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Marina Abramovic

© (c) Paola + Murray

Interview mit Marina Abramovic: "Mit 70 muss man den Bullshit reduzieren"

Marina Abramovic ist die weltweit bekannteste Performance-Künstlerin. Hier erzählt sie von unerträglicher Stille, Lust auf schlechte Schokolade – und warum sie nie Kinder wollte.

Seit mehr als 40 Jahren macht die Künstlerin mit extremen Performances auf sich aufmerksam. Die dafür nötige Disziplin und Selbstbeherrschung bläuten ihr die Eltern, hochrangige Partisanen und stramme Kommunisten, ein. Mit ihrer Retrospektive "The Artist is Present" im New Yorker Museum of Modern Art wurde die gebürtige Belgraderin 2010 zum Star wurde. Dabei saß sie jeden Tag still auf einem Stuhl, jeder konnte sich ihr gegenüber setzen und in die Augen schauen. Viele brachen dabei in Tränen aus. Im Luchterhand Verlag erscheint am 14. November ihre Autobiographie: "Durch Mauern gehen" (28 Euro).

Frau Abramovic, in diesem Jahr werden Sie 70. Ein Grund zum Feiern?

Und wie! Weil in Amerika ja niemand übers Alter spricht. Ich werde eine Riesenparty geben, mit 300 Gästen, im Guggenheim. Vielleicht mache ich einen Pole Dance – mal sehen, ob ich eine Stange von ganz oben im Museum runtertanzen kann. Ich übe noch. Mir liegt sehr an einem langen Leben. Ich will 100 werden.

Und, wie stehen die Chancen?

Ganz gut. Meine Großmutter wurde 103, meine Urgroßmutter 116. In Brasilien habe ich eine 120-Jährige getroffen, eine großartige Frau, und sie gefragt: Was ist das Wichtigste im Leben? Ihre Antwort: Wie man reinkommt und wie man rausgeht. Gut zu wissen, sagte ich ihr.

Haben Sie Angst, dass Ihnen die Zeit wegrennt?

Im vergangenen Jahr überfiel mich fast jeden Tag diese unglaubliche Furcht, nicht genug Zeit zu haben, um fertigzukriegen, was ich noch fertigkriegen will. Weil ich gearbeitet habe wie verrückt, war mein Blutdruck so hoch, dass ich dachte, ich bekomme einen Schlaganfall. Dann bin ich nach Indien gefahren, in ein Retreat: ein Monat in einem Gefängnis, das sich Sanatorium nennt. Man kann nicht weg, sie geben einem nur ganz wenig zu essen, man ist permanent hungrig. Ich war über Weihnachten dort, aber Weihnachten – gab’s nicht. Nur Atemübungen. Großartig! Ich habe schon die nächste Kur gebucht, zur gleichen Zeit. Wenn man 70 wird, muss man sich darüber im Klaren sein, dass man dem Tod jeden Tag ein Stück näher rückt. Darum muss man auch den Bullshit reduzieren.

Zum Beispiel?

Blöde Einladungen absagen. Wir kriegen ja jeden Tag Hunderte von Mails.

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Ihre Beerdigung haben Sie schon geplant: eine Leiche, aber drei Särge und drei Bestattungen, in Belgrad, Amsterdam, New York. Fahren Sie denn überhaupt noch je in Ihre Heimatstadt Belgrad?

Nein. Seit meine Eltern tot sind, bin ich durch damit. Es ist nicht das Land, das ich kenne. Ich fühle mich nicht serbisch, montenegrisch, ich bin Exjugoslawin. Ich komme aus einem Land, das es nicht mehr gibt.

Als Kind, mit fünf, sechs, haben Sie ein Jahr im Krankenhaus gelegen.

Mit meinem Blut stimmte was nicht. Sie dachten, dass ich Hämophilie habe, aber es war dann eine andere Krankheit, wo man sehr, sehr lange blutet. Als ich meine Periode bekam, hörte das auf.

Warum ein ganzes Jahr?

