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Glück auf! Twardoch vor dem Schlesischen Museum in Katowice.

© Thomas Baron

Polnischer Autor Szczepan Twardoch: Daheim im oberschlesischen Revier

Szczepan Twardoch ist der junge Star der polnischen Literatur – und fest verwurzelt in der Gegend um Katowice. Unseren Autor hat er mit auf eine Rundfahrt genommen.

Draußen ziehen Gebäude aus dem 19. Jahrhundert vorbei, die Fassaden schwarz vom Ruß, dann Plattenbauten, dann wieder Einfamilienhäuschen, frisch verputzt; am Wegesrand wuchert das Gras. Unter einer Eisenbahnbrücke hat jemand „Ruch“ an die Wand gesprayt, den Namen des lokalen Fußballclubs. Verwaiste Bushaltestellen sind zu sehen, Discounter, Kleingärten – und am Horizont: Fördertürme und Fabrikschlote.

Szczepan Twardoch sitzt am Steuer seines brandneuen Mercedes und gleitet durch die spröde Stadtlandschaft Oberschlesiens, als habe er nicht viel mit ihr zu tun. Kein Geräusch dringt in den klimatisierten Wagen, nur die weibliche Stimme des Navigationssystems ist zu hören, wenn sie leise auf Polnisch den Weg souffliert. Twardoch selbst könnte genauso gut in Südfrankreich unterwegs zum Strand sein. Er trägt Sonnenbrille, cremefarbene Hosen und Adidas-Sneaker.

Sein Roman "Morphin" war ein großer Erfolg

Der 36-Jährige ist der junge Star der polnischen Literatur. Sein Roman „Morphin“ – die Geschichte eines drogensüchtigen Widerstandskämpfers im von der Wehrmacht besetzten Warschau – war auch in Deutschland ein großer Erfolg, bei Kritikern wie bei Lesern. Twardoch eilt der Ruf eines Dandys voraus, der Wein liebt und sich gern mal für Lifestyle-Magazine fotografieren lässt.

Trotzdem hat er die bodenständige Bergbau-Region, aus der er stammt, bis heute nicht verlassen. Mit seinem jüngsten Roman „Drach“ (Rowohlt), hat er Oberschlesien und seiner schwierigen Geschichte – vor 1921 als Teil Deutschlands, dann geteilt, seit 1945 als polnische Provinz – nun ein literarisches Denkmal gesetzt.

Was hält ihn dort?

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Twardoch war sofort bereit, sein Schlesien zu zeigen. Die Autotour soll von Katowice, Hauptstadt der Region, bis in sein Heimatdorf Pilchowice führen. 50 Kilometer, einmal quer durch das oberschlesische Revier, wo sich ein Ort an den nächsten reiht. Mit mehr als drei Millionen Einwohnern handelt es sich um das größte Ballungsgebiet Polens.

„Ich habe praktisch immer in Pilchowice gelebt“, erzählt Twardoch in makellosem Englisch. „Selbst, als ich in Katowice Philosophie und Soziologie studierte. Damals wohnte ich noch bei meinen Eltern, meine Mutter kochte für mich. Ich fand das bequemer als im Wohnheim.“ Er grinst. „Ich weiß, ich sollte mich dafür schämen. Aber ich tu’s nicht.“

Nikischschacht war eine Mustersiedlung für Bergarbeiter

Dann klingelt das Telefon des Schriftstellers, es ist sein Vater. Die zwei Söhne, neun und sechs Jahre alt, die Twardoch, bevor er losfuhr, schnell zu Fuß auf den zwei Kilometer langen Weg zu ihrem Opa geschickt hatte, sind heil angekommen. Die Tour kann also beginnen – und zwar in Nikiszowiec, zu deutsch: Nickischschacht, eine Mustersiedlung für Bergarbeiter vor den Toren von Katowice. Sie wurde Anfang des 20. Jahrhunderts errichtet.

