Am Dienstag ist es ein Umzug von Zombies, kreideweiß, die sich von falschen Geldscheinen ernähren. Andere nehmen derweil Nachhilfe in Sachen Grundrechte. Jason Ahmadi, 26 Jahre alt und Aktivist mit jahrelanger Erfahrung „in verschiedenen Kampagnen“, klärt auf: „Zieht euch warm an. Im Gefängnis kann es sehr kalt werden. Und ein dicker Pullover kann notfalls auch zum Kissen umfunktioniert werden.“ Er rät Demonstranten, im Falle einer Verhaftung umgehend einen Anwalt anzurufen – „erst danach deine Mutter“.

Zahlreiche Anwälte haben bereits angeboten, den Demonstranten beizustehen. Sie tragen grüne Baseball-Käppis und geben ihre Telefonnummer an jeden, der sie haben will. Auch von anderer Seite bekommen die Revolutionäre Unterstützung: von Prominenten. Der Großinvestor George Soros hat offen seine Sympathie bekundet. „Ich kann ihre Gefühle verstehen“, sagte Soros am Montag in New York. Auf der einen Seite müssten etwa Kleinunternehmer mit immer höheren Zinsen für ihre Kreditkarten kämpfen, auf der anderen Seite fahre die Finanzbranche riesige Gewinne ein und händige üppige Bonuszahlungen aus. Auch der Aktivist und Filmregisseur Michael Moore und die Schauspielerin Susan Sarandon kamen schon am Liberty Square vorbei.

Die Promis sind willkommen, denn sie garantieren Medienpräsenz. Mittlerweile haben alle großen Fernsehsender eine Präsenz nahe der Demonstranten. Kamerateams von ABS und NBC interviewen Jugendliche nach der morgendlichen Vollversammlung. Angesichts der landesweiten Berichterstattung meint ein Aktivist: „Wir haben schon gewonnen.“ Ein anderer neben ihm sagt überzeugt: „Es fängt gerade erst an.“

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