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Im Zentrum von Eupen

© Ivo Mayr

Deutschsprachige Minderheit in Belgien: Die Grenzgänger von Eupen

77 000 Deutschsprachige leben in Belgien – und Eupen, ein kultureller Flickenteppich, ist ihr Zentrum. Besuch in einer Stadt zwischen den Welten

Der ganze Mann ist Belgien! Rote Jacke, gelbe Hose, schwarz-gelb-rote Turnschuhe und zwei Fanschals um den Hals. Alain Brock hat sich schick gemacht, schließlich steht eine Premiere an in Eupen. Es ist ein Dienstag im Juni, die belgische Nationalmannschaft tritt nach zwölf Jahren Pause wieder bei einer Fußball-WM an, und das Städtchen zwischen Aachen und Lüttich erlebt das erste Mal ein Public Viewing. Brock, 46, hat die öffentliche Übertragung organisiert. Und so meldet sich alle paar Minuten sein Mobiltelefon, ein Orchester intoniert dann die Brabançonne, die belgische Hymne.

Die Leinwand ist auf dem Platz um das Monument für den Eupener Karneval aufgebaut, den sie hier nur „Am Clown“ nennen. Während sich die Fans davor drängen, greift Brock zum Mikrofon. „Dieses Public Viewing hat neun Monate Planung gekostet“, ruft er auf Deutsch. „Eine ganze Schwangerschaft.“ Offensichtlich macht der rheinische Hang zum Kalauern nicht halt an der Grenze, die gerade zehn Kilometer entfernt liegt. „Und jetzt ein dreifaches Zickezacke!“ – „Heiheihei“, schreit die Menge zurück. Dann schallt es „Allez les belges“ aus den Lautsprechern. Das Spiel beginnt, und der belgische Fernsehkommentator übernimmt – natürlich auf Französisch.

Das Publikum erlebt an diesem Tag einen 2:1-Sieg gegen Algerien. Drei Wochen später wird Belgien im Viertelfinale ausscheiden. Deutschland ist zu diesem Zeitpunkt schon eine Runde weiter und kann sich Hoffnungen auf den Titel machen. Doch Alain Brock fiele es – obwohl er Teil der deutschsprachigen Minderheit ist – nicht im Traum ein, mit der deutschen Mannschaft mitzufiebern. Im Gegenteil.

Eupen ist der Regierungssitz und das kulturelle Zentrum der „Deutschsprachigen Gemeinschaft“ (DG), so die offizielle Bezeichung der Minderheit. Aber in der kleinen Stadt mit ihren 19 000 Einwohnern drücken sie beim Sport gern den Gegnern der Deutschen die Daumen. „Zum einen ist da die deutsche Arroganz, nicht nur im Fußball“, sagt Brock. „Diese Überheblichkeit gegenüber anderen Ländern. Das bekommen wir mit, weil wir deutsches Fernsehen schauen.“ 77 000 Menschen gehören zur deutschsprachigen Minderheit. Da die Gegend, in der sie leben, Teil der Wallonie ist, können die Leute Französisch sprechen, manchmal auch Niederländisch. „Wir sehen uns als kleine Belgier, die von der Geschichte ein paar Mal überrannt wurden“, sagt Brock.

Zu Burgund, Habsburg, Frankreich und Preußen gehörten sie hier schon, und nach dem Versailler Vertrag 1919 dann zu Belgien. Es folgte die Annexion durch Nazi-Deutschland, der erst die Alliierten ein Ende machten.

Im Jahr 1945 versicherte Bürgermeister Hugo Zimmermann, die Eupener seien von jetzt an loyale Belgier. Während des Kriegs hatten viele mit den Nazis kollaboriert. Auch durch Familie Brock verlief eine Front: Alains Großväter wurden für Deutschland eingezogen, aufseiten einer Großmutter gab es Partisanen. Eine Generation später bekamen die Kinder bewusst französische Vornamen: René, Charles, Jeanine und eben Alain.

Die latente flämisch-wallonische Krise hat in der Stadt Besorgnis ausgelöst.

Karl-Heinz Lambertz war 15 Jahre lang Ministerpräsident der "Deutschsprachigen Gemeinschaft" (DG).
Karl-Heinz Lambertz war 15 Jahre lang Ministerpräsident der "Deutschsprachigen Gemeinschaft" (DG).

© Ivo Mayr

Eupen, gelegen zwischen grünen Hügeln, ist heute kulturell ein Flickenteppich. Seine frei stehenden Steinhäuser erinnern an Frankreich, die ambitioniert gestutzten Rasenflächen an Deutschland, die Fassaden sind in bräunlich-belgischem Klinkergewand gehalten. Auch die Straßenbeläge, ein asphaltiertes laissez faire mit Mut zur Lücke, passen gut in die Gegend.

