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Sportliche Kettenraucherin: Heidi Zerning übersetzt erst Satz für Satz mit Bleistift, bevor sie den Text in den Computer eingibt.

© Doris Spiekermann-Klaas

Übersetzerin Heidi Zerning: Alice Munros deutsche Stimme

Heidi Zerning hat eine seltsame Art zu übersetzen, arbeitet ohne Internet und mit Bergen von Lexika. Eigentlich scheut die Berlinerin die Öffentlichkeit. Für unsere Autorin machte sie eine Ausnahme.

Gott sei Dank: Sie war in Sicherheit. Als die Nachricht kam, saß sie im Kino und guckte sich „Die andere Heimat“ an, tauchte ein in eine Welt, in der es noch kein Telefon gab. Mochte ihres zu Hause Sturm klingeln, sie hörte es nicht. Bei ihrer Heimkehr leuchteten 20 Anrufe auf dem Anrufbeantworter, Journalisten, die sie alle sprechen wollten. Denn die Berlinerin hat das gesamte Werk der neuen Literaturnobelpreisträgerin übersetzt. Wer als Deutscher Alice Munros viel gerühmte Geschichten liest, liest Heidi Zerning.

„Ich war so was von gottfroh, dass ich nicht zu Hause war.“

Gut möglich, dass sie sich nicht zufällig gerade an jenem Donnerstag Edgar Reitz’ fast vierstündiges Epos angeschaut hat. Munro galt mal wieder als heiße Kandidatin. Und ihre „deutsche Stimme“ ist so öffentlichkeitsscheu wie das kanadische Original. „Alice, komm hinterm Werkzeugschuppen vor, und geh ans Telefon!“, twitterte Margaret Atwood ihrer Freundin nach der Bekanntgabe des Preises zu. Wer ein Bild von Heidi Zerning im Internet sucht, findet nur eins von Alice Munro.

Dabei sind die beiden sich nie begegnet. Noch nie ist die Übersetzerin dort hingefahren, wo die Geschichten der Kanadierin spielen, wo diese aufgewachsen ist und lebt. Wollte sie Ontario nicht mal fühlen, sehen, schmecken? Heidi Zerning guckt erstaunt. „Wieso?“, fragt sie beim Gespräch, das ihre Lektorin vermittelt hat, im Schöneberger Rauchercafé. „Ich bin doch fantasiebegabt.“ Nicht mal Kontakt hat sie je mit der Autorin aufgenommen. „Da käme ich mir aufdringlich vor.“

Die Fragen, die sie an die Texte hat, beantwortet sie sich selbst. Ganz ohne Hilfe von Wikipedia: Heidi Zerning hat kein Internet. Was sie wissen will, schlägt sie nach, „ich habe alles an Lexika, was es gibt“. Dutzende von Wörterbüchern, Synonym- und Reimlexika, Nachschlagebücher über Alchemie und Philosophie, Astronomie und Mode. Und wenn sie tatsächlich was nicht finden kann, nicht mal in der Stabi, eine spezielle Haferflockensorte etwa, googelt eine Freundin für sie.

Entsetzen schießt ihr ins Gesicht: Als sie ihr kleines silbernes Zigarettenetui aufklappt, ist es leer. Sie hat es doch noch aufgefüllt! Klein und drahtig, läuft die wahrscheinlich sportlichste Kettenraucherin Berlins (Rennrad, Badminton) raus, um sich Filterlose zu besorgen, die sie sich in ihre Spitze steckt, während sie erzählt.

Und sie erzählt ohne Scheu. Wie sie als Charlottenburger Kriegskind, Jahrgang 1940, in den Ruinen des Schillertheaters spielte. Von ihrem ersten kulinarischen Aha-Erlebnis, einem angebissenen Mettwurstbrötchen, und ihrem ersten kulturellen: Peter Brooks „King Lear“. Ihr Vorstellungsgespräch in orangefarbener Frotteeschlafanzughose bei Peter Zadek, der sie trotzdem für Bochum anheuerte, wo sie fünf großartige, anstrengende Jahre lang Regieassistentin und Produktionsleiterin war. Und wie sie, trotz einer Sechs in Englisch, später Klassiker wie „Frühstück bei Tiffany“ neu übersetzte, „ein kleines Meisterwerk, eine ganz traurige Geschichte“. Capotes berühmtestes Werk, „In Cold Blood“ hat sie abgelehnt: Sie wusste, sie würde krank davon. Einmal, als sie Romanpassagen über Auschwitz übertragen musste, bekam sie am ganzen Körper Ausschlag. Seitdem überlässt sie harte Sachen weniger empfindsamen Seelen.

