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Proteste gegen TTIP vor dem Reichstag.

© Davids/Florian Boillot

Handelsabkommen zwischen EU und USA: Die Schlacht um TTIP

Die EU und die USA beraten im Geheimen über ein Handelsabkommen. Ziel ist ein gemeinsam geregelter Wirtschaftsraum mit 800 Millionen Verbrauchern. Doch der Protest gegen TTIP wächst – aus guten Gründen.

Es war ein besonderer Tag im Berlaymont, dem markanten kreuzförmigen Hochhaus im Brüssler EU-Viertel, wo die Europäische Kommission residiert. Jean-Claude Juncker, der neue Präsident der Behörde, beging am 9. Dezember seinen 60. Geburtstag. Dazu waren auch rund 150 Aktivisten aus einem Dutzend europäischer Länder angereist, um Juncker eine wichtige Nachricht zu überbringen.

Doch Europas Beamter Nummer eins mochte die Gratulanten nicht empfangen. Er habe „keine Zeit“, ließ er ausrichten und verwies die Besucher an niedere Chargen. Das war womöglich ein Fehler. Denn so verpasste Juncker den persönlichen Kontakt zu Sprechern einer politischen Bewegung, die in diesem Jahr zum stärksten Gegner seiner Behörde aufstieg: Eine stetig wachsende Zahl von Bürgern revoltiert gegen die „transatlantische Handels- und Investitionspartnerschaft“ mit den USA, nach dem englischen Akronym kurz TTIP genannt.

Schon seit anderthalb Jahren verhandeln die Beamten der Kommission im Auftrag der EU-Regierungen mit ihren US-Kollegen, um einen gemeinsam geregelten Wirtschaftsraum mit 800 Millionen Verbrauchern zu schaffen. Doch je mehr über den Inhalt des geplanten Vertrages bekannt wird, umso stärker wird der Protest. So benötigten die Mitglieder der bei Junckers Geburtstag vertretenen 320 Organisationen nur acht Wochen, um mehr als eine Million Unterschriften für eine Petition zu sammeln, die den sofortigen Abbruch der Verhandlungen fordert. Deren Ziel sei es, Sozial-, Umwelt- und Verbraucherschutzstandards zu senken und eine „geheime Paralleljustiz für Konzerne“ zu schaffen, fürchten die Kritiker. Der Vertrag drohe daher „die Demokratie und den Rechtsstaat auszuhöhlen“, heißt es in der Petition. Junckers Beamte nennen die Warnung ein „Horrorszenario“, das auf „Mythen und Unwahrheiten“ beruhe, und wissen sich darin einig mit den meisten EU-Regierungen, auch der deutschen. So bahnt sich ein Machtkampf zwischen Europas Regenten und ihren Bürgern an, wie es ihn noch nie gab.

Das Misstrauen der TTIP-Kritiker haben die Verantwortlichen in Brüssel, Berlin und den übrigen Hauptstädten selbst nach Kräften geschürt. Es begann schon damit, dass sie das „Mandat“, also den angestrebten Inhalt des geplanten Abkommens, ebenso wie alle im Verlauf erhobenen Forderungen und Angebote an die US-Regierung unter Geheimhaltung stellten. Wer wissen will, welche Regeln die EU-Beamten für den transatlantischen Megamarkt aushandeln, ist auf Geheimdokumente angewiesen, die Insider unter der Hand weiterreichen.

Damit hat die Politikwissenschaftlerin Pia Eberhardt inzwischen Erfahrung. Sie arbeitet bei der kleinen Brüsseler Organisation „Corporate Europe Observatory“, einer Art Anti-Lobby, die schon oft aufgedeckt hat, wie private Wirtschaftsvertreter die EU-Gesetzgebung unterwandern. Die 35-jährige Fachfrau für Handelspolitik war denn auch eine der Ersten, die Alarm schlugen, als ein geheimer Entwurf für das Verhandlungsmandat ans Licht kam. Dort war angekündigt, dass Unternehmen aus den USA und der EU bei Investitionen im jeweils anderen Rechtsraum erlaubt werden soll, den Staat vor privaten Schiedsgerichten auf Schadensersatz zu verklagen, wenn gesetzliche Auflagen ihre Gewinne schmälern – ein „räuberisches Rechtsverfahren“, wie Eberhardt warnte.

Ursprünglich diente diese sogenannte „Investor-Staat-Streitschlichtung“ dazu, Investitionen in Entwicklungsländern zu fördern, wo Gerichte nicht zuverlässig arbeiten. Darum ist es Bestandteil von rund 3000 Handelsverträgen. Doch daraus hat sich eine weltweite Klageindustrie spezialisierter Anwaltskanzleien entwickelt. Dabei werden die Verfahren nicht nur ohne Zugang für die Öffentlichkeit geführt. Zudem sind die Richter selbst private Anwälte, die von den Klägern und den Staaten benannt werden. Diese verdienen aber umso mehr, je mehr Klagen es gibt. Entsprechend häufig fallen ihre Urteile zugunsten der Unternehmen und zum Schaden der Steuerzahler aus. Zu allem Überfluss gibt es auch keine Berufungsinstanz. Alle Urteile sind sofort gültig.

