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Die drei Steinhöfel-Brüder: Andreas, der Schriftsteller (rechts), Dirk, der Illustrator (Mitte) und Björn, der Elektriker (links)

© privat

Gesellschaft: Dirk, Andreas und das Herzgebreche

Andreas Steinhöfel hat mit der „Rico & Oskar“-Trilogie Millionen von Kindern und Eltern glücklich gemacht. Er und seine Brüder wuchsen mit Leid und Liebe auf. Ein Familienbesuch.

Ohne Dirk wär das nicht passiert. Nur weil der Künstler der Familie eine Kindergeschichte aus dem Carlsen Verlag illustrieren wollte. Und weil er selber kein Leser war und sie Bruder Andreas zur Prüfung gegeben hat. Den hat bei der Lektüre die Wut gepackt: Was für ein betulicher Text, so pädagogisch, humorlos! Der Literaturstudent fand, dass er das besser konnte. Frischer, frecher, echter. Und schickte dem Verlag den Beweis.

25 Jahre ist es jetzt her, dass „Dirk und ich“ erschien, wilde Geschichten aus der Steinhöfel-Kindheit, in der die Familie von einer Slapstick-Katastrophe in die andere schliddert. Der Beginn einer Bilderbuchkarriere. Andreas Steinhöfel hat so ziemlich jede Auszeichnung bekommen, die man als Kinder- und Jugendbuchautor kriegen kann. Er, der spannende Geschichten voller Witz und Wärme und tiefer Menschlichkeit erzählt, ist einer der seltenen Autoren, den Kinder, Eltern und Kritiker gleichermaßen lieben. 1,6 Millionen Exemplare wurden von seiner Berliner „Rico & Oskar“-Trilogie verkauft, in 29 Ländern sind sie erschienen, alle drei, „Rico, Oskar und die Tieferschatten“, „Rico, Oskar und das Herzgebreche“ und „Rico, Oskar und der Diebstahlstein“ wurden fürs Kino verfilmt, und das auch noch ziemlich originell.

Eine Erfolgsgeschichte – über der ein tiefer Schatten hängt. So lustig wie im Buch ist die Kindheit der Brüder nicht gewesen. Im Grunde war sie mehr Hölle als Bullerbü.

Im hessischen Märchenwald

Hausbesuch in Biedenkopf, ihrer Heimatstadt. Die beiden Brüder tragen Partnerlook: T-Shirt, Kapuzenjacke, Dreitagebart und Halbglatze. Inzwischen über 50, haben sich beide etwas Jungshaftes bewahrt. Großzügige Gesprächspartner sind sie, großzügig in ihrer Offenheit, mit ihrer Zeit.

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Die Steinhöfel-Brüder leben im Land der Brüder Grimm, fünf Bahnstunden von Berlin entfernt, zweimal umsteigen, im hessischen Märchenwald wo man mehr Bäume als Menschen sieht. Wir sitzen in Andreas’ Festung, einem Fachwerkhaus am Waldesrand, hinter Büschen versteckt, voller Bilder und Bücher und „Kuschelwuschel“, wie Andreas sein Nippes nennt, dabei sehr aufgeräumt. Auf dem Dach eine Wetterstation, die hat Bruder Björn, der Nachzügler, von Beruf Elektriker, gebaut. So weiß Andreas jetzt immer, wann die Migräne kommt. Auf der Terrasse gibt’s Apfelkuchen mit Sahne zum Kaffee. Von Biedenkopf sieht man nichts außer dem grünen Schlossberg, obenauf die Burg. Leser von Steinhöfels letztem, verstörenden Roman „Anders“ kennen die Szenerie.

Randkinder und Wurzelbürger

Anders zu sein, das Gefühl kennen die beiden. „Randkinder“ waren sie, wie Dirk erzählt, als Kinder von Flüchtlingen – anders als die „Wurzelbürger“, wie die Alteingesessenen sich hier nennen. In „Dirk und ich“ malt Andreas Steinhöfel die Kindheit so aus, wie sie sich diese gewünscht hatten, mit einem hilfsbereiten, lustigen Papi als Familienoberhaupt. Der Vater der Wirklichkeit war ein Nazi, so die beiden, „die AfD ist ein Scheiß dagegen“. Psychot war er auch. Die Jubiläumsausgabe von „Dirk und ich“, die nächste Woche im Carlsen Verlag erscheint, enthält neben zwei neuen Geschichten kostbare Raritäten: Kinderfotos der Brüder. Überbleibsel eines Anfalls, bei dem der jähzornige Vater fast alle Familienfotos verbrannte. Ein anderes Mal hat er das Meerschweinchen ertränkt. Immer wieder hat er die Söhne verprügelt, der emotionalere, impulsivere Dirk kriegte noch mehr ab als der zwei Jahre ältere, distanziertere Andreas. Aber wenn er verdroschen wurde, erzählt Dirk, musste Andreas zugucken. „Das ist ja noch schlimmer.“

Die Mutter, die Ähnlichkeit mit der Mutter von Rico hat, war ihre Rettung. „Sie hat uns das Gefühl gegeben, dass wir liebenswert sind. Ohne den emotionalen Ausgleich wären wir heute Wracks.“ Sie hat ihnen Märchen vorgelesen, war der starke, sichere Pol. „Ich hab’ sie vergöttert“, sagt Dirk. „Das tu ich heute nicht mehr.“ Der Blick ist differenzierter geworden.