Munros Erzählungen haben es auf andere Art in sich. Sie sind so dicht wie Romane, eine Kurzgeschichte umfasst oft ein ganzes Leben, große Gefühle, Liebe, Hass, Verzweiflung passen in einen einzigen lakonischen Satz. Über den Heidi Zerning sich dann die kurzen Haare rauft. Alice Munro schaffe auf 30 Seiten, wofür er 800 braucht, meint Jonathan Franzen. Getötet wird auch bei ihr. Nur anders. „Munro legt beiläufig Minen,“ so die „FAZ“, „und zündet sie mit dem unschuldigsten Gesicht der Welt an.“

Deswegen liest Heidi Zerning die Erzählungen auch nicht, bevor sie sie übersetzt. Weil die Geschichten so von der Spannung leben, oft eine ganz überraschende Wendung nehmen, hat sie Angst, ungewollt etwas zu verraten. Um die Beiläufigkeit zu wahren, dürfe sie nicht mehr als der Leser wissen. „Ich muss mir die Naivität und Neugier bewahren.“ Also arbeitet sie sich Satz für Satz vor. Mit dem Bleistift auf Papier. „Und ganz viel Radiergummi.“ Erst wenn alles steht, überträgt sie den Text in den Computer, dann geht die Arbeit weiter. „Auf dem Ausdruck sieht man ja noch mal ganz andere Sachen.“

Und das mit einer Sechs in Englisch. Aber in der zehnten Klasse hatte sie Besseres zu tun als Vokabeln pauken: Orgel spielen, stundenlang. Doch als die Versetzung gefährdet war, kaufte sie sich im Antiquariat ein englisches Buch und arbeitete sich mit dem Wörterbuch durch. Auf dem nächsten Zeugnis stand eine Drei.

Wie Heidi Zerning Übersetzerin wurde

Sportliche Kettenraucherin: Heidi Zerning übersetzt erst Satz für Satz mit Bleistift, bevor sie den Text in den Computer eingibt.
Sportliche Kettenraucherin: Heidi Zerning übersetzt erst Satz für Satz mit Bleistift, bevor sie den Text in den Computer eingibt.

© Doris Spiekermann-Klaas

Schon als kleines Mädchen war Heidi Zerning schließlich ein Wesen von trotziger Entschlossenheit. Ihr Vater wollte nicht, dass sie Abitur macht? Dann erst recht! Er wollte nicht, dass sie die Uni besucht (das würde sie den Eltern entfremden), eine Banklehre sollte sie machen? Natürlich musste sie studieren.

War nur die Frage, was: Musik oder Literatur? Seit sie als Sechsjährige bei ihrer Klavierlehrerin Beethovens „Wut über den verlorenen Groschen“ hörte, war sie verloren. „Den kleinen Beethoven“ haben die Mitschülerinnen sie bald genannt. Sie selber hörten Elvis Presley. Das hat die Einzelgängerin nicht irritiert.

Viel gelesen hat sie als Einzelkind, „alles, was der Bücherschrank hergab“. Und der war gut gefüllt. Vom „Zauberberg“ war sie „ganz hin und weg, da hat mich ein heißer Schauder erfasst“. An den „großen Autoren der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts“ hat die Übersetzerin ihr Deutsch geschliffen , allen voran Thomas Mann, „immer wieder Thomas Mann“, aber auch Eduard von Keyserling, Werner Bergengruen, Feuchtwanger, Werfel, Wassermann (Zeitgenössisches liest sie kaum, Übersetzungen erst recht nicht, die „hasst“ sie). „Und natürlich Fontane, Fontane, Fontane.“

In der Grundschule hieß sie „Zwerg Allwissend“. Egal, wie viel die Lehrer wussten, Heidi wusste noch mehr. Wie die Pädagogen das fanden? „Sie nahmen es mit Humor“, sagt sie und lacht ihr kurzes trockenes Lachen, das sie hinter ihre Sätze setzt wie einen Punkt.

Am Ende entschied sie sich für die Literatur, die englische und amerikanische. Für eine Karriere als Konzertpianistin waren die Finger zu kurz. Nur eins hat sie nicht durchgezogen: ihre Promotion. „Die Rezeption von Shakespeare durch Wandertruppen“ langweilte sie. Als eine Freundin ihr einen Job am Braunschweiger Theater vermittelte, „hab ich Blut geleckt“.