In der Stadt gibt es ein Restaurant namens „Aux Sans Souci“ ebenso wie die Pension „Zum Goldenen Anker“, es gibt Bistros wie „Le Palais“, aber auch Konditoreien, in denen Gäste ein Kännchen Kaffee bestellen. An einer Litfaßsäule wird ein Auftritt der Kölner Mundart-Band Bläck Fööss angekündigt.

Beim Wochenmarkt auf dem Werthplatz stehen vorne Blumenverkäufer aus dem flämischen Bilzen, zwischen Maastricht und Hasselt gelegen. Die Töpfe sind mit Aufklebern versehen, auf denen „au choix“ steht oder „3 pour 10“. Der Obststand ist ebenfalls frankofon. Doch auch aus Deutschland sind Händler und Kunden angereist. Hier gibt es Delikatessen von überallher und für jeden Geschmack. „Was Scharfes, was Wildes, was Süßes“, ruft ein Verkäufer, während sich zwei Passanten mit „Bon week-end!“ verabschieden.

Wenn Karl-Heinz Lambertz über den Markt bummelt, wird er ständig begrüßt – wie ein alter Bekannter. Lambertz bleibt dann bereitwillig stehen, „wie jeht et, jut?“, sagt er und plaudert ein wenig. Lambertz, 62 Jahre alt, ist eine zentrale Figur in Eupen, ein jovial wirkender Mann von massiver Gestalt. Bis vor kurzem war er Ministerpräsident der deutschspachigen Belgier: Ganze 15 Jahre lang residierte er im Amtssitz, einer prächtigen Tuchmachervilla zwischen Bahnhof und Zentrum, die an Eupens Tradition als Textilstadt erinnert. „Die Menschen hier“, beginnt Lambertz einen kleinen Vortrag, und sein Akzent klingt fast französisch, „wissen vor allem, was sie nicht sind: Sie wollen keine Deutschen sein, aber eben auch keine Wallonen.“

Ihre heutige Autonomie verdankt die Deutschsprachige Gemeinschaft dem Zwist zwischen Flamen und Wallonen. Wegen diesem bekamen in den vergangenen 50 Jahren einzelne Regionen und Sprachgruppen in Belgien immer mehr Befugnisse. Das führte dazu, dass die Deutschsprachigen nun nicht nur eine vierköpfige Regierung, sondern auch ein eigenes Parlament haben. Lambertz hat diese Entwicklung entscheidend mitgeprägt.

Anders als zum Beispiel in Südtirol schimpft man hier nicht auf die Regierung in der fernen Hauptstadt, sondern schätzt den belgischen Föderalismus. Deswegen wollte Karl-Heinz Lambertz auch nichts mit der „Partei deutschsprachiger Belgier“ zu tun haben, die in den 1970er Jahren an die deutschen Wurzeln der Menschen appellierte. Der damalige Jurastudent Lambertz ging lieber zu den Sozialisten. „Regionale Einheitsparteien“ möge er nicht, erklärt er – und will das als „Bekenntnis zu einem Land mit verschiedenen Volksgruppen“ verstanden wissen. Vor Jahren veröffentlichte er ein Buch zum Thema „Grenzregionen als Labor und Motor kontinentaler Entwicklungen Europas“. In Eupen bekomme man ein besonders gutes „Gespür für europäische Integration“, sagt Lambertz. Er sieht Belgien als Vorbild.

Doch die latente flämisch-wallonische Krise der letzten Jahre hat in der Stadt Besorgnis ausgelöst. Wiewohl man Teil der Wallonie ist, positioniert man sich nicht, ähnlich wie ein Kind, das zwischen den streitenden Eltern keine Seite wählen möchte. Die Deutschsprachigen könnten mit ihrem zur Schau gestellten Patriotismus bald alleine dastehen. Ein Sprichwort besagt sogar, die „letzten echten Belgier“ seien ganz am Rande des Landes zu finden.

Wenn man Eupen mit dem Auto verlässt und Richtung Osten fährt, ist kaum zu erkennen, wo Belgien aufhört und Deutschland anfängt. Am Grenzübergang „Köpfchen“ liegen die alten Zollstationen verwaist an der Landstraße, niemand, der ihretwegen die Geschwindigkeit mindern oder gar anhalten würde. Schranken gibt es schon seit 30 Jahren keine mehr, mit Schengen verschwanden die Grenzanlagen. Dort, wo die Grenze verlaufen muss, steht ein Erdbeerstand.

Eingeweihte legen hier an der Strecke gerne aus anderen Gründen einen Stopp ein: „Pommes und Champagner“, dies ist der programmatische Untertitel des „Café de Frites“. Eine kleine, grau geflieste Gaststube, bunte Kronleuchter hängen an der Decke, die Küche ist offen und an der Wand stehen die Namen von Weinen. Gäste bekommen ein mariniertes Rinderfilet als Vorspeise – dies ist eine Luxus-Frittenbude belgischer Art, betrieben von Deutschen.