Man kann hier erahnen, wovon in Oberschlesien oft die Rede ist: den Strukturwandel, weg von Steinkohle und Schwerindustrie, hin zu mehr Kunst und Kultur. „Die Siedlung wird immer beliebter bei Familien und Hipstern“, erzählt Twardoch, während er an den Häuserzeilen aus rotem Ziegelstein vorbeispaziert. „Ich habe schon überlegt, ob ich hier eine Wohnung kaufe, zum Schreiben und als Geldanlage.“ In Nikiszowiec gibt es mit „Szyb Wilson“ eine Galerie für junge Kunst und eine Handvoll cooler Cafés, wie das, in dem Twardoch jetzt eine Art regionale Bionade zum Mitnehmen kauft. Auf den Tischen liegen gehäkelte Deckchen, Reminiszenz an die heimische Kultur der Kumpel, von denen noch genug in der Nachbarschaft wohnen, um der Siedlung authentischen Charme zu verleihen.

Die Jugendstil- und Gründerzeitbauten sind oft saniert

Architektur-Ikonen: Die Veranstaltungshalle "Untertasse" (rechts) und die "Supereinheit" (links).
Architektur-Ikonen: Die Veranstaltungshalle "Untertasse" (rechts) und die "Supereinheit" (links).

© Björn Rosen

Oberschlesien hat derzeit große Anziehungskraft auf junge Kreative aus anderen Teilen des Landes, die Gegend gilt als relativ unentdeckt und daher als abenteuerlich. Das war nicht immer so. In den 80ern gehörte Katowice zu den meistverschmutzten Städten Europas. Für damalige polnische Verhältnisse konnte man in der Gegend recht gut Geld verdienen, doch die Lebensqualität war gering. Sogar als Twardoch hier studierte, „war es noch düster“. Die Luft ist heute besser (was auch daran liegen mag, dass manche Fabrik dichtmachen musste), und Katowice hat sich, wie viele Orte in Polen, herausgemacht. Die Jugendstil- und Gründerzeitbauten im Zentrum sind oft saniert.

Twardoch dreht mit dem Auto eine Runde entlang der Architektur-Ikonen aus kommunistischer Zeit. Der gigantische Plattenbau Superjednostka („Supereinheit“), dessen Entwurf an Le Corbusiers Wohnmaschine angelehnt ist, wurde Ende der 60er Jahre mit fast 800 Apartments für 2800 Bewohner errichtet. Gegenüber steht die Veranstaltungshalle Spodek („Untertasse“), die die Form eines Ufos hat. Daneben hat die Stadt zwei neue Renommierobjekte setzen lassen: ein Kongresszentrum und die Konzerthalle des nationalen Rundfunkorchesters. Ein paar hundert Meter weiter befinden sich die Reste jenes Bergwerks, ohne das es Katowice in heutiger Form gar nicht gäbe.

Die Anlage erinnert an Zeche Zollverein in Essen

Bis zum 19. Jahrhundert war Kattowitz, wie es damals als Teil Preußens hieß, bloß ein Dorf. Erst Bergbau und Eisenbahn ließen den Ort zur Großstadt mit aktuell 300 000 Einwohnern wachsen. Das Bergwerk mit seinem weithin sichtbaren Förderturm ist nun Heimat eines exzellenten Restaurants und des Schlesischen Museums, dessen Räume sich hauptsächlich unter der Erde befinden. Die 2014 fertiggestellte Anlage erinnert an den Museumskomplex Zeche Zollverein in Essen.

Überhaupt, das Ruhrgebiet! Twardoch war schon dort und fühlte sich wie zu Hause: die Industrie, die ineinander übergehenden Städte, der Klinkerstein. „In Essen habe ich vom Förderturm auf die Umgebung geschaut und mir gedacht: Das ist ja genau die gleiche Scheiße!“ Er lacht. Was immer es ist, das ihn in Schlesien hält, zu Sentimentalitäten neigt er offenbar nicht. Obwohl: Die Bergbau-Tradition macht ihn schon stolz („die Proteste der Kumpel in Warschau sind gefürchtet“), immerhin reicht sie auch in seiner Familie Generationen zurück, der Vater war der Erste, der nicht unter Tage schuftete.