Der schwarze Humor war ihre Rettung

Andreas (links) und Dirk Steinhöfel: Eins der Kinderbilder aus der Jubiläumsausgabe von "Dirk und ich" (Carlsen Verlag)
Andreas (links) und Dirk Steinhöfel: Eins der Kinderbilder aus der Jubiläumsausgabe von "Dirk und ich" (Carlsen Verlag)

© privat

Gerettet hat die Brüder auch ihr schwarzer Humor. Immer wieder grinst Andreas über beide große Ohren, die angelegt wurden, als er fünf Jahre alt war, damit sie nicht weiter segelten. Und dann, genauso plötzlich, wie das Licht ins Gesicht kam, wird es wieder ausgeknipst. „Depression ist, wenn all deine Gefühle im Rollstuhl sitzen“, erklärt Rico in einem der Bücher. „Sie haben keine Arme mehr und es ist leider auch gerade niemand zum Schieben da. Womöglich sind auch noch die Reifen platt.“ Dagegen, hat Steinhöfel festgestellt, hilft nur eins: Lachen, vor allem über sich selbst.

Wie Rico hat der Schriftsteller in der Kreuzberger Dieffenbachstraße gewohnt, 20 Jahre Berlin, die Stadt seines Herzens wurde es nie. In Rico, dem herzensklugen, worterfinderischen, selbstbewussten „Tiefbegabten“, der seine Ängste in Kästchen packt, um sie in Schach zu halten, steckt Gianni Vitiello, Andreas’ hyperaktiver Lebensgefährte. 2009 fiel der Berliner DJ tot vor dem Kühlschrank um. Die Drogen waren stärker als das Herz.

Für Andreas Steinhöfel bedeutete der Tod seines Freundes eine tiefe Zäsur. Zwei Jahre ist er als Autor verstummt. Fragte sich, ob er nicht „bei den Menschen sein will, die ich liebe“. 2010 zog er nach Biedenkopf zurück, wo die Familie im selben Haus wohnt, in dem sie in den 70ern lebte. Der kleine Bruder, „Baby Björn“, mit seiner Familie – den Nichten ist die Jubiläumsausgabe von „Dirk und ich“ gewidmet –, die Mutter und Dirk. Aber nicht mehr lange. Dirk renoviert gerade das Nachbarhaus, sein Freund hat die obere Wohnung schon bezogen.

Geoutet haben sie sich erst, als sie über 20 waren

Dass sie schwul sind, war den Brüdern schon als Kinder klar. Geoutet haben sie sich erst mit über 20. Ohne sich vorher abgesprochen zu haben, kehrten beide am selben Wochenende dafür nach Biedenkopf zurück. Die Mutter meinte, wurde ja Zeit, Björn, zwölf Jahre jünger, hatte mit der Information erst mal zu kämpfen. Ist lange her. Als das Gerücht aufkam, einer seiner Brüder hätte eine Freundin, setzte Björn es auf die Tagesordnung seiner Freiwilligen Feuerwehr: Wer noch mal behaupte, sein Bruder sei nicht schwul, bekomme es mit ihm zu tun.

Liebevoll beschreiben die Großen ihn wie einen Gummiball, der ständig rennt und hüpft und anderen hilft. Ihre Rollenverteilung? Andreas sei der Vermittler, der Diplomat, Dirk der Kümmerer – typisch, dass er an diesem Abend den Nudelsalat zu den Bratwürsten gemacht hat, wie früher, mit Fleischwurst, Gürkchen und Mayonnaise. Und Björn, der Sportliche und Praktische, ist der Netzwerker, der Mann für die Sozialkontakte.