Weil das Jugoslawien war. Für mich eine super Zeit, alle haben mir Geschenke mitgebracht und waren nett zu mir. Zu Hause war es schlimm, meine Mutter hat mich oft geschlagen, ich hatte überall blaue Flecken. Sie hat mir auch die Haare abgeschnitten, als ich klein war, …

… die Sie noch heute lang tragen…

… um mir die Power zu nehmen. Und anschließend hat sie sie verbrannt. Aber das sollte ich Ihnen gar nicht erzählen, mein Verleger hat mir gesagt, ich darf keine Geschichten mehr aus der Kindheit erzählen, bevor meine Autobiografie im Herbst rauskommt, das musste ich ihm versprechen.

Warum sind Sie denn dann bei Ihrer Mutter wohnen geblieben, bis Sie fast 30 waren?

Weil es im Kommunismus keine Wohnungen gab. Ich habe damals als Künstlerin alle möglichen Jobs übernommen, bei der Post, habe Böden gestrichen, Geschirr gewaschen. Zu Hause zu leben war am billigsten. Es war üblich, dass drei Generationen zusammen wohnen.

Ich kann keine Gemälde schicken, darum schicke ich mich selbst

Marina Abramovic vor Bildern ihrer Performance "Art must be beautiful".
Marina Abramovic vor Bildern ihrer Performance "Art must be beautiful".

© Jorge Zapata/ picture alliance / dpa

Nach Ihrem Auszug wurden Sie zur Nomadin.

Nachdem ich mit Ende 20 Ulay getroffen hatte…

… den aus Deutschland stammenden Künstler, mit dem Sie die nächsten 13 Jahre zusammen Performances machten…

… haben wir fünf Jahre lang im Auto gelebt. Wir sind in die Wüste gefahren, auch zu den Aborigines gereist, nach Indien.

Bis heute sind Sie nonstop unterwegs, in Brasilien, Argentinien, London, China. Reisen Sie so gerne?

Die Frage stellt sich mir gar nicht. Weil ich die Arbeit bin. Ich kann keine Gemälde schicken, also schicke ich mich selbst. Als ich in Jugoslawien lebte, habe ich davon geträumt, rauszukommen, die Welt zu sehen. Wenn hier jetzt ein Raumschiff stünde, das in eine andere Galaxie fliegt – ich würde sofort einsteigen. Ich bin so neugierig! Im letzten Jahr war ich, glaube ich, nicht mehr als 20 Tage in New York. Am Flughafen muss ich manchmal überlegen: Wo kommt mein Koffer jetzt her? Ich weiß nicht, ob ich noch anders leben könnte. Außerdem habe ich keinen Mann, keine Familie, bin völlig frei.

Wollten Sie nie Kinder haben?

Nein. Nie. Ich habe drei Mal abgetrieben, weil ich überzeugt war, dass es ein Desaster für meine Arbeit wäre. Man hat nur so und so viel Energie in seinem Körper, und die hätte ich teilen müssen. Das ist meiner Ansicht nach der Grund, warum Frauen in der Kunstwelt nicht so erfolgreich sind wie Männer. Es gibt jede Menge talentierter Frauen. Warum übernehmen die Männer die wichtigen Positionen? Ganz einfach: Liebe, Familie, Kinder – all das will eine Frau nicht opfern.

Sie waren in jungen Jahren schon so entschlossen?

Ja. Insbesondere, weil ich selber eine so schreckliche Kindheit hatte. Ich wollte nicht Mutter sein, auf keinen Fall. Meine Studenten sind meine Kinder. Ich glaube ans Unterrichten, ich liebe es.

Mit Ihrer Retrospektive im MoMA 2010 hat sich Ihr Leben komplett verändert.

Als ich in den 70er Jahren mit Performances anfing, dachten wir bei 30 Zuschauern, wow, das ist echt ’ne Menge. 200, 250 – mein Gott, unglaublich! Und ins MoMA kamen 750 000! Mein Publikum hat sich radikal geändert. Es ist nicht mehr unbedingt ein Kunstpublikum, es sind Bauern, Hausfrauen, Kinder, Politiker, Leute mit allen möglichen Berufen. Das Publikum ist zu meiner Arbeit geworden. Ich stelle mich nicht vorne hin und performe etwas, sondern gebe den Leuten die Instrumente an die Hand, dass sie das selbst tun.

Und wie soll das funktionieren?