In Europa gab es daher seit 1994 auf Basis der Verträge, die einzelne Länder mit den USA und anderen Staaten abgeschlossen haben, schon 127 Klagen ausländischer Investoren gegen 20 Regierungen, zumeist wegen Umweltauflagen. Nur in 14 Fällen wurde der Ausgang der Verfahren bekannt. Und allein diese kosteten die Staatskassen bereits 3,5 Milliarden Euro. „Schon die Drohung mit einer solchen Klage gibt Konzernen die Macht, Gesetzgeber und Behörden unter Druck zu setzen“, warnt Expertin Eberhardt. Deshalb dürfe das auf keinen Fall auch noch auf die USA ausgedehnt werden. Die Furcht vor einer Paralleljustiz für Investoren schlug darum 2014 hohe Wellen. Gewerkschaften, Kommunen, Künstler und Politiker aus allen politischen Lagern bis hin zur Mehrheit der Parlamente in Frankreich, den Niederlanden und Österreich fordern, die Schiedsgerichte nicht mit den USA und Kanada zu vereinbaren. Die EU-Kommission setzte darum im Sommer die Verhandlungen zu diesem Punkt aus, um Kritiker und Gutachter erneut zu konsultieren.

Deregulierung steht auf der Agenda

Proteste gegen TTIP vor dem Reichstag.
Proteste gegen TTIP vor dem Reichstag im September 2014.

© Davids/Florian Boillot

Der Streit um das Klagerecht für Investoren illustriert, dass es keineswegs nur um ein „Freihandelsabkommen“ geht, wie etwa Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel gerne sagt, weil das harmlos klingt. Frei ist der Handel zwischen EU und USA ohnehin. Die Zölle liegen im Schnitt bei unter zwei Prozent. Jeden Tag werden Waren und Dienstleistungen im Wert von zwei Milliarden Dollar über den Atlantik verkauft.

Für zahlreiche Produkte gelten jedoch verschiedene Vorschriften, etwa bei der Herstellung und Kennzeichnung von Nahrungsmitteln, bei der Zulassung von Chemikalien, beim Handel mit Daten oder bei öffentlichen Dienstleistungen für Gesundheit, Verkehr, Energie- und Wasserversorgung. In der Logik der Handelspolitiker sind all das aber Barrieren gegen den grenzenlosen Warenverkehr, also „nichttarifäre Handelshemmnisse“, deren „Abbau durch gegenseitige Anerkennung und bessere Zusammenarbeit zwischen den Regulierungsinstanzen“ erreicht werden soll. So fordert es das Verhandlungsmandat. Das heißt: Deregulierung und die Liberalisierung der Vergabe öffentlicher Aufträge stehen auf der Agenda, nicht einfach nur Freihandel.

Zwar versichert die neu berufene Handelskommissarin Cecilia Malmström, sie werde „niemals ein Abkommen aushandeln, das unsere strikten Standards bei Lebensmittelsicherheit, Gesundheit oder Umweltschutz senken würde“. Doch das ist nur die halbe Wahrheit. Denn die Logik der Verhandlungen erzwingt, quid pro quo den Forderungen der jeweils anderen Seite nachzugeben, um der betroffenen Industrie einen größeren Markt zu verschaffen. Andernfalls hätte das Projekt gar keinen Sinn. Darum beraten sowohl die EU-Kommission als auch die US-Regierung im engen Kontakt mit den Lobbyisten aller Branchen deren Forderung nach Abschaffung all jener Regeln, die ihren Exporten und Investitionen auf der jeweils anderen Seite des Atlantiks im Wege stehen.

Die Lobby mischt mit bei den TTIP-Verhandlungen

Aus den geheimen Verhandlungsdokumenten, die bisher an die Öffentlichkeit gelangten, geht etwa hervor, dass die amerikanische Chemie- und Agrarindustrie darauf drängt, das in der EU geltende Vorsorgeprinzip zu umgehen. Demnach müssen Hersteller beweisen, dass ihre Produkte unschädlich sind. In den USA ist es umgekehrt. Dort müssen die Behörden den Beweis für eine mögliche Schädigung der Verbraucher erbringen, wenn sie ein Produkt nicht zulassen wollen. In der EU wiederum wünscht sich die Finanzindustrie eine Anpassung der amerikanischen Bankenregeln an das laxere europäische Niveau – eine Forderung, die sich die EU-Kommission prompt zu eigen machte. Der Lobbyverband der britischen Finanzbranche „The CityUK“ frohlockte, der Vorschlag der Kommission sei „so nahe“ an ihren eigenen, „als käme er direkt aus unserer TTIP-Broschüre“.