Im Rest Belgiens interessiert man sich kaum für die Deutschsprachigen

Karikaturistin Valentine Lilien.
Karikaturistin Valentine Lilien.

© Ivo Mayr

Valentine Lilien, 24, hat Platz genommen an einem der Tische, die Kellnerin schenkt ihr hausgemachte Limonade ein. Durch die offene Terrassentür weht ein Aroma von Kuhstall und Wiesen ins Innere. Früher war das Gebäude eine Scheune. Dann, nach dem Krieg, als entlang der Grenze viel geschmuggelt wurde, ein Kaffeegeschäft.

Lilien ist ein Kind des Grenzlands. Aufgewachsen ist sie in Eupen, ihre frankofonen Eltern schickten sie zu den Pfadfindern, da sollte sie Deutsch lernen. Die Schule absolvierte sie zweisprachig, wie das hier üblich ist. Und doch bleibt ihr manches fremd: „Fritten und Champagner, das geht nicht zusammen“, sagt sie und verzieht das Gesicht. Die Kombination erinnert sie an morgendliche Sektempfänge, die ihr einfallen, wenn man sie nach typisch deutschen Eigenschaften der Gegend fragt. Und was ist hier belgisch? „Beim Feiern geht es nicht so geordnet zu, da sind die Leute relaxter.“

Valentine Lilien kommt derzeit nur noch am Wochenende nach Eupen, wenn sie ihre Eltern besucht. Seit dem vergangenen Jahr wohnt sie in Brüssel. Irgendwann will sie vielleicht zurückkehren, sie mag die Natur und die Ruhe hier. Vorläufig aber geht sie den Weg der meisten Jungen: raus, nach Liège oder Brüssel. Oder nach Deutschland.

Die Provinz und die belgische Hauptstadt – Lilien kennt beide Welten. Im Rest Belgiens hätte man kaum Interesse an den Deutschsprachigen, erzählt sie, die Brüsseler wüssten gar nichts über die Minderheit. Als Karikaturistin arbeitet sie für die frankofone Wirtschaftszeitung „L’Echo“ ebenso wie für die Website des deutschsprachigen Rundfunksenders BRF. „,L’Echo‘ ist zwar ein sehr seriöses Blatt, aber was schwarzen Humor angeht, kann ich dort deutlich weiter gehen“, erklärt sie. „Beim BRF mögen sie das nicht so.“

Die Grenze hat Lilien „10 000 Mal überquert“. Möchte sie Sushi essen, fährt sie nach Aachen, wenn es arabische Speisen sein sollen, nach Liège. Aber wirklich zu Hause fühlt sie sich eben zwischen beiden Städten. „In Aachen halten die Fußgänger an einer roten Ampel an. In Liège nicht.“ Und in Eupen? Lilien lächelt. „Bleiben sie stehen.“

Zurück ins Eupener Zentrum. Im „Café Columbus“ hängt ein Porträt der belgischen Königsfamilie an der Wand. Gleich daneben findet sich ein Poster der „Roten Teufel“, wie die belgische Fußballnationalmannschaft genannt wird. Alain Brock – der Mann, der das Public Viewing organisiert hat – erholt sich bei einem Starkbier am Tresen, wo neben der „Sport-Bild“ die lokale deutschsprachige Zeitung „Grenz-Echo“ ausliegt.

Brock erzählt aus seinem Leben, das er komplett in Eupen verbracht hat. Er war Bankdirektor und Karnevalsprinz, heute arbeitet er im Stadtmarketing und ist Chef des lokalen Fanclubs der „Roten Teufel“. „Bei der jüngeren Generation sieht man weniger Ressentiments gegen Deutschland“, sagt er. Seine eigenen Kinder würden sogar zur deutschen Nationalmannschaft halten. Und bei Spielen des DFB-Teams gebe es schon ein paar mehr Zuschauer in den Eupener Kneipen als bei denen anderer Mannschaften.

„Wenn es um Klubfußball geht, sind die meisten sowieso Fans von Teams aus Nordrhein-Westfalen“, sagt Brock. Die Mannschaften aus dem Nachbarland sind dann doch attraktiver als der städtische Zweitligist AS Eupen.

Vor dem „Café Columbus“ fahren Autos vorbei, aus deren Fenstern belgische Fahnen hängen. Sie steuern hinaus aus der Stadt. Bevor es auf die Landstraße geht, muss der Korso unter einer Eisenbahnbrücke hindurch. Neben die Bücke hat jemand „1. FC Köln“ auf den grauen Stein gesprüht. Zwei Mal.

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