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Thea Dombrowski hat nach ihrem Unfall einen Unterschenkel verloren.

© privat

Schicksalsbericht nach einem Autounfall: Aus der Bahn geworfen

Thea Dombrowski wollte einen schönen Konzertabend mit Freunden verbringen – dann wurde sie von einem Auto erfasst. Die Geschichte eines persönlichen Dramas.

Aus dem Polizeibericht der Stadt Hamburg vom 18. Januar 2015: „Eine 82-jährige Fußgängerin ist nach einem Verkehrsunfall mit schweren Verletzungen in ein Krankenhaus eingeliefert worden. Nach ersten Erkenntnissen der Ermittler fuhr der Fahrer eines BMW der 3er-Reihe mit vermutlich deutlich überhöhter Geschwindigkeit auf der Ludwig-Erhard-Straße in Richtung Millerntorplatz. (…) In Höhe der Hausnummer 10 (…) erfasste der BMW die 82-Jährige. Sie zog sich bei dem Aufprall und dem Sturz auf die Straße diverse Frakturen und eine Hirnblutung zu und musste notärztlich behandelt werden.“

Die 82-Jährige bin ich, Thea Dombrowski. Ich bin seit jenem Samstagabend im Januar noch nicht wieder zu Hause gewesen. Die ersten Wochen nach dem Unfall lag ich im Krankenhaus Hamburg-St. Georg, teilweise in einer Vorrichtung namens Fixateur, die mir jede Bewegung unmöglich machte. Dann wurde ich zwei Mal in andere Krankenhäuser verlegt. Ich habe unzählige Ärzte und Schwestern getroffen, die mal mehr, mal weniger zugewandt und hilfreich waren. Und jetzt bin ich seit acht Wochen in einer Seniorenresidenz untergebracht, wo ich von meinem Zimmer aus per Knopfdruck Hilfe rufen kann. Das ist wichtig, denn nichts ist mehr, wie es war.

Bis heute trage ich links einen Gehgips, der meinen Unterschenkel und vor allem das Fußgelenk stützt, das ich noch nicht belasten darf. Über das rechte Bein steht im Verlegungsbericht der Intensivmedizinischen Station: Trümmerbruch, offen. Inzwischen wurde mir auf der Seite der Unterschenkel amputiert.

Derzeit sitze ich also im Rollstuhl. Wenn die Knochen und Gelenke links wieder stabil genug sind, werde ich das Laufen mit Prothese lernen müssen. Aber es geht nicht allein darum. Es geht um mehr. Ich muss mir ein neues, ein anderes Leben aufbauen. Und es gibt viele Momente, in denen ich fürchte, dass mir die Kraft dazu fehlt.

Aufbauarbeit, wie sie jetzt für mich nötig ist, ist eine Option für die Zukunft. Aber an welche Zukunft denke ich überhaupt? Was ist die Perspektive? Ich bin doch schon 82 Jahre alt, das entspricht in etwa der Lebenserwartung von Frauen in diesem Land.

Vielleicht habe ich noch sieben, acht Jahre, will ich die in Reha-Zentren verbringen? Mich zwar über kleine Fortschritte freuen können, aber eben auch Rückschläge ertragen müssen?

Die physische Herausforderung dessen, was nun vor mir liegt, macht mir gleichwohl weniger Sorgen. Ich war immer recht sportlich und habe mich gegen die allgemeinen Alterserscheinungen des Körpers mit Gymnastik und Disziplin zur Wehr gesetzt. Ganz erfolgreich, wie ich finde. Oder fand.

Ich habe mich, das geht sicher vielen ähnlich, nie so alt gefühlt, wie ich war. Ich habe mich im Grunde überhaupt nie alt gefühlt. Und mich, ein bisschen eitel und stolz, gefreut, wenn man mein Aussehen lobte. Aber das ist seit dem Unfall vorbei. Ganz plötzlich und übergangslos fühle mich jetzt alt. Vielleicht ist es diese Abruptheit, die mich am meisten quält. Eben war noch alles gut. Mehr als gut, es war sogar toll – und jetzt sitze ich hier vor einem Trümmerhaufen.