Ob es am Ende tatsächlich so kommt oder das Abkommen gar scheitert, ist offen. Die Verhandlungen werden mindestens bis Ende 2015 dauern. Nur gibt Kommissarin Malmström eben keine Auskunft zu ihren konkreten Angeboten und Forderungen. Das macht ihr Versprechen, TTIP bringe den „Menschen in ganz Europa Gutes“, etwas vage. Glaubwürdigkeit ist den EU-Handelsstrategen aber offenbar nicht wichtig. So ließ Malmströms bis November amtierender Vorgänger Karel de Gucht die Behauptung verbreiten, das Abkommen sei ein „kostenloses Konjunkturprogramm“ und werde „ein jährliches Zusatzeinkommen von 545 Euro für den durchschnittlichen EU-Haushalt“ schaffen. Das erwies sich jedoch als pure Propaganda.

Kein messbarer Nutzen für die Volkswirtschaft

Proteste gegen TTIP vor dem Reichstag.
Proteste gegen TTIP vor dem Reichstag im September 2014.

© Davids/Florian Boillot

De Gucht stützte seine Behauptung auf eine Studie, die seine Beamten bei der britischen Denkfabrik CEPR in Auftrag gegeben hatten. Die dortigen Ökonomen kalkulierten zwar tatsächlich, dass bei Beseitigung der meisten „Handelshemmnisse“ die Wirtschaftsleistung der EU um 120 Milliarden Euro jährlich zulegen könnte, entsprechend den 545 Euro für jeden Haushalt, von denen de Gucht schwärmte. Diese Summe bezog sich jedoch auf einen Zeitraum von zehn Jahren, also einen Zuwachs von weniger als 0,05 Prozent pro Jahr, der statistisch gar nicht messbar wäre. Unter Berufung auf die gleiche Quelle behauptet die Kommission noch heute auf ihrer Website, das Abkommen könnte „Unternehmen Ersparnisse in Millionenhöhe bescheren und hunderttausende neue Arbeitsplätze kreieren“. Auch das ist frei erfunden. Die zitierte Studie macht dazu gar keine Aussage, denn sie beruht auf einem Rechenmodell, in dem angenommen wird, dass ohnehin Vollbeschäftigung herrscht.

TTIP wird also selbst nach Auffassung der Auftragsgutachter keinerlei messbaren Nutzen für die europäische Volkswirtschaft als Ganzes erzeugen, sondern lediglich für einzelne Branchen, während andere Wirtschaftszweige Verluste erleiden. Weil dabei zwangsläufig auch Jobs verloren gehen, erwarten die Autoren einer Studie der amerikanischen Tufts University in Boston sogar gesamtwirtschaftliche Verluste.

Umso erstaunlicher ist, dass Europas regierende Wirtschaftspolitiker diesen Umstand nicht zur Kenntnis nehmen. Das dokumentierten die Vizeminister und Staatssekretäre für Wirtschaft, als sie sich zum „Rat für Außenbeziehungen“ am 23. November in Brüssel trafen. Da erklärte Kommissarin Malmström erneut unwidersprochen und ohne Beleg, TTIP „schaffe Wachstum und Beschäftigung“, wie das deutsche Protokoll als „Verschlusssache – nur für den Dienstgebrauch“ festhält. Nur „müssten die politischen Akteure auf allen Ebenen daran arbeiten, die Einstellung der Bevölkerung zu TTIP zu verbessern“.

Das sah Deutschlands Wirtschaftsstaatssekretär Matthias Machnig genauso. Die Einwände gegen die Schiedsgerichte oder den US-Druck auf Europas Lebensmittelregulierung waren ihm kein Wort wert. „Hinter der Kritik an TTIP“, so befand Machnig, „stünden Vorurteile“, heißt es im Protokoll. Anstatt sich mit „technischen Einzelfragen“ zu befassen, solle man besser „eine grundlegende Diskussion über den Freihandel führen“. Dazu solle die Kommission eine „Studie vorlegen, die die ökonomische Bedeutung von Freihandel hervorhebt“, schlug Machnig vor und fand „breite Unterstützung“. Lediglich der Vertreter der spanischen Regierung „merkte an, dass es Gruppen gebe, die nicht mit Argumenten zu überzeugen seien“, vermerkte der Protokollant. Hier müsse man bereit sein, „eine politische Schlacht auszutragen.“ Seit 9. Dezember haben erneut 65 000 EU-Bürger die Initiative „Stopp TTIP“ unterzeichnet. Die Schlacht hat begonnen.

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