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"Falsche Normierung". Die Verschulung des Studiums hat das Image des Bachelors geprägt und ihn zum Sündenbock für alle Mängel der Massenuniversität gemacht. Im Bildungsstreik von 2009/2010 protestierten bundesweit Studierende gegen die Studienbedingungen (hier in Mainz).

© picture alliance / dpa

Besser studieren: „Es muss weiter entschlackt werden“

Michael Kämper-van den Boogaart, Vizepräsident für Lehre an der HU, im Interview über das Studium in Zeiten von Bachelor und Master.

Herr Kämper-van den Boogaart, hätten Sie lieber im Bachelor und Master studiert als im alten System?

Ich glaube, ich bin froh, dass ich im alten System studieren konnte. Meine peer group und ich haben uns das Studium damals ziemlich individuell organisiert. Man schrieb alle vorgeschriebenen Veranstaltungen in sein Studienbuch. Zu vielen ging man aber nicht hin, sondern man konzentrierte sich im Semester auf drei oder vier, die einen besonders interessierten, auch in anderen Fächern. Aber ich muss zugeben: Wir gehörten zu den happy few, die mit den Bedingungen gut zurechtkamen. Es läge mir also fern, die Zeiten vor der Studienreform als Paradies zu beschreiben. Gleichwohl wurde manches, zumindest in der ersten Phase der Bologna-Reform, zu Unrecht verschüttet.

Was zum Beispiel?

Die mit Bologna eingeführte und zunächst penibel kontrollierte Anwesenheitspflicht in Seminaren hat in Kombination mit den Leistungspunkten zu einer falschen Normierung geführt. Die Studierenden sind davon ausgegangen, dass sie bereits studieren, wenn sie zwei Stunden im Seminar rumsitzen. Ein Seminar lebt aber davon, dass sie gern da sind und engagiert mitarbeiten. Die Pflicht zur Anwesenheit würde ich also als akademisches Ethos begreifen und nicht als etwas, das man vorschreiben kann. Der Akademische Senat der Humboldt-Universität hat es den Dozenten darum zu Recht schon vor einiger Zeit untersagt, die Anwesenheit zu kontrollieren.

Dann läuft es an der Humboldt-Universität also so wie vor der Studienreform?

Nein, denn nicht ganz wenige Hochschullehrer entwickeln noch jetzt atemberaubende Einfälle, die Anwesenheit indirekt zu kontrollieren, besonders wenn sie Schwierigkeiten haben, ihre Studierenden im Seminar zu halten, oder die Arbeit durch Fluktuationen beeinträchtigt wird. Sie argumentieren: „Wer Leistungspunkte vergibt, muss auch Anwesenheit verlangen.“ Das ist nachvollziehbar, steht aber im Konflikt mit einem anderen Bolognaziel: der Kompetenzorientierung. Demnach wäre es im Grunde egal, ob jemand ins Seminar kommt, solange am Ende der output stimmt.

Könnten also auch digitale Angebote das Seminar ersetzen?

Ich denke nicht, denn dies widerspräche dem universitären Konzept einer Gemeinschaft der Lehrenden und Lernenden. Vieles eignet man sich in gemeinsamer Praxis habituell von seinen Kommilitonen und Lehrern an. Das ist durch Moocs nicht ersetzbar. Ich denke, eine Pflicht zur Anwesenheit wird man dann empfinden, wenn man das Gefühl hat, man könnte im Seminar etwas verpassen.

Nach dem bundesweiten Bildungsstreik von 2009/2010 wurden den Studierenden mehr Freiräume versprochen. Wie verschult und vollgestopft sind Bachelor und Master an der Humboldt-Uni noch?