Wie ein gut organisiertes Konzert. Normalerweise kommen die Leute, gucken sich etwas an, gehen wieder. Aber im 21. Jahrhundert haben sie keine Lust mehr, sich Sachen anzugucken, sie wollen Teil von etwas sein, eine Erfahrung machen. Eine Verbindung zu anderen Menschen spüren.

Zeit spielt eine zentrale Rolle in Ihrer Arbeit. Haben Sie bei den Auftritten nicht das Gefühl, dass sie ganz langsam vergeht?

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In dem Moment, in dem du bei einer Performance denkst: Wie lang muss ich noch, hast du verloren. Dann ist deine Konzentration weg. Und das spüren die Zuschauer sofort, die sind wie Hunde: Sie schnuppern Angst, sie schnuppern Zweifel.

Bei Ihren Aktionen sind Sie immer wieder bis an die Grenzen gegangen, haben sich von Ihrem Publikum malträtieren lassen, haben sich selbst geschlagen, fast die Haare ausgerissen.

Das ist der Unterschied zwischen Theater und Performance: Im Theater ist das Blut Ketchup, bei der Performance ist es echt.

Sie leben in New York, in einer Stadt von atemberaubendem Tempo – aber bei Ihrer Ausstellung im MoMA saßen Sie den ganzen Tag lang still.

Das war das Schwerste, was ich je gemacht habe, darauf habe ich mich ein Jahr lang vorbereitet. Die Leute verstehen ja nicht, was das bedeutet, sich drei Monate lang nicht zu rühren. Das ist die Hölle. Ich musste vorher meinen gesamten Stoffwechsel umstellen. Also: nur noch abends Wasser trinken, um tagsüber nicht aufs Klo zu müssen, kein Mittagessen, nur ein sehr frühes Frühstück, und beim vegetarischen Abendessen ging es ausschließlich um Nährstoffe. An all das musste ich meinen Körper gewöhnen. Und ich war 62, das war echt hart.

Für Ihre Kunst fasten Sie auch?

Ja, regelmäßig, das ist mein Hausputz. Unser Zuhause machen wir dauernd sauber, unseren Körper nicht. Dabei ist er das wirklich wichtige Zuhause. Fünf, sechs Tage lang trinke ich nur Wasser, esse nicht, schreibe nichts, mache nichts.

Sie wirken 20 Jahre jünger, als Sie sind. Dabei haben Sie Ihrem Körper viel Gewalt angetan.

Mein Arzt sagt, dass mein Blut, selbst meine Innereien viel jünger sind. Ich glaube, das liegt daran, dass ich das Leben so liebe, Menschen liebe. Meine Mutter war eine total aktive Frau. Mit 62 ist sie in Rente gegangen und später einen schrecklichen Tod gestorben: mit 86, totale Demenz. Sie war von völliger Aktivität auf Null gegangen. Ich werde bei der Arbeit sterben, nicht, während ich vor dem dämlichen Fernseher sitze. Das ist es, was die Leute umbringt, die Rente.

Die Neugier als Jungbrunnen?

Der einzige Mensch, den ich kenne, der noch verrückter war als ich und den ich aus ganzem Herzen bewundere, ist Susan Sontag. Sie war unglaublich, ging in die abgefahrensten Bars, fuhr nach New Jersey, um sich irgendeine Punkband anzuhören. Sie wusste genau, was in der Welt vor sich geht. Ich gehe nachts nicht aus, ich liebe den Morgen.

Es heißt, Sie trinken nicht mal Alkohol?

Nie. Ich mag den Geschmack und Geruch nicht. Mein Problem ist Schokolade, nicht Alkohol. Keine gute Schokolade, sondern schlechte, mit ganz viel Zucker und Kakaobutter und allem.

"Die Kids hatten noch nie echte Stille erlebt"

Marina Abramovic vor dem Gemälde "Le Reveil".
Marina Abramovic vor dem Gemälde "Le Reveil".

© Georgios Kefalas/picture alliance/dpa

Sie sind streng zu sich – was verlangen Sie bei Ihren Ausstellungen vom Publikum?

Wer kommt, muss als Erstes sein Telefon abgeben, seinen Computer, seine Uhr, alles. Dann setzen die Leute sich Kopfhörer auf, die alle Geräusche ausblenden. Das ist der Moment des Übergangs: vom Zuschauer zum Teilnehmer.

