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Tausende Flüchtlinge sind schon bei der Flucht über das Mittelmeer umgekommen.

© picture alliance / dpa

Flüchtlingsdebatte: Die Völkerwanderung ist der Normalzustand

„Völkerwanderung“ ist das neue Reizwort. Schon werden Grenzen geschlossen und Zäune gezogen. Doch die Menschheit hat sich noch nie aufhalten lassen

Die Stadt, in der ich geboren wurde, ist nicht mehr die, die sie einmal war. Wie könnte sie auch? Sie ist mehr als 2000 Jahre alt. Gegründet wurde sie von Römern auf germanischem Land, später besiedelt von Franken, sie wurde zweimal von den Wikingern und einmal von den Normannen niedergebrannt, war besetzt von Franzosen, Kanadiern, Briten, noch mal den Franzosen und zuletzt Bundespolitikern. All das hat sie geprägt und verändert. Das ist der Lauf der Welt, egal ob in Berlin, Boston, Bengasi – oder eben Bonn.

Das, was wir Gesellschaft nennen, ist die Summe der Handlungen jener Menschen, aus der sie besteht, ihr natürlicher Aggregatzustand ist der flüssige. Alle großen Philosophen von Heraklit („Panta rhei“) bis Bob Dylan („The Times They Are a-Changin’“) haben das verstanden – im Gegensatz zu den Demonstranten, die dieser Tage vor den Flüchtlingsheimen der Bundesrepublik aufmarschieren, weil sie ihre deutsche Identität bedroht sehen.

Auch dieses Land verändert sich und hat sich immer wieder verändert. Das Deutschland des Jahres 2015 ist nicht das Deutschland des Jahres 800, ist nicht das Deutschland des Jahres 1849, ist nicht das Deutschland des Jahres 1939, ist nicht das Deutschland des Jahres 1989.

Dabei geht es erst mal gar nicht darum, diesen Umstand zu bewerten. Es geht erst mal nur darum, eine historische Konstante anzuerkennen. Die Natur kennt keinen Stillstand. Somit liegt es in der Natur des Menschen, sich zu bewegen, sich zu verändern – und ja, auch zu fliehen, wenn die Lebensumstände lebensbedrohlich werden. Die erste von Historikern als solche bezeichnete Völkerwanderung im späten 4. Jahrhundert wurde befeuert von einem Eroberungsfeldzug der Hunnen gen Westen. Die Gründung des Staates Israel war auch ein Resultat des Holocausts. 1,5 Millionen Iren wurden von Hunger und Hoffnung nach Amerika getrieben. Und mehr als doppelt so viele zogen in den nächsten Jahrzehnten ihren vorausgereisten Familienmitgliedern hinterher.

Ganz sicher ist die Integration dieser Menschen eine große, nicht zu unterschätzende Herausforderung. Wir werden an dieser Herausforderung nicht vorbeikommen. Alles, was wir tun, beinhaltet immer das Risiko des Scheiterns. Aber sollen wir uns deshalb nicht anstrengen?

schreibt NutzerIn herdyanto

Die Parallelen sind deutlich

Die Parallelen sind deutlich. Was wir derzeit erleben, ist eine Völkerwanderung. Aber die Völkerwanderung ist der Normalzustand.

Es ist naiv, zu fordern, eine Gesellschaft dürfe sich nicht ändern. Das ist in etwa so sinnvoll, wie dafür einzutreten, die Schwerkraft gehöre abgeschafft. Es geht schlicht nicht. Trotzdem ist genau das derzeit in Freital und Heidenau wieder so zu hören wie 1992 in Rostock-Lichtenhagen. Der Wandel bedrohe Deutschland. Was soll das heißen? Der Wandel ist die einzige Konstante, die dieses Land kennt.

Das kann man auch als Chance begreifen. Wo stünde Europa ohne die Araber, die Medizin und Mathematik mitbrachten, wo wäre Deutschland ohne die „Gastarbeiter“, die einen großen Anteil zum immensen Wohlstand beitrugen? Jeder Wirtschaftsverband erklärt heute, dass der Fachkräftemangel ohne Zuzug nicht zu beheben ist. Und nur am Rande: Das Christentum, das Europa in den Augen mancher eint, wurde auch nicht in Brüssel erfunden.

Die derzeitigen Wanderbewegungen betreffen Deutschland zwangsläufig. Es gibt kein Recht, von den Problemen der Welt nicht belästigt zu werden, nur weil man pünktlich seine Steuern zahlt und das Glück hatte, in ein reiches Land hineingeboren worden zu sein.

Und nur gesetzt den Fall, Deutschland könnte seine Grenzen wirklich abschotten. Das Ergebnis wäre mitnichten die ewige Ruhe und Stabilität, die den Befürwortern einer solchen Lösung vorschweben mag. Ein Blick auf die demografische Entwicklung beweist das. Binnen weniger Jahre wäre Deutschland trotzdem ein anderes Land – und es ist fraglich, ob es ein besseres wäre: Rentenlücke, Pflegenotstand ...

Diese Welt wird sich verändern, dieses Land wird sich verändern – ob wir wollen oder nicht. Das mag kompliziert sein, anstrengend, fordernd, mitunter schmerzhaft. Aber es ist unvermeidlich.

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