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Dann wird Twardoch ein bisschen wütend. Schuld ist die historische Ausstellung im Schlesischen Museum. „Die übliche nationalistische Erzählung. Als hätte die ganze oberschlesische Geschichte immer nur ein Ziel gehabt: die Vereinigung mit Polen.“ Es ist sein großes Thema. In „Drach“ erzählt er am Beispiel einer weitverzweigten Familie und ihrer Geschichte im 20. Jahrhundert von der eigenen oberschlesischen Identität. Die Gegend gehörte lange zum Habsburgerreich, stand unter tschechischem Einfluss, wurde von Friedrich II. erobert und schließlich Teil des Deutschen Kaiserreichs. Nach dem Ersten Weltkrieg und einer Volksabstimmung schlugen die Siegermächte ein Gebiet um Katowice dem wieder entstandenen polnischen Staat zu. Dabei hatten sich auch viele polnischsprachige Katholiken in der Region eher als Untertanen des Kaisers in Berlin oder gleich des Papstes begriffen. Die Situation war unübersichtlicher als in Niederschlesien, der Gegend um Breslau, die kulturell klar deutsch geprägt war.

Die meisten, die als Deutsche verstanden, wanderten aus

Während der Nazizeit zerriss die Frage, auf welcher Seite man stand, ganze Familien. Wer sich für die polnische entschied, musste leiden, und wer für die deutsche, dem war Rache bei Kriegsende gewiss. Nach 1945, als Oberschlesien komplett an die Volksrepublik Polen fiel, wanderten die meisten, die sich als Deutsche verstanden, nach und nach aus. Zu den bekanntesten Fällen gehören die Fußballer Lukas Podolski, geboren in Gliwice, und Miroslav Klose aus Opole. Mehrheitlich geblieben sind jene, die sich nicht so sehr als Polen, jedoch auch oder ausschließlich als Schlesier begreifen. Laut dem Zensus von 2011 sind das 847 000 Menschen. Für viele von ihnen ist „Drach“, in Polen schon 2014 erschienen, ein Kultbuch.

Die Sprache: viel deutsches Vokabular, aber mit slawischer Grammatik

Der neue Hauptbahnhof von Katowice.
Der neue Hauptbahnhof von Katowice.

© Björn Rosen

Einzelne Passagen hat Twardoch in Oberschlesisch verfasst. „Ich habe die Sprache von meinen Großeltern gelernt. Die Eltern sprachen Polnisch mit uns Kindern, sie wollten uns Ärger ersparen. Unter den Kommunisten durfte Schlesisch nicht benutzt werden.“ Aus Sicht der meisten Polen handelt es sich bloß um einen markanten Dialekt. „Es gibt tschechische Einflüsse und deutsches Vokabular, aber mit slawischer Grammatik.“ Geburtstag heißt gyburtstag, heizen hajcowac und Vater foter.

Szczepan Twardoch steuert seinen Wagen nun Richtung Norden, wo Katowice kaum merklich zur Nachbargemeinde Chorzów wird. In einer Nebenstraße der zentralen Einkaufsmeile zeigt er ein Geschäft. Im Schaufenster hängen Fahnen in Gold und Blau, den Farben Schlesiens. Auf einem T-Shirt steht „Nur Oberschlesien“, und ein Plakat kündigt den nächsten „marsz autonomii“ in Katowice an, eine Demo für Autonomie, nach dem Vorbild etwa Südtirols. Die Chancen, dieses Ziel zu erreichen, dürften unter der gegenwärtigen nationalkonservativen Regierung in Warschau so gering sein wie lange nicht. Amüsiert erzählt Twardoch von den Gegendemonstranten, die zuverlässig auftauchen werden. „Ältere Damen, die ,Radio Maryja‘ hören, den national-katholischen Sender. Die schimpfen: Volksdeutsche, hitlerowcy!“ Wird er den marsz unterstützen? „Ich geh’ nicht auf Demos“, sagt er, „aber ich sympathisiere mit den Leuten.“

Ganz Bytom ist wortwörtlich im Niedergang begriffen

Dann weiter nach Bytom, durch das verwahrloste Bobrek, „wo man besser nicht aussteigt“. Vor den tiefschwarzen Fassaden des Viertels schaukelt die zum Trocknen nach draußen gehängte Wäsche im Wind. Hier wohnen Leute, die nach dem Niedergang der örtlichen Industrie arbeits- und perspektivlos sind. „Irgendwie überleben sie.“ Die Gegend wird hügeliger, es geht hinauf und hinab; im Untergrund verliefen einst Stollen. Ganz Bytom, eine Stadt mit langer Geschichte, ist wortwörtlich im Niedergang begriffen. Der Boden sackt plötzlich ab, Häuser stehen schief oder brechen zusammen.

