zum Hauptinhalt
Zweischneidig. Experimente, die Viren wie die Vogelgrippe gefährlicher machen, können sowohl nutzen als auch schaden.

© ALFRED PASIEKA/SCIENCE PHOTO LIBRARY

Dual-Use-Forschung: (K)eine Gefahr

Wie weit darf die Wissenschaft gehen? Darf man „Superviren“ züchten, um tödliche Erreger besser zu verstehen und bekämpfen zu können? Die Forschergemeinde ist gespalten. Nein, sagen die einen. Man muss sogar, entgegnen die anderen. Nun sollen endlich verbindliche Regeln gefunden werden.

Die Seuche traf die Menschheit unvorbereitet. Forscher hatten besonders leicht übertragbare Grippeviren gezüchtet, um zu lernen, welche Erbgutveränderungen die Erreger gefährlich machen. Doch die Viren entkamen aus dem Labor, durch Schlamperei oder durch einen bioterroristischen Akt. Rasend schnell verbreiteten sie sich über Flughäfen auf der ganzen Welt. Millionen Menschen starben, die Wirtschaft kollabierte.

Ein solches Szenario ist durchaus möglich, sagt Marc Lipsitch, Direktor des Zentrums für die Dynamik übertragbarer Krankheiten an der Universität Harvard in Cambridge. Dem widerspricht Ron Fouchier energisch. Der Virologe experimentiert am Erasmus Medical Center in Rotterdam mit Grippeviren. Seine Vision von der Zukunft klingt ganz anders:

In den letzten 100 Jahren haben Grippeviren 100 Millionen Menschen umgebracht. Die Hälfte starb durch die Spanische Grippe von 1918. Jetzt ist die Gefahr gebannt. Virologen wissen, wie sich die Erreger anpassen müssen, um von Vögeln oder Schweinen auf den Menschen überzuspringen. Die Wissenschaftler schlagen Alarm. Medikamente und Impfstoffe werden rechtzeitig hergestellt.

In den Kaffeepausen geht man einander aus dem Weg

Die beiden Weltanschauungen prallten in den letzten Wochen gleich zwei Mal aufeinander, auf Konferenzen in Hannover und in Washington. Bislang hatten die Lager meist über bissige Fachartikel kommuniziert. Jetzt sind sie gezwungen, ihren Zwist von Angesicht zu Angesicht auszutragen. Denn im Oktober verhängte die US-Regierung einen Finanzierungsstopp für Experimente, die Viren leichter übertragbar und gefährlicher für den Menschen machen. Er soll erst aufgehoben werden, wenn Sicherheitsfragen und Regularien geklärt sind.

Nach einem raschen Kompromiss sieht es nicht aus. So höflich die Forscher ihre Argumente austauschen, so wenig ist die eine Seite bereit, der anderen entgegenzukommen. In den Kaffeepausen geht man einander aus dem Weg, die Stimmung ist eisig. Jeder beansprucht für sich, dem Wohl der Menschheit zu dienen. Es geht um Grundsätze wie Forschungsfreiheit und den Schutz der Gesundheit. Es stehen Karrieren auf dem Spiel. Und Geld.

Der Konflikt gärt seit Ende 2011. Fouchier hatte ihn provoziert, als er auf einer Tagung seine Experimente an Vogelgrippeviren (H5N1) präsentierte. Er hatte sie so frisiert, dass sie sich über die Atemluft unter Säugetieren verbreiten konnten. Jeder verließ den Saal mit dem Gefühl, dass etwas Gefährliches geschaffen wurde, berichtete damals ein Teilnehmer.

Auch dringend nötige Experimente liegen auf Eis

Fouchiers Team hatte das Erbgut von indonesischen Vogelgrippeviren an drei Stellen verändert, von denen man wusste, dass sie den Erreger leichter auf den Menschen übertragbar machen. Dann infizierte er mehrere Frettchen in Folge. Aus den kranken Tieren isolierte er nach jeweils vier Tagen jene Viren, die es aufgrund zufälliger Erbgutveränderungen geschafft hatten, sich zu vermehren und die Atemwege zu befallen. Damit infizierte er das nächste Frettchen. Nach zehn Passagen waren die Viren so agil, dass ein Frettchen die Grippe an drei von vier Artgenossen in benachbarten Käfigen weitergeben konnte. Fouchiers anschließende Analyse ergab, dass fünf Mutationen im Viruserbgut ausreichen, um das Vogelvirus an Säugetiere anzupassen. Und vermutlich auch an den Menschen. Nun könne man schauen, ob die Veränderungen bereits in Grippeviren in der Natur existieren, argumentiert Fouchier. Eine Pandemie sei besser voraussagbar.

