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Taiyuin-Tempel. Auch viele andere Gebäude in Nikko stehen seit langem unter dem Schutz der Unesco.

© Franck Guiziou/hemis.fr/laif

Herbst in Japan: Liebe zum Laub

Für Japaner ist Nikko die Hauptstadt des Herbstes. Dann locken Tempel, Schreine – und die Natur.

Aus dem Becken steigt Dampf auf. Von den Bäumen fällt Laub herab. In einer Ecke unterhalten sich zwei Männer über Familie und Geschäft. Drüben, hinter einer hohen Wand, tun Frauen wahrscheinlich das Gleiche. Im heißen, sprudelnden Wasser der Bodenquelle schrumpelt die Haut. Der eine Mann greift in regelmäßigen Abständen nach verfärbten Blättern, um sich den Schweiß von der Stirn zu wischen. „Waren Sie schon beim Toshogu-Schrein?“, fragt er den Beckennachbarn in mäßig lautem Ton und entschuldigt sich gleich für seine Lautstärke. In den vielen Onsens im Ort, den Heißwasserquellen, die als Thermen genutzt werden, herrscht ansonsten Ruhe. Es wird geflüstert, nicht geredet. „Ich plane, am Mittag hinzugehen. Aber es gibt noch so viel anderes zu sehen.“ Weniger als für die berühmte Shintostätte sei er der Natur wegen nach Nikko gereist. „Ich komme jedes Jahr und staune immer wieder“, sagt er. Nicken, dann zufriedenes Schweigen.

Nikko heißt auf Japanisch Sonnenstadt, aber am beliebtesten ist der Ort im Herbst. Sobald sich die im Sommer noch grünen Baumkronen in alle möglichen Töne von Grellgelb bis Knallrot verfärben, wird die kleine Stadt zum japanischen Wallfahrtsort. Zu Tausenden kommen vor allem heimische Besucher aus allen Richtungen des Landes, auch um ein Schauspiel der Natur mitzuerleben. „Es dauert nur einige Wochen im Jahr, man muss rechtzeitig kommen“, sagt der Herr im Onsen und beißt sich auf die Lippe.

Ähnlich hoch wie das Weltkulturerbe Mount Fuji südwestlich von Tokio, den nach einem ungeschriebenen Gesetz jeder Japaner einmal bereist und bestiegen haben sollte, ist auch der Stellenwert von Nikko. „Sage niemals kekko, bis du warst in Nikko“, lautet ein geflügeltes Sprichwort. Das Wort, das auf Deutsch „schön“ heißt, bekomme erst durch Nikko ein Gesicht.

Japaner haben ein besonderes Verhältnis zum Herbst

Das muss auch die Erwartung der Besucher sein, die am Vormittag auf einem großen Parkplatz aus Bussen und Autos steigen. Es sind vor allem Japaner. Die Nummernschilder der Reisebusse verraten, dass die meisten von ihnen am frühen Morgen in Tokio losgefahren sind. Obwohl die Hauptstadt nur rund 140 Kilometer südlich liegt, kann die Anreise durch Geschwindigkeitsbeschränkungen auf Japans Schnellstraßen bis zu vier Stunden dauern. Der Stau zur beliebten Jahreszeit von Oktober bis Dezember, zumindest auf den Strecken nach Nikko, kommt hinzu. Andere Reisende sind mit dem Zug gekommen, so dauert es von Tokio aus immerhin nur zwei Stunden. Eine Reise, die viele der Besucher jährlich unternehmen.

„Da vorn ist der große Toshogu-Schrein, dort gehen wir jetzt hin“, sagt eine Reiseführerin und nickt einer Gruppe älterer Damen zu. Sie streckt ein Fähnchen in die Luft, damit das Gefolge weiß, wo es langgeht. Die Frauen zücken ihre Kameras und trippeln in kleinen Schritten hinterher. Das Trüppchen geht einen breiten Weg entlang, der etwas weiter vorn zu einer Allee wird.

Alle paar Meter bleibt eine der Damen stehen, um ein Bild zu knipsen. Die Aufnahmen dürften alle gleich aussehen, zumal dieser Weg eigentlich typisch japanisch aussieht: Alles ist sauber, schlicht und rechtwinklig angeordnet. Aber es sind die bunten Farben der Baumkronen, die links und rechts über eine Mauer ragen und jedes Foto einzigartig machen. Rot, Gelb, Orangefarben und verschiedene Mischungen, aber immer knallig leuchtend. „Dazwischen sind sogar noch grüne Blätter“, sagt eine Japanerin zufrieden und zeigt den Mitreisenden das Display ihrer Kamera. „Kekko“, sagt sie lächelnd.