Was Kommunikation angeht, sind die beiden Großen belastet. 1974 eröffneten die Eltern ein Taxiunternehmen, in dem die Kinder mithelfen mussten, nach der Schule, bis in die Nacht. „Wir waren die Zentrale.“ Dirk, bis dahin ein guter Schüler, fiel schlagartig ab. „Träumt“, stand im Zeugnis. Weil er müde war. Und musste sich dann noch anhören, was für ein toller Schüler sein großer Bruder war. 13 Jahre ist er als Erwachsener Taxi gefahren,um der Mutter zu helfen. Da wollte er nicht ausgehen, keinen Menschen sehen. „Es hat Jahre gedauert, bis ich in die Wirtschaft gegangen bin.“ Als extrem stressig hat Andreas die Arbeit im Taxibetrieb in Erinnerung. „Es ging ja um die Wurst.“ Um die Schulden, die der Vater gemacht hatte, und die der Rest der Familie abbezahlen musste. Das war die Bedingung für die Scheidung gewesen.

Zwei Tage Großstadtgewusel, das reicht

Trotz ihres Kommunikationsüberdrusses sind die beiden lebhafte Erzähler, offen und direkt wie Kinder. Für Dirks Geschmack verkriecht Andreas sich ein bisschen zu sehr in seiner Festung. „Ich bin nicht gerne weg“, sagt dieser. „Ich sitze gern im Garten.“ Oder buddelt darin. Er genießt es, nicht mehr dauernd reisen zu müssen. Ein Tag Berlin, ein Tag Hamburg, „da freu ich mich am Gewusel“, dann reicht’s auch wieder. Er hat es gehasst, das dauernde Unterwegssein, manchmal drei Lesungen an einem Tag. Jetzt macht er nur noch Premieren und Benefizveranstaltungen. Und Ferien am Edersee.

Der Tisch ist abgeräumt, wir begeben uns auf den Weg in die Kindheit. Fahren den alten huckeligen Schlittenweg hoch, „da unten war die Todeskurve!“ Dort das Haus am Bach, in dem sie die ersten, freien Jahre verbrachten, mitten im Wald. „Das hatte auch was Paradiesisches.“ Die heutigen Bewohner gucken aufs Industriegebiet, McDonald’s.

Karnickel gucken

Andreas Steinhöfel
Andreas Steinhöfel

© Mike Wolff

Schon früher hat Andreas Steinhöfel in Berlin das Heimweh nach der Natur gepackt. Von Bisamratten kann er schwärmen wie andere von einem heißen Club. Für den Schulweg hat er manchmal Stunden gebraucht. Es gab so viel zu gucken! Karnickel, Rehe, Wildschweine, das konnte er „Stunde um Stunde um Stunde“. Deswegen hat er anfangs auch Biologie studiert, dann englische und amerikanische Literatur. Während er schon eigene Bücher schrieb, hat er viel übersetzt. Auch Percy Shelleys Gedicht „Die Wolke“, das Dirk illustriert hat, ein gemeinsames Jugendbuchprojekt. Bei Dirk hat es länger gedauert, bis er machen konnte, was er wollte: Illustrieren. Noch heute bekommt er oft zu hören, dass seine Bilder zu düster seien.

Auf die Frage nach seinen Helden hat Andreas Steinhöfel einmal geantwortet: „Meine beiden Brüder.“ Warum? „Weil sie so Anpacker sind. Und weil ich weiß, was Dirk durchgemacht hat. Aber er jammert nicht.“ Ihre Nähe hat etwas Selbstverständliches, ist getragen vom Respekt gegenüber dem Anderen und seinem Anderssein, im Wissen um ihrer aller Macken.

"Kinder brauchen ein Happy End"

Andreas Steinhöfels Bücher sind wie das richtige Leben, sie muten dem Leser viel zu. Ängste, Depressionen, Einsamkeit, Verlassenheit, Gewalt. Und dennoch ist da immer ein Gefühl von Geborgenheit. Eins hat der Schriftsteller schnell gelernt: „Kinder brauchen ein Happy End.“

"Rico, Oskar und der Diebstahlstein": Der Film läuft gerade im Kino.
"Rico, Oskar und der Diebstahlstein": Der Film läuft gerade im Kino.

© Twentieth Century Fox

An einem Picknicktisch angekommen, dreht Dirk sich eine Zigarette. Andreas hat „vor dreieinhalb Jahren und 20 Kilo weniger“ mit dem Rauchen aufgehört. Der Vater ist an Lungenkrebs gestorben. Andreas, der drei Jahre keinen Kontakt zu ihm hatte, ist ans Sterbebett zurückgekehrt, in der Kindersehnsucht, dass der Vater doch noch etwas sagt, etwas Versöhnendes, Erklärendes, hat ihm die Hand gestreichelt. „Aber da kam nichts.“

Andreas läuft ein paar Schritte durchs Gras. „Das Absurde ist: Alles, was mein Leben, meine Bücher ausmacht, liegt in diesem Unglück begründet.“ Es sind nicht die besten Schüler, die was werden, so seine Erfahrung. „Sondern die, die es abgekriegt haben. Die was beweisen müssen.“

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