Geboren wurde ich 1933, in dem Jahr, in dem der Nazischrecken gerade begann. Für die meisten Menschen ist das doch eine gefühlte Ewigkeit her. Den Krieg und die brotlose Zeit danach habe ich überstanden. Habe eine Arbeit gefunden, mich hochgearbeitet, was nicht selbstverständlich war, meine Familie kam aus einfachen Verhältnissen. Zuletzt war ich 18 Jahre im Vorstandssekretariat der Kassenärztlichen Vereinigung Hamburg. Eine interessante, vielseitige Arbeit, zu der ich gerne ging. Ich habe zwei Töchter, drei erwachsene Enkelkinder, zwei Urenkel. 40 Jahre lang war ich mit meinem letzten Mann zusammen, bevor er 2010 starb. Fast schon einging. Er war am Ende sehr krank, ein Pflegefall.

Oft habe ich in jener Zeit gedacht, dass ich so wie er nicht sterben möchte. So ums Eigene gebracht. Um die Möglichkeit, mein Leben gestalten zu können. Natürlich kommen mit dem Alter Einschränkungen auf einen zu. Die habe ich nicht ignoriert, das wäre ja verrückt. Ich bin nicht zwischen Autos hindurch über Straßen gelaufen, nicht über rote Ampeln gegangen, ich habe mich nicht überschätzt, das nicht. Aber selbstständig war ich. Musste niemanden anrufen, weil ich etwas brauchte, bin gereist, bin Auto gefahren, auf Konzerte gegangen. Ich mag Jazz. Darum war ich an jenem Januarabend überhaupt in St. Pauli: Meine Nachbarin hatte mich gefragt, ob ich mit ihr und ihrem Lebensgefährten in den „Cotton Club“ am Großneumarkt kommen wolle.

Und da, als ich von ihrem parkenden Wagen losgehe, auf die andere Straßenseite will, trifft mich der BMW. Laut Zeugenaussagen „ungebremst“. Jedenfalls steht es so im Bericht der Krankenkasse.

Jetzt bin ich abhängig. Ich bin für die anderen, ohne deren Unterstützung ich nicht mehr von A nach B komme, zu einer Last geworden. Auch wenn das natürlich alle weit von sich weisen. Ich kann mich seit dem Unfall nicht mehr gut konzentrieren und habe Wortfindungsstörungen. So nennt man das wohl.

Manchmal weiß ich gar nicht mehr, was ich denken soll: Ein Glück, dass „es“ erst jetzt passiert ist, und nicht, als ich noch jünger war, weil ich dann so viele Jahre hätte so leben müssen? Oder soll ich denken, wenn einem so etwas schon passieren muss, dann bitte eher, damit man noch die Chance hat, sich auf das Neue einzustellen, es irgendwie hoffnungsvoll in Angriff zu nehmen?

Wie der Fahrer des Wagens reagierte

Thea Dombrowski hat nach ihrem Unfall einen Unterschenkel verloren.
Thea Dombrowski hat nach ihrem Unfall einen Unterschenkel verloren.

© privat

Eine eigene Erinnerung an den Unfall habe ich nicht. Auch an die ersten Wochen im Krankenhaus nicht. Was ich darüber weiß, haben mir meine Töchter erzählt. Einiges könnte ich in den Verlegungsberichten der Krankenhäuser nachlesen. Aber ich will nicht.

Die Ermittlungen haben ergeben, dass der Unfallfahrer sich auf der mehrspurigen Straße ein Rennen mit einem zweiten Wagen geliefert hat. Ein Autorennen an einem Samstagabend in der Verlängerung der Reeperbahn. Das ist doch wohl mindestens fahrlässig. Zugleich denke ich aber auch: Warum bin ich der Einladung gefolgt, warum haben wir nicht woanders geparkt, warum, warum, warum? Und schon während ich das denke, weiß ich, dass das doch nichts nützt.

Was ich dagegen ganz genau weiß: wie der erste Blick auf das halbe Bein war. Ich habe es gesehen, das Knie und dahinter nichts mehr, und es gar nicht in Verbindung mit mir gebracht. Was ist das denn?, habe ich gedacht. Und einfach die Augen wieder geschlossen.

Eine weitere Erinnerung ist, dass ich einen Frisör ans Bett bestellt habe.

Es hat sehr lange gedauert, bis ich das erste Mal geweint habe, und dann konnte ich kaum noch damit aufhören. Das Weinen ist eine große Erleichterung, es dämpft meine Sehnsucht. So nenne ich es: Ich habe Sehnsucht nach meinem amputierten Bein. Wenn ich heute die Menschen herumlaufen sehe, denke ich: Die hat zwei Beine, der hat zwei Beine, im Grunde haben alle zwei Beine, auf denen sie herumlaufen. Wissen die überhaupt, wie wertvoll das ist, was für ein Glück?