Das Verhältnis der Japaner zum Herbst ist ein besonderes. Im arbeitsamen Land mit wenigen Urlaubstagen gilt er als die beste Jahreszeit zum Reisen, weil die Schwüle des Sommers nachlässt und die Kälte vom Winter noch nicht angekommen ist. Die Natur leuchtet ein letztes Mal auf, ehe sie für Monate ihr Leben zu verlieren scheint. Weil die Farben der Natur Japans besonders stark sind, ruft der Herbst gerade bei Menschen aus der Stadt eine Sehnsucht nach Natur wach.

200 000 japanische Zedern

„In Tokio vergeht der Herbst fast, ohne dass man ihn wahrnimmt. Es wird kälter, und plötzlich ist Winter“, sagt Hitomi, eine Japanerin aus der Großstadt Osaka, die seit Kurzem in Tokio arbeitet. Sie schlürft eine Yubasuppe, ein auf Soja basierendes proteinhaltiges Gericht und eine Spezialität der Region. Hier in Nikko aber sei das Gegenteil der Fall, der Herbst blühe auf. Und dazu sei noch an alles gedacht. „Die Restaurants servieren sogar die Gerichte so, dass sie auf den ersten Blick wie Laub aussehen.“ Hitomi strahlt.

Die Altdamengruppe ist beim großen Toshogu-Schrein angekommen. Es ist die wohl prachtvollste Anlage ihrer Art in ganz Japan. Zu ihr gehören 36 Bauten, darunter ein heiliger Pferdestall, mehrere riesige Tore, auf Japanisch Torii genannt, und Gebetsstätten, alle reich und bunt verziert. Die Besucherinnen haben die Köpfe in den Nacken gelegt, schauen nach oben und staunen mit offenen Mündern. Sind fasziniert von den Dächern, den zentralen Elementen der monumentalen Bauten.

„Im 17. Jahrhundert wurde das alles für den damaligen Herrscher errichtet, den großen Tokugawa Ieyasu“, berichtet die Reiseführerin den Damen. Der Wert der Anlage wird heute auf 400 Millionen Euro geschätzt, 140 000 Bäume waren für den Bau nötig. Aber der Respekt vor der Natur gebot es, dass 200 000 japanische Zedern nachgepflanzt wurden, was auch nicht billig gewesen sein dürfte. Auch deshalb wird Nikko heute für seinen Einklang mit der Natur gelobt.

Noch ein Gebet im Shintoschrein

Nicht weit von der riesigen Toshogu-Anlage stehen auch buddhistische Tempel, die wesentlich schlichter sind als ihre shintoistischen Entsprechungen, die der japanischen Urreligion entstammen. Mönche, die den Besuchern gegen etwas Geld ihren Segen anbieten, laufen in der ganzen Stadt herum. Die Mehrheit von Japans Bevölkerung sieht sich ohnehin beiden Religionen zugehörig, sowohl dem Shinto als auch dem Buddhismus, der einige Jahrhunderte später ins Land gebracht wurde.

Tatsächlich kommen viele Besucher auch wegen ihrer religiösen Anliegen oder dringenden Wünsche in die Stadt. „Mein Enkel schreibt im nächsten Jahr die Universitätsprüfung“, sagt eine der Damen. Sie wolle sich später nicht vorwerfen lassen, es sei an mangelnder Unterstützung aus der Familie gescheitert. Sie wird gleich beim entsprechenden Shintoschrein ein Gebet ablegen.

Die Japanerin Hitomi hat so eine Tat schon hinter sich. Bei einem Mönch habe sie um Erfolg im Beruf gebeten. Mittlerweile ist sie rund einen Kilometer hoch zum Hausvulkan Nantai gefahren, wo der Chuzenji-See liegt. Unten, im Restaurant, hatte sie noch über die alten Damen gescherzt, die jedes einzelne Blatt fotografieren wollten. Die machten dem Bild, das Ausländer von Japanern haben, ja alle Ehre, hatte sie gekichert.

Mittlerweile hat Hitomi selbst zu ihrer Kamera gegriffen. Sie wolle den bekannten Kegon-Wasserfall aufnehmen, der von oben hundert Meter in die Tiefe stürzt. Auch die Pflanzen auf den Felsen wechseln bereits ihre Farbe. „Das muss man doch fotografieren“, sagt sie, schießt ein Bild nach dem anderen. Ein paar löscht sie danach wieder. Dann schaut sie sich wieder um und murmelt dabei immer wieder ein Wort: „Kekko.“

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