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Mittlerweile hat Twardoch Gliwice erreicht, das frühere Gleiwitz. Hier begann 1939 der Zweite Weltkrieg, als die Nazis einen polnischen Überfall auf den örtlichen Sendeturm fingierten. Gliwice ist eine erkennbar wohlhabende Stadt, es gibt ein Opel-Werk und prächtige Häuser, in denen früher preußische Offiziere lebten. „Der mittelalterliche Stadtkern wurde im Krieg zerstört, man hat alles wieder aufgebaut und die Architektur dabei ,polonisiert‘“, sagt Twardoch und kommt nochmal auf seine Familie zu sprechen. Die Ähnlichkeiten zu der in „Drach“ sind unübersehbar. „Ich musste mir nichts ausdenken.“ Seit seiner Kindheit traf man sich sonntags zum Essen, immer wieder bekam er die gleichen Geschichten über die Verwandtschaft zu hören – und andere nie. „Dass mein Großvater in der Wehrmacht war, habe ich erst mit 20 erfahren.“

Hinterm Wald liegt die Grenze zu Tschechien

Die Landschaft wird nun grüner, ländlicher. Twardoch fährt entlang der Linie, die Oberschlesien 1921 teilte, „links Polen, rechts Deutschland“. Pilchowice. Sein Haus steht ganz am Ende des Ortes. Ein schlichtes, elegantes Gebäude aus Holz, entworfen von seiner Frau, einer Architektin. Twardoch serviert Schnaps, den sein Vater hergestellt hat, und blickt durchs Panoramafenster. Hinter dem Feld beginnt der Wald, hinterm Wald die Grenze und hinter der Grenze der kleine, in Tschechien gelegene Teil Oberschlesiens. Einer wie Twardoch könnte überall leben: Er hat eine Wohnung in Warschau, liebt Berlin, war mehrmals mit der Transsib unterwegs. Aber nur hier kennt er jeden Weg, jedes Gebäude, jede Geschichte.

Szczepan Twardoch breitet jetzt eine Oberschlesien-Karte aus, in die er mit schwarzem Filzstift das Gebiet eingekreist hat, das für ihn Heimat bedeutet. Der See, auf dem er segeln lernte, gehört dazu, Gliwice, wo seine Schwester wohnt... Ein Netz, gewoben aus Erinnerungen, Familienbande und Historie. Twardoch formuliert es lieber als Gag: „Das ist die Gegend, in der ich kein GPS brauche.“

Tipps für Oberschlesien

Straßenszene in Katowice.
Straßenszene in Katowice.

© Björn Rosen

TIPPS FÜR OBERSCHLESIEN

Mehr Infos gibt es beim Polnischen Fremdenverkehrsamt, Hohenzollerndamm 151, 14199 Berlin.

Von Berlin aus kommt man nach Katowice am einfachsten mit Polski Bus.

Empfehlenswerte Unterkunft in Katowice: Hotel "angelo by Vienna House", Sokolska 24, Tel. +48 32 783 81 00.

Das Schlesische Museum hat täglich außer montags von 10 bis 20 Uhr geöffnet: Dobrowolskiego 1, Tel. +48 32 213 08 11.

Wer Musik mag, sollte das neue Konzerthaus fürs Nationale Rundfunkorchester NOSPR nicht verpassen: plac Wojciecha Kilara 1, Tel. +48 32 732 53 00.

Von Szczepan Twardoch empfohlen: Das Moodro Restaurant (Dobrowolskiego 1a, Tel. +48 795 559 302) und die Bierkneipe "Weißer Affe"/"Biała Małpa" (3 Maja 38, Tel. +48 881 228 048).

Das "Silesia City Center" ist ein großes Einkaufszentrum auf einem ehemaligen Zechengelände: Chorzowska 107, Tel. +48 32 605 00 00.

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