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Nerven-Bypass

© Ohio State University Wexner Medical Center/ Battelle

Greifbarer Erfolg: Wie ein Gelähmter die eigene Hand bewegt

Seit einem Badeunfall ist Ian Burkhart ständig auf die Hilfe anderer angewiesen. Ein Hirnimplantat schenkt ihm neue Hoffnung.

Es sollte ein Strandurlaub mit Freunden werden, der Abschluss des ersten Jahres am College. Die jungen Männer konnten es kaum erwarten und rannten ins Meer. Ian Burkhart tauchte unter einer Welle hinweg. Die Strömung schleuderte ihn mit Wucht gegen eine Sandbank. „Das Wasser war an dieser Stelle viel flacher, als ich dachte“, erinnert er sich an den Tag im Sommer 2010. Der damals 19-Jährige brach sich den Hals und verletzte dabei sein Rückenmark am fünften Halswirbel. Seine Kommilitonen zogen ihn aus dem Wasser. Ein Feuerwehrmann, der das Geschehen vom Strand aus beobachtet hatte, rief den Notarzt. „Ich hatte Glück“, sagt Ian Burkhart. Er hat den Unfall überlebt.

Aber seitdem ist er von den Schultern abwärts gelähmt. Arme und Ellbogen kann er grob bewegen, seine Hände und Handgelenke sind dagegen nutzlos. Im Alltag ist Burkhart ständig auf die Hilfe anderer angewiesen. Diese Abhängigkeit – und weniger die Tatsache, dass er im Rollstuhl sitzt – macht ihm zu schaffen. Umso größer war die Erleichterung, als er 2014 in einem Labor an der Ohio State University in Columbus erstmals die eigene Hand wieder öffnen und schließen konnte. Möglich machte das ein neues Bypass-System, das die elektrischen Signale einiger Hundert Nervenzellen aus der Bewegungszentrale des Hirns (Motorkortex) in Befehle für die Muskeln im Unterarm übersetzt. „Es war ein Hoffnungsschimmer, dass sich mein Leben verbessern kann“, sagt Burkhart. Auch die Forscher um Ali Rezai ließ die kleine Handbewegung nicht kalt. „Nach der ersten Begeisterung war uns allerdings schnell klar, dass die eigentliche Arbeit vor uns liegt“, sagt Rezai. Die Ergebnisse stellen sie nun im Fachblatt „Nature“ vor.

Ein Algorithmus als Dolmetscher zwischen Hirn und Muskeln

Ähnlich wie bei anderen Experimenten mit Schnittstellen, die das Gehirn mit einem Computer verbinden (Brain-Computer-Interfaces oder kurz: BCI), begann es mit einer Operation. Chirurgen öffneten Burkharts Schädeldecke und pflanzten ihm ein etwa erbsengroßes Silikonplättchen mit 96 haarfeinen Elektroden ein. Sie ragen jeweils 1,5 Millimeter in das Hirnareal, das für die Bewegung seiner rechten Hand zuständig ist und zeichnen dort die Aktivität von Nervenzellgruppen