Vom Rollstuhl aus hat man eine andere Perspektive auf die Welt. Ich sehe den Menschen, denen ich begegne, nicht mehr ins Gesicht. Ich sehe ihre Gürtel, ihre Hüften, Taillen, Pobacken. Ich muss zu ihnen hochschauen, sie schauen auf mich herab. Das ist nicht wirklich weltbewegend, ich weiß das. Aber es beschäftigt mich trotzdem. Es passt in diese ganze Situation, die sich in schlechten Momenten anfühlt wie eine unentwegte Aneinanderreihung von Demütigungen.

Die Ärzte, die gehetzt sind, nicht wirklich Zeit haben. Die in mir einen Fall sehen, vielleicht noch eine interessante Diagnose, ein Körperteil, aber nichts Ganzes mehr.

Die Krankenkasse, die mich wie einen lästigen Kostenfaktor abzuwimmeln versucht, Hilfe erschwert, statt sie zu leisten, was ich erwartet hätte, schließlich war ich ja jahrzehntelang gesund geblieben und habe immer meine Beiträge gezahlt.

Der Prothetiker, der in mir eine Kundin sieht, an der es etwas zu verdienen gibt, und sich für den Rest der Geschichte nicht interessiert, weil er mit so etwas dauernd zu tun hat.

Der Unfallfahrer, ein junger Mann, 26 Jahre alt, der mir Monate nach dem Unfall schreibt, dass er mir von ganzem Herzen wünsche, dass ich das Geschehene und dessen Folgen im Laufe der Zeit so weit als möglich verarbeiten könne.

Oder sein Anwalt, der sein Vater ist, der erklärt, dass der Sohn sich früher nicht melden konnte, weil er keine Adresse gehabt habe. Der sich für mich so anhört, als wolle er eigentlich sagen, ich möge bitte nichts tun, was einen allzu langen Schatten über das Leben seines Juniors wirft.

Aber wo bleibe ich bei alldem? Wer fragt, wie ich zurechtkomme?

Ich habe dem jungen Mann auch geschrieben. Ohne Anrede. Es floss nur so aus der Feder. Einmal habe ich mich verschrieben, da habe von vorne angefangen. Der zweite Entwurf saß. Dass er für seine drei Minuten Spaß beim Rasen ein Leben zerstört habe, steht in dem Brief. Und dass er sich sicher keine Vorstellung mache, wie aufregend und interessant auch das Leben einer 82-Jährigen noch sein kann.

Ich habe den Brief meinen Töchtern vorgelesen, bevor ich ihn abgeschickt habe. Sie mochten ihn. Alles, was angriffslustig und zupackend klingt, mögen sie.

Wovon sie nichts hören wollen: dass ich nicht mehr kann. Und manchmal auch nicht mehr will. Ich verstehe das, sie machen so viel für mich, da wollen sie nicht hören, dass mir das alles nicht genügt, aber irgendjemandem muss ich davon doch mal erzählen können.

Seit ungefähr sechs Wochen habe ich einen Psychotherapeuten. Dem kann ich davon erzählen, das ist ein großes Glück. Warum ich den nicht eher bekommen konnte, verstehe ich nicht. In der Zeitung stand gerade ein Bericht von einem schlimmen Unfall, zu dessen Augenzeugen zwei Kinder gehört haben. Für die sei sofort ein Notfallpsychologe da gewesen. So gehört sich das. Warum ist zu mir niemand gekommen?

Bei dem Unfall ist schließlich nicht nur physisch, es ist auch psychisch etwas kaputtgegangen. Vielleicht sogar: vor allem psychisch. Von den 15 Tabletten, die ich zwischendurch einnehmen musste, sind nur noch die Antidepressiva übrig.

Nicht ein einziges Mal habe ich vor dem Unfall an Selbstmord gedacht. Jetzt denke ich oft daran. Nicht aus Weinerlichkeit oder um Aufmerksamkeit und Mitleid zu erheischen, nicht, weil ich denken würde, ein Leben mit einem amputierten Unterschenkel sei nicht mehr lebenswert. Sondern, weil ich denke, dass ich am Ende bin.

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