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Nicht nur in der Industrie können Roboter eingesetzt werden. Auch in der Medizintechnik sind sie mit ihrer Präzision nützlich.

© dpa

Digitalisierung und Industrie 4.0: Deutsche Unternehmen als Treiber und Getriebene

Mit Industrie 4.0 wollte die deutsche Wirtschaft weltweit Standards für das digitale Zeitalter setzen. Daraus wird nichts - und das liegt nicht nur an den USA.

Auf dem Autosalon in Genf erregt ein Fahrzeug größte Aufmerksamkeit, das es noch gar nicht gibt. Es weiß auch noch niemand, ob es das Auto von Apple jemals geben wird. Doch ein paar Ex-Manager von GM oder Tesla und ein paar Gerüchte um eine geheime Entwicklungsabteilung im Silicon Valley reichen aus: Die deutsche Autoindustrie ist alarmiert.

Offiziell gibt man sich zwar gelassen. „Wir haben das Auto erfunden“, lässt sich etwa Daimler-Chef Dieter Zetsche zitieren. Soll heißen, vor denen haben wir keine Angst. In Beraterkreisen hingegen herrscht ein ganz anderer Eindruck vor. Die haben die Hosen voll, heißt es dort. Und auch Manager aus der Branche erwarten hinter vorgehaltener Hand sehr wohl, dass die Verschmelzung klassischer Industrie mit IT-Technologie die für Deutschland so wichtige Sparte grundlegend verändern wird.

Digitalisierung könnte Produktivität massiv erhöhen

Kaum ein Thema beschäftigt die Industrie hierzulande derzeit so sehr wie die Digitalisierung der Produktion. Es geht um die Vernetzung ganzer Maschinenparks, um Roboter, die mit Menschen zusammenarbeiten, um effiziente Herstellung und Lieferketten durch die genaue Auswertung von massenhaft gesammelten Maschinendaten. Und es geht um den Eintritt technologiegetriebener Unternehmen wie Apple in klassisch produzierende Branchen.

Unternehmen wie Siemens, Daimler, BASF erhoffen sich in den kommenden Jahren eine Produktivitätssteigerung um rund ein Drittel. Nach einer Fraunhofer- Studie sind bis zum Jahr 2025 Steigerungen in Höhe von insgesamt rund 78 Milliarden Euro möglich. Weil sich die Prozesse durch die Digitalisierung der Industrie so umfassend verändern, sprechen Experten von der vierten industriellen Revolution. Zur Hannovermesse 2011 wurde erstmals der Begriff Industrie 4.0 geprägt.

Industrie 4.0 gegen IIC

Doch der Führungsanspruch, den deutsche Konzerne damals formulierten und den auch die Politik gerne aufgriff, droht ihnen abhanden zu kommen. Flankiert von der Politik beschlossen Maschinenbauer, Elektrotechniker und IT-Industrie vor zwei Jahren die Entwicklung mit einer Plattform Industrie 4.0 voranzutreiben. Der Anspruch: Weltweite Standards setzen, in welcher Sprache Maschinen kommunizieren. Die Idee: Wer die Standards fürs nächste industrielle Zeitalter setzt, hat weltweit einen Vorsprung. Das Ergebnis: „Im Wesentlichen haben wir nichts hinbekommen, um uns pragmatisch schnell auf Standards zu einigen”, sagte T-Systems- Chef Reinhard Clemens Ende Januar. „Die erste Halbzeit der Digitalisierung haben wir verloren.“

Der Gegner der deutschen Industrie in diesem Spiel sitzt in den USA. Das Industrial Internet Consortium (IIC) versammelt das ganze Spektrum von General Electric, IBM, Cisco bis hin zu Forschungseinrichtungen. Inzwischen zählt es 140 Mitglieder aus der ganzen Welt - auch Bosch, Siemens und SAP sind dabei. Obwohl erst vor einem Jahr gegründet, hat es der hiesigen Initiative längst das Wasser abgegraben. Doch noch wollen sich Industrie und Politik hierzulande dem US-Konsortium nicht geschlagen geben. In der zweiten Halbzeit soll die Fraunhofer-Gesellschaft die Koordination zwischen Wissenschaft und Wirtschaft übernehmen und ein schlagkräftiges Team nach Möglichkeit schon zur IT-Messe Cebit Mitte März präsentieren.