Der Bildungsstreik hat vieles verändert. In Berlin wurden manche der Forderungen in der Novelle des Hochschulgesetzes berücksichtigt. Die Hochschulen mussten Rahmenvorgaben für die Studien- und Prüfungsordnungen der einzelnen Studienfächer aufstellen. Seitdem ist es ausgeschlossen, dass bestimmte Fächer sich auf ihre „Fachkultur“ berufen, wenn sie die Studierenden ständig prüfen und alle Prüfungen benoten. Bei manchen Fächern stößt das aber weiter auf Widerstand. Nicht jeder kann nachvollziehen, warum das Berliner Gesetz etwa einem Mathematikstudierenden erlaubt, auch mal einen Kurs in den Sozialwissenschaften zu belegen.

Herrscht trotzdem weiter eine zu große Verdichtung? Schließlich haben die Hochschulrektoren und die Kultusministerkonferenz (KMK) gerade erst neue Handlungsempfehlungen für die Länder und die Unis ausgesprochen.

Es gibt auf jeden Fall noch einen großen Entschlackungsbedarf. In den Geisteswissenschaften war das einfacher, hier wurde ja immer nur exemplarisch studiert. In den Naturwissenschaften hingegen gab es die noch immer nicht ganz bereinigte Tendenz, möglichst viel aus dem alten Diplom im Bachelor unterzubringen. Dort ist die zeitliche Belastung der Studierenden oft noch zu groß. Die Empfehlung der HRK und der KMK ist aber nur ein Papiertiger. Veränderungen müssen von den Akteuren selbst gewollt werden.

Michael Kämper-van den Boogaart, Vizepräsident für Studium und Internationales der Humboldt-Universität.
Michael Kämper-van den Boogaart, Vizepräsident für Studium und Internationales der Humboldt-Universität.

© Matthias Heyde/HU

Wer ist am meisten schuld daran, dass es überhaupt zu der übertriebenen Verschulung kam? Die Kultusminister mit ihren Vorgaben? Die Akkreditierungsagenturen mit ihren bürokratischen Anforderungen? Oder die Professoren, die das eigene Spezialgebiet in die neuen Studiengänge drückten?

Die Kultusminister haben den Fehler gemacht, die Reform ohne Modellversuch sofort flächendeckend umzusetzen. Sie haben auch nicht erklärt, wie der zentrale Leitgedanke der „Kompetenzorientierung“ eigentlich in die Praxis umgesetzt und was dadurch verbessert werden soll. Die Hochschullehrer haben natürlich maßgeblich dazu beigetragen, dass der Bachelor vollgestopft wurde. Es galt als Degradierung, nur noch im Wahlpflichtbereich und nicht im Pflichtbereich vertreten zu sein. Und oft wurden die alten Lehrveranstaltungen einfach zu Modulen zusammengebunden, ohne dass diese Veranstaltungen inhaltlich eng aufeinander bezogen waren, wie Bologna es eigentlich vorsieht. Auch in der Akkreditierung muss man sich in dieser Hinsicht oft mit Kompromissformeln behelfen.

Der Bielefelder Soziologe Stefan Kühl glaubt, dass in den Studiengängen nicht wirklich Luft geschaffen werden kann, solange die Leistungspunkte nicht abgeschafft sind. Denn jeder Studienleistung muss ein zeitlicher Aufwand zugeordnet werden: 25 bis 30 Arbeitsstunden müssen einen Leistungspunkt ergeben, pro Semester sollen 30 Leistungspunkte erworben werden. Sind unter diesen Umständen Freiräume wirklich nicht möglich?

Doch. Ich halte Kühls Einschätzung für falsch. Ob es die Leistungspunkte nun gibt oder nicht: Es hängt von der Zahl der Prüfungen ab, wie viel Druck entsteht. Aber natürlich ist es unsinnig, den zeitlichen Aufwand bis zum Erreichen eines Studienziels so detailliert zu bestimmen. Die Studierenden bewegen sich nun mal mit unterschiedlicher Geschwindigkeit voran.

Zwei große Ziele der Studienreform werden wohl trotz der verschulteren Studiengänge nicht erreicht: kürzere Studienzeiten und eine niedrigere Abbrecherquote. Warum?