Fouchier ist nicht der Einzige, der solche Techniken („gain-of-function“) anwendet. Der von der US-Regierung verhängte Stopp betrifft alle „Forschungsprojekte, bei denen mit einiger Sicherheit angenommen werden kann, dass Grippe-, Mers- oder Sars-Viren Eigenschaften vermittelt werden, die sie pathogener und/oder leichter übertragbar über die Atemwege machen“. In manchen Laboren liegen Experimente auf Eis, die dringend nötig sind – zum Beispiel am Coronavirus Mers, das eine lebensgefährliche Lungenentzündung verursacht und sich in Saudi-Arabien verbreitet. Dort, wohin Jahr für Jahr Millionen Muslime pilgern.

Allein Anfang Dezember infizierten sich auf der arabischen Halbinsel elf Menschen, meldet die Weltgesundheitsorganisation WHO. Weltweit gab es 938 Mers-Infektionen, von denen 343 zum Tod führten. Nach wie vor befürchten Experten, dass sich Mers besser an den Menschen anpasst und sich dann ähnlich wie Sars 2002 weltweit verbreiten könnte. Doch der Finanzierungsstopp schloss zunächst auch Versuche ein, die dieses Virus so verändern sollten, dass es sich in Labormäusen oder -ratten ähnlich wie im Menschen vermehrt. Nur so können es Virologen erforschen. Zwei Dutzend ähnlicher Experimente sollen ebenfalls betroffen sein. Zumindest für sieben Experimente, die „unbedingt nötig sind, um die öffentliche Gesundheit zu schützen“, machten die Nationalen Gesundheitsinstitute NIH am Freitag Abend überraschend eine Ausnahme.

Unersetzbare Hinweise auf die Vorgänge in der Natur?

Dass bestimmte Arbeiten nützlich sind, bestreiten die Kritiker nicht. Die Frage ist, ob der mögliche Nutzen pandemiefähig gemachter Viren wirklich so groß ist, dass man das Risiko in Kauf nehmen sollte. Simon Wain-Hobson bestreitet das. Die Behauptung, dass das künstliche Scharfmachen der Viren unersetzbare Hinweise auf die Vorgänge in der Natur liefert, hält er nicht für schlüssig. Sein Urteil hat Gewicht, denn der Experte für das Aidsvirus HIV arbeitet am Pasteur-Institut in Paris. Er vergleicht Fouchiers Ansatz mit der Hundezucht. Zwar hat die menschlich gesteuerte Selektion das Erbgut des Wolfs so verändert, dass Dackel, Boxer und Schäferhund entstanden sind. Ob die Natur jemals diese Entwicklungspfade beschritten hätte, sei fraglich. Genauso unsicher sei, ob die Viren aus Fouchiers Experimenten an Frettchen und Mäusen widerspiegeln, wie sich die Erreger in der Natur, in Vögeln, Schweinen oder Menschen verändern.

Selbst wenn es gelänge, unter den tausenden Grippevarianten in Vögeln einen für Menschen gefährlichen Typus zu identifizieren, wäre diese Information nicht hinreichend, um rechtzeitig einen Impfstoff herzustellen, sagt Adel Mahmoud von der Universität Princeton. Er war jahrelang beim Pharmakonzern Merck für die Entwicklung von Grippeimpfstoffen verantwortlich. Sinnvoller sei es, in die Suche nach einem universellen Influenza-Impfstoff zu investieren. Unter anderem Peter Palese vom Mount-Sinai-Krankenhaus in New York versucht, dem menschlichen Immunsystem beizubringen, gegen Teile des Virus vorzugehen, die bei allen Varianten gleich sind.

Dennoch befürwortet Palese virenfrisierende Experimente – nicht nur, weil er vor über 20 Jahren die dafür nötige Technik entwickelt hat. „Wenn wir mehr und mehr Restriktionen durch Behörden bekommen, dann werden wir keine Erfolge mehr haben wie derzeit in der Behandlung von HIV- oder Hepatitis-C-Infizierten“, sagt Palese. An die Horrorszenarien der Gegenseite glaubt er nicht.

Rigorose Abschätzung von Nutzen und Risiko

Lässt sich das Risiko überhaupt abschätzen? Marc Lipsitch fordert: „Experimente, die die Möglichkeit einer Pandemie bergen, sollten einer rigorosen, quantitativen und glaubwürdigen Risikoabwägung unterzogen werden.“ Bevor sie erlaubt werden, solle man nach sichereren Alternativen suchen. Er verweist auf bisher registrierte Unfälle in Laboren der biologischen Sicherheitsstufe 3 (BSL-3).