Mittelständler sorgen sich um Datensicherheit

Wie beim IIC soll die neue Struktur verhindern, dass jahrelang an Standards getüftelt wird, die zwischen allen Markteilnehmern bis ins Letzte abgestimmt sind. „Dieses Verhalten hat uns unseren Vorsprung, den wir bei Industrie 4.0 lange hatten, vollständig gekostet”, analysieren Beobachter. Stattdessen sollen Unternehmer und Forscher De-facto-Standards setzen: Wer als großer Player eine Schnittstelle zum Datenaustausch auf den Markt wirft, zwingt andere dazu, ihre Produkte darauf auszurichten. So lautet, verkürzt gesagt, die Taktik der Amerikaner. Deren Chef Richard Soley betont, dass das IIC kein Standardisierungskonsortium sei, sondern Anwendungen entwickle, die bei Erfolg zur Norm werden könnten.

Die schleppende Digitalisierung der Industrie hierzulande hängt jedoch nicht ausschließlich mit dem Kompetenzgerangel der Verbände und der sprichwörtlichen deutschen Gründlichkeit zusammen. Vor allem die Mittelständler haben Angst vor der neuen Zeit. Digitalisierung bedeutet nämlich nicht in erster Linie Daten sammeln, sondern gesammelte Daten so zu verarbeiten, dass dem Unternehmen ein Mehrwert entsteht: höhere Effizienz, verbesserte Produkte oder neue Services, die bislang vielleicht gar nicht zum Kerngeschäft gehörten.

BDI: Mittelstand darf sich dem Trend nicht verweigern

Hand in Hand. In den modernsten Werken von Daimler arbeiten Mitarbeiter eng mit Kuka-Robotern zusammen.
Hand in Hand. In den modernsten Werken von Daimler arbeiten Mitarbeiter eng mit Kuka-Robotern zusammen.

© Stefan Puchner/dpa

Für all diese Neuerungen müssen aber die Daten die Fabrik verlassen. Sie wandern in die Cloud, also auf Server, wo sie mit anderen Daten zusammengeführt werden. So lässt sich beispielsweise feststellen, ob eine Fräse Werkstücke fehlerfrei bearbeitet. Heutzutage arbeiteten viele Maschinen mit einer „lächerlichen Produktivität”, berichtet Volker Kreidler, Industrie 4.0-Chef beim Datenbankspezialisten SAP. Die Auswertung großer Datenmengen – Big Data – mache diese Diagnose und daraus resultierende Verbesserungen erst möglich.

Doch nach einer aktuellen Umfrage unter 100 mittelständischer Unternehmen besitzt mehr als die Hälfte noch keine Digitalstrategie. Zwei von drei Firmen gaben an, sich als Getriebene der Digitalisierung zu sehen. „Wenn sich die mittelständischen Firmen diesem Trend verweigern, dann wird die starke deutsche mittelständische Industrie zukünftig Probleme kriegen“, warnte deshalb kürzlich Ulrich Grillo, Präsident des Industrieverbands BDI.

Kompetenzgerangel zwischen Gabriel und Wanka

Das neue Konsortium soll den Mittelständlern die Sorge vor dem Daten-GAU nehmen. Unter Federführung von Fraunhofer und Unternehmen wie T-Systems soll ein sicherer, aber „international offener Datenraum für die Wirtschaft“ entstehen. Gleichwohl verläuft auch dieser Versuch, die Wirtschaft hinter dem Digitalen zu versammeln, nicht störungsfrei.

Während die Plattform Industrie 4.0 politisch bei Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel (SPD) verortet ist, ist das neue Konsortium im Wissenschaftsministerium von Johanna Wanka (CDU) angedockt. Beim Initialtreffen Mitte Februar soll Wirtschaftsstaatssekretär Matthias Machnig als Ministervertreter bereits nach einer halben Stunde abgezogen sein.

"Aufpassen, dass wir nicht hinweggefegt werden"

Der Hype um Industrie 4.0 und die offen vorgetragene Rivalität mit dem IIC stößt in Teilen der Wirtschaft allerdings auch auf Unverständnis. „Letztlich ist es zweitrangig, ob ein Standard aus den USA oder aus Europa kommt”, sagt Simone Rehm, Vizepräsidentin der Gesellschaft für Informatik. Ein Standard sei ohnehin nicht deutsch oder europäisch. „Am Ende ist er immer international.” Das sieht Heinrich Munz nicht anders. Nicht Standards aus den USA seien die große Gefahr für deutsche Maschinenbauer, sagt der Systemarchitekt des Roboterherstellers Kuka. Vielmehr seien dies Unternehmen wie Apple, die ganze Branchen auf den Kopf stellten. „Tesla baut Elektroautos – und zwar im Hochlohnland USA”, verdeutlicht Munz. „Wir müssen aufpassen, dass wir nicht von solchen Newcomern hinweggefegt werden.”

Bei solch visionären Partnern muss sich Daimler-Chef Zetsche um die Zukunft womöglich tatsächlich keine Gedanken machen: In den modernsten Werken des Autoherstellers arbeiten die Mitarbeiter bereits Hand in Hand mit Kuka-Robotern.

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