Die KMK erwartet, dass die Studierenden in der Woche 40 Stunden studieren und so die Regelstudienzeit einhalten. Tatsächlich jobben aber viele nebenher und können die vielen Prüfungen und die Präsenzerwartungen nicht im vorgeschriebenen Zeitraum erfüllen. Letztlich gibt es für die Studierenden auch keinen zwingenden Grund, schnell zu studieren – es sei denn, sie beziehen Bafög. Die Hochschullehrer verstehen es jedenfalls, wenn es nicht so schnell geht, sie haben ja meistens selbst mehr als acht Semester studiert. Überfüllte Seminare spielen natürlich ebenso eine Rolle, zum Beispiel auch, wenn die Begutachtung von Arbeiten zum Leidwesen Studierender länger als vorgesehen dauert.

Die KMK empfiehlt, die Hochschulen sollten nicht mehr flächendeckend zur Ausschöpfung ihrer Kapazitäten gezwungen werden, damit die Betreuung besser wird. Die KMK empfiehlt, die Hochschulen sollten nicht mehr flächendeckend zur Ausschöpfung ihrer Kapazitäten gezwungen werden, damit die Betreuung besser wird.

Ja, das mag an Hochschulen, an denen viele Studiengänge keinen Numerus clausus brauchen, funktionieren. Aber sonst ist es blauäugig. In Berlin versuchen sich ständig Bewerber einzuklagen. Deshalb musste nach höchstrichterlicher Entscheidung die berüchtigte Kapazitätsverordnung für die Bologna-Studiengänge wiederbelebt werden – mit all den kleinteiligen und oft haarsträubenden Regelungen, die letztlich dazu führen, dass ein Studieren in kleinen Gruppen die Ausnahme darstellt und Räume überfüllt sind. Für das Land geht es dabei im Zweifelsfall um Quantität, nicht um Qualität.

Die Hochschulen fühlen sich seit jeher von der Pflicht gegängelt, ihre Studiengänge in einem teuren und bürokratischen Verfahren akkreditieren zu lassen. Manche entscheiden sich darum für die Systemakkreditierung. Dabei wird nicht mehr jeder einzelne Studiengang begutachtet, sondern das Qualitätssicherungssystem der Hochschule. Kritiker sagen aber, die ganze Uni werde dadurch einer neuen bürokratischen Kontrolle unterworfen. Was plant die HU?

Die HU hatte früher den höchsten Anteil von akkreditierten Studiengängen in Berlin. Die meisten müssen nun reakkreditiert werden. Wir hätten stattdessen vielleicht auch die Systemakkreditierung angestrebt. Aber nachdem dieser Prozess an der FU und der TU nur sehr langsam vorankam, hätte es der Berliner Senatsverwaltung im Moment nicht gefallen, deswegen auf die Einzelakkreditierungen zu verzichten. Im Übrigen kommt es bei der Systemakkreditierung darauf an, wie das Qualitätsmanagement gestaltet wird. Gut ist es, wenn die Kompetenzen dafür bei den Fakultäten gelassen werden. Erteilt aber eine 35-jährige Qualitätsmanagerin 60-jährigen Hochschullehrern mit einer Power-Point-Präsentation eine Lektion über deren Fach, wird das sicher als Fremdeingriff in der eigenen Uni wahrgenommen.

Sollte die Akkreditierung ganz abgeschafft werden?

Der Meinung bin ich nicht. Hochschullehrer machen nicht von selbst alles richtig, und früher war auch nicht alles besser. Aber ich sehe es kritisch, dass die Akkreditierung zu einem Geschäft für die Agenturen geworden ist. Es ist problematisch, dass sie mit den Unis Beratungsverträge abschließen, damit diese überhaupt den Weg durch die Akkreditierung finden. Man sollte die Akkreditierung reformieren. Die Laufzeiten sollten verlängert werden, und es sollte stärker exemplarisch geprüft werden.

Die Fragen stellte Anja Kühne. - Michael Kaemper-van den Boogaart (60), Professor für Fachdidaktik Deutsch und Deutsche Literatur, ist seit 2011 Vizepräsident für Studium und Internationales an der Humboldt-Universität.

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