Computer weg, Smartphone weg – für viele Leute ist das bestimmt wie kalter Entzug.

Ich habe junge Japaner erlebt, die haben ihre Kopfhörer aufgesetzt, gelauscht – und gesagt: Die funktionieren nicht, man hört gar nichts! Daraufhin habe ich ihnen erklärt, genau, das soll so sein, es geht um Stille. Die sind durchgedreht! Haben ihre Freunde angeschleppt, die ihre Freunde geholt haben... Diese Kids hatten noch nie echte Stille erlebt. Irgendwo war immer Musik oder irgendwas. Mein Publikum ist ja sehr jung, meist Mitte 20. Dann machen sie ganz einfache Sachen – stehen, sitzen, liegen. Anschließend geht es daran, Linsen und Reiskörner zu zählen. Total interessant: Weil, so wie du Reiskörner und Linsen zählst und sortierst, gehst du mit deinem Leben um. Jeder macht das anders. Das dauert Stunden.

Wie bitte – wie man Reiskörner zählt, so lebt man?

Man fängt amüsiert an. Dann ist man total frustriert, weil man nicht fertig wird. Danach wird man wütend. Man verliert die Konzentration, der Kopf spielt verrückt. Aber wenn man all diese Stadien durchlaufen hat, fängt man irgendwann an, regelmäßig zu atmen, der Geist stabilisiert sich, man bekommt Ergebnisse. Wenn du es schaffst, Linsen und Reiskörner zu zählen, wirst du auch das Leben meistern. Denn das ist es, worum es geht: Disziplin, Selbstkontrolle, Konzentration.

Die Kunstwelt wirft Ihnen vor, was Sie machen, sei keine Kunst mehr, sondern New Age.

New Age interessiert mich nicht, ich weiß nicht mal, was das ist. Was mich interessiert, ist das Bewusstsein, wie Menschen sich verändern.

Sie werden auch wegen Ihrer Nähe zur Modewelt angegriffen.

Seit sieben Jahren habe ich mir kein einziges Kleidungsstück mehr gekauft – ich bekomme alles geschenkt! Früher hatte ich nie das Geld für solche Sachen. Und jetzt soll ich das nicht tragen? Entschuldigung. Alles, was Sie hier sehen, was ich an mir habe, haben mir andere gegeben. Das heißt, stimmt nicht, die Gummistiefel hab ich selbst gekauft, die braucht man in New York.

Leben Sie gerne hier?

Die Energie ist unglaublich. Du musst in New York sein und du musst die Stadt verlassen, zurückkommen und wieder gehen, sonst frisst sie dich auf. Wissen Sie, dass die ganze Stadt auf Granit gebaut ist? Da versickert nichts. Du wachst morgens auf und arbeitest wie verrückt und am nächsten Tag fängt alles wieder von vorne an. Es hört nie auf. Alle befinden sich in diesem Rausch.

Der kann auch tödlich sein.

Sterben will ich nicht in New York! Wenn ich alles satthabe und müde bin, werde ich in ein Kloster nach Indien gehen. Du gibst ihnen Geld, und sie kümmern sich um dich. Da haben sie wunderschöne Katzenbären, ich bin verrückt nach denen. So wie nach Koalas. Sie machen einen glücklich am Morgen. Aber nicht hier sterben, wie die – wie nennt man die? – „alten Leute“. Wenn du hier alt bist, das ist so, als wärst du schmutzig.

Sie zwingen Ihrem Publikum Stille auf. Was bedeutet die für Sie selbst?

Für mich geht es nicht um die räumliche Stille um mich herum, sondern die Stille des Geistes. Wenn man es schafft, diesen Denkraum zu betreten, das ist echte Stille. Die wunderbaren Tibetaner haben ein Wort dafür, sie nennen es Sosein. Es bedeutet Leere, doch voller Bedeutung. Keine leere Leere. Wenn man diese geistige Stille erreicht hat, welche einem die Möglichkeit gibt, die Bedeutung des Lebens zu verstehen. Das ist für mich Stille. Aber es ist nicht einfach, da hinzukommen.

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