2007 infizierten Viren, die aus einem BSL-3-Labor im britischen Pirbright stammten, mindestens 60 Rinder in der Umgebung mit Maul- und Klauenseuche. In Singapur erkrankte 2003 ein Doktorand an Sars. Er arbeitete an Proben mit dem West-Nil-Virus, die mit Sars verunreinigt waren. Im gleichen Jahr infizierte sich ein BSL-4-Labormitarbeiter in Taiwan mit dem Sars-Virus, weil er seinen Arbeitsplatz nicht vorschriftsmäßig säuberte. Ein Jahr später traf es zwei Laborangestellte in einem BSL-3-Labor in Peking – sie steckten sieben Menschen an. Vermutlich ist auch die Grippewelle von 1977 auf ein Virus zurückzuführen, das aus einem Labor geschleppt wurde. Im sibirischen Sicherheitslabor „Vektor“ steckten sich Forscher 1988, 1990 und 2004 mit Ebola beziehungsweise Marburg an – nur einer überlebte. In den USA zählt Lipsitch „mindestens 13 Labor-Infektionen zwischen 2002 und 2008 in BSL-3-Einrichtungen“.

Und im Juli dieses Jahres entdeckte ein Forscher in einem Labor der Nationalen Gesundheitsinstitute der USA (NIH) 60 Jahre alte Behälter mit Pockenviren. Diese dürfen eigentlich nur an zwei Orten der Welt existieren. Als daraufhin alle Schränke und Kammern durchsucht wurden, fanden die Behörden Behälter mit Pest-, Botulismus- und Tularämie-Bakterien und mit Erregern der Tropenkrankheit Melioidose. Und im Juni hatten Mitarbeiter der amerikanischen Seuchenbehörde CDC Anthrax-Bakterien in einem BSL-3-Labor nicht sorgfältig genug angetötet, bevor sie sie an ein BSL-2-Labor verschickten. Niemand kam zu Schaden. Doch die Vorfälle änderten die Einstellung der Behörden: Unfälle sind nicht auszuschließen.

Regeln schaffen auch Rechtssicherheit für den Forscher

Lipsitch errechnet mithilfe solcher Vorfälle, dass Experimente mit krankheitsauslösenden Viren pro Laborjahr zwar nur mit einer geringen (0,01- bis 0,1-prozentigen) Wahrscheinlichkeit zu Unfällen führen. Wenn die Viren entkommen und eine Pandemie auslösen, könnten sie jedoch zwei Millionen bis 1,4 Milliarden Menschen töten. Als Lipsitch diese Schätzungen vorträgt, schütteln Fouchier und andere Forscher den Kopf und können ihren Ärger kaum zurückhalten. In der Diskussion weisen sie Lipsitch’ Schätzungen wütend als „völlig überzogen“ zurück.

Dass sich Fouchier und andere Virologen so sehr dagegen wehren, Kommissionen, die die Gesellschaft einbinden, über potenziell gefährliche Forschung entscheiden zu lassen, kann Lipsitch nicht verstehen: „Forscher und Förderer entscheiden ständig, welche Experimente sich eignen, um eine Frage zu beantworten.“ So etwas sei nicht nur üblich, sondern eine Entlastung, sagt Silja Vöneky, Rechtswissenschaftlerin an der Universität Freiburg, die an der Stellungnahme des Deutschen Ethikrats zur „Biosicherheit“ mitgewirkt hat. „Wenn eine Kommission in einem rechtlich bindenden Verfahren beschließt, dass ein Experiment erlaubt ist, dann ist der Forscher persönlich nicht mehr haftbar, falls etwas passiert.“ Andernfalls schon.

In der Finanzierungszwangspause sollen endlich verbindliche Regeln festgeschrieben werden, etwa über die gesonderte Begutachtung solcher Forschungsprojekte (Dual Use Research of Concern): „Die Entscheidung kann nicht allein bei Forschern liegen“, sagt der ehemalige Präsident des Institute of Medicine, Harvey Fineberg, der in dem Streit vermitteln soll. „Das ist eine Frage von gesellschaftlichem Fortschritt und Risiko.“ Die Perspektiven und die Werte der Öffentlichkeit sollten repräsentiert sein. Bislang habe sich keine Seite wirklich mit diesem Problem beschäftigt, sagt Fineberg: „Weder Politiker noch Wissenschaftler haben die Anstrengung unternommen, miteinander zu reden und Lösungen zu entwickeln.“

Zur Startseite