zum Hauptinhalt
Unklarheiten. Kann man, darf man hier in Tokio noch Leitungswasser trinken? Seit Mittwoch ist das eine Frage.

© E. K. Brown, dpa

AKW Fukushima: Wie die Havarie das Leben verändert

Strahlengefahr aus dem Hahn? Nicht schlimm, sagen die Behörden in Japan – und die Menschen vertrauen. Auch der Deutsche Jesper Weber.

Es gibt den spürbaren Wunsch, sich nicht übermäßig aufzuregen. Erstens, weil das bisher niemand macht, und zweitens: Was würden Gezeter und Geheule an der Lage ändern? Nichts.

Jesper Weber sitzt also in seiner frostigen Tokioter Wohnung und wartet auf seine Frau, die morgens ins Büro gefahren ist, das ebenfalls nicht geheizt und spärlich beleuchtet wird, und die ihn von dort aus informierte: Das Trinkwasser ist belastet, trink’ nicht mehr aus dem Hahn!

Die nächste Eskalationsstufe seit Beginn der Atomkatastrophe vor fast zwei Wochen. Aber so sehen sie es nicht.

Weber, 40, der Deutsche in Japan, schreibt in seinen täglichen Depeschen in seine alte Heimat zwar von einer „oftmals besorgniserregenden“ Entwicklung, aber auch von „tatsächlich keiner akuten Gefährdung“. Ein noch verträglicher Wert für Strahlenbelastung sei 300 Becquerel. Und „einige heiße Quellen in Kurbädern haben bis zu 2700 Becquerel.“ Das trinke dann natürlich niemand, aber trotzdem werden Werte eben gesetzt, willkürlich. Die Becquerel-Grenzen für Säuglingsnahrung in Deutschland liegt bei 370, die EU schlägt im Falle eines Reaktorunglücks für Trinkwasser Grenzwerte von 500 bis 1000 Becquerel vor. In einem Tokioter Stadtteil sind in einer Wasseraufbereitungsanlage 210 Becquerel radioaktiven Jods pro Kilogramm festgestellt worden, doppelt so viel wie in Japan erlaubt, und doch ein Wert, den Experten, etwa Andreas Beutmann vom Dresdner Helmholtz-Zentrum, nicht für gefährlich halten.

Weber hat nach dem Anruf seiner Frau also kein Trinkwasser mehr aus dem Hahn genommen, sondern ist „vorsichtshalber“ auf Mineralwasser umgestiegen. Er sagt leicht ironisch, dass sei jetzt keine übermäßige Einschränkung gewesen. Wie in allen japanischen Haushalten steht auch bei den Webers ein Karton mit sechs Zweiliterflaschen Trinkwasser im Haus, als Teil der landesweit üblichen Vorsorgemaßnahmen gegen mögliche Erdbebenschäden am Leitungssystem. Zwölf Liter, sagt Weber, damit käme man schon ein paar Tage lang aus. Und ob sie das belastete Wasser aus dem Wasserhahn zum Geschirrspülen oder Waschen noch nutzen wollen, das werde er mit seiner Frau noch besprechen müssen.

Die Webers wohnen im zentralen Bezirk Minato, das ist dort, wo viele große Krankenhäuser sind, Botschaften und Regierungsgebäude. Deshalb wurde dort bisher auf Stromsparmaßnahmen verzichtet, so dass es auf den dortigen Straßen aussieht wie immer. Und gefroren hat Weber auch schon vor der Katastrophe. Japanische Wohnungen haben selten Zentralheizungen, die werden über Klimaanlagen warm oder kalt gepustet, was Weber nicht leiden kann, weshalb es winters meist kalt ist. Außerdem gehört die Nichtnutzung der Klimaanlagen derzeit zu den Solidaritätsgesten an die Menschen im Nordosten des Landes. An die, die wirklich leiden.

In den Supermärkten hat die Trinkwasser-Meldung dazu geführt, dass die letzten Mineralwasserflaschen weggekauft wurden. Nach den gesetzlichen Vorschriften sei das Wasser derzeit für Kinder ungeeignet, hatte es geheißen. An Kindertagesstätten erging deshalb eine Warnung, darauf zu achten, dass die Kinder kein Wasser schlucken. Für alle Kinder unter einem Jahr hieß es, sie sollten kein Leitungswasser oder damit zubereitetes Milchpulver mehr trinken. Eine unmittelbare Gesundheitsgefahr bestehe nicht, auch das verkündeten die Behörden. Das haben sie auch verkündet, als sie die erhöhte Strahlenbelastung für Spinat, Broccoli, Kohl und das japanische Blattgemüse Komatsuna bekanntgaben.

Die Japaner glauben den Behörden. Und Jesper Weber auch. Es gebe an der Informationspolitik nichts auszusetzen, sagt er, es werde nichts beschönigt, aber auch nichts verheimlicht.

Allerdings haben auch die Webers Trinkwasservorräte über die Erdbebenration von sechs Zweiliterflaschen hinaus angelegt. Sie hätten dazu sogar extra zusätzliche Gefäße gekauft. Es peinigt Weber hörbar, dies zuzugeben.

Grundsätzlich will er von einer sich verschlechternden Stimmung nichts wissen. Man verfolge die Bemühungen um den Reaktor und hoffe das Beste. Es sei alles normal, die Fernsehsender zeigten auch wieder Filme, allerdings mit Bildschirmlaufbändern für aktuelle Nachrichten. Die meisten Tokioter würden schmunzeln über die leeren Regale und sich auch ohne die Bitte des Regierungssprechers, von Hamsterkäufen abzusehen, zurückhalten. Zuerst geleert haben sich die Regale für die Milchprodukte und – das erheitert Weber besonders – die mit dem Toilettenpapier. Die Leute kauften Toilettenpapier, „als gebe es nie wieder welches, wie schon zu den Ölkrisen 1973 und 1976“, berichtet er. Im Allgemeinen überwiege aber die Haltung, sich selbst zurückzunehmen, um den anderen noch etwas zu lassen. „Wenn ich in einem Regal drei Joghurts sehe, die ich gerne hätte, nehme ich trotzdem nur zwei, damit die nach mir auch noch etwas abbekommen“, sagt Weber.

Neben aller Zuversicht und allem Gemeinsinn, mit dem die Japaner sich in diesen Krisenzeiten begegnen, gibt es auch erste Meldungen über Betrüger, die die Lage ausnutzen. Die geben sich als Vertreter der Stromkonzerne aus und verkaufen an Haustüren angeblich empfohlene Stromspargeräte. Inzwischen wird im Radio vor den Betrügern gewarnt. Als nächstes kämen die wahrscheinlich mit empfohlenen Radioaktivitätsmessgeräten wieder, witzelt Weber.

Jeden Tag um 17 Uhr ertönt in den Straßen Japans eine Melodie aus dem öffentlichen Lautsprechersystem. Auch das gehört zu den Erdbebenwarnvorkehrungen. Jeder Bürger soll von einer entsprechenden Warnung erreicht werden, niemand soll sie überhören. Die 17-Uhr-Melodie ist der Test, ob die Anlage funktioniert. Und sie bezeugt, wenn sie ertönt, dass nichts Schlimmes passiert ist.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false