Schritt für Schritt tastete sie sich neben dem Theater ans Übersetzerleben heran. Nicht weil sie ängstlich wäre, sondern weil sie systematisch und ehrgeizig ist. Zuerst hat sie Dramen und Drehbücher übersetzt, nachts nach der Arbeit als Geschäftsführerin und Mädchen für alles am Düsseldorfer Kommödchen. Als sie die Dialoge satt hatte, probierte sie sich an Krimis aus. Zurück in Berlin, begleitete sie Schauspieler und Kabarettisten auf dem Klavier, und als sie sich mit Prosa sicher fühlte, kam auch schon bald Virginia Woolf dran. An ihrem Campingtischchen im Brandenburgischen. Ihrer Sehnsuchtslandschaft.

Als Kind war sie oft im Garten einer Freundin ihrer Mutter, „das war für mich der Inbegriff von Sommer und Natur“. Kaum war die Mauer gefallen, stellte sie sich vor einen HO: Hütte gesucht. So hat sie eine Laube „mit abfließend kalt Wasser“ gefunden. Am wackeligen Campingtisch mit Hühnergegacker sind viele ihrer Übersetzungen entstanden: „A Room of One’s Own“ unter freiem Himmel.

Am 10. Dezember, der Nobelpreisverleihung, wird Zerning wieder im Kino sitzen, im Babylon. Als Ehrengast. Der S. Fischer Verlag veranstaltet am Rosa- Luxemburg-Platz einen Abend für Alice Munro, Judith Hermann, Eva Menasse, Monika Maron und Manuela Reichert werden aus dem neuen Erzählband lesen.

Über ein Jahr hat Zerning gearbeitet daran, gefeilt wie die Autorin selbst. Als „unauffällig“ beschreibt sie deren Sprache, „sie benutzt keine besonderen Stilmittel, sondern breitet mit großer Feinheit Nuancen aus“. Ihre Musikalität hilft der Übersetzerin, ihr Gefühl für Rhythmus und Klang. „Natürlich“ liest sie, die an vielen Abenden in der Philharmonie sitzt und am liebsten Bruckner hört, sich immer laut vor, was sie geschrieben hat. Die Geschichten sollen klingen, als seien sie auf Deutsch verfasst. Bei Woolf war es anders, da wollte sie „das Fremde, Gedrechselte der Sprache“ bewahren.

„Liebes Leben“ sollte im Frühjahr erscheinen, nun kommt es kommende Woche schon heraus. Intensive Tage lang ist sie mit ihrer Lektorin Friederike Schilbach Zeile für Zeile, Wort für Wort durchgegangen, manchmal haben sie um einzelne Ausdrücke gerungen und hinterher im Café Einstein gefeiert. Normalerweise geht Heidi Zerning bei Fleischer Staroske in der Potsdamer Straße essen. Übermütig macht der Nobelpreis sie nicht.

„Na endlich!“ war ihr erster Gedanke, als die Nachricht kam. Sie hat sich sehr gefreut für Alice Munro. „Und auch ein bisschen für mich.“ Wie auf Kommando beugt sich eine dunkle Schönheit zwei Cafétische weiter vor, will wissen, wer sie ist! Als die Übersetzerin sich zu erkennen gibt, ist die Schönheit ganz entzückt: „Respekt, Gratulation, Hut ab!“

Ein wenig wehmütig ist Heidi Zerning ums Herz: „Liebes Leben“, hat Munro angekündigt, soll ihr letztes Buch sein, ihr Schwanengesang. Sie wird sie vermissen, die Geschichten, von denen sie noch so begeistert ist wie am ersten Tag: von ihrer Menschlichkeit und atmosphärischen Dichte, der feinen Charakterzeichnung.

Für Traurigkeit allerdings hat sie so wenig Zeit wie für Strandurlaub. „Kopfüber“ wird sie sich wieder in ihren Hebräischunterricht stürzen. „Das ist für mich ein großes Abenteuer, eine Entdeckungsreise in die Welt der Sprache und ihre Struktur.“ Das, was andere schrecken würde, reizt sie gerade: das völlig Fremde („Vokabeln muss man wie das Telefonbuch lernen“), aber auch „eine ganz andere, wunderbare Sinnlichkeit“. Natürlich macht sie das nicht einfach so, sondern aus dem gleichen Grund, aus dem sie seit 20 Jahren Trainerstunden für Badminton nimmt und mit Französinnen spielt: um fit zu bleiben. Und eines Tages aus dem Hebräischen zu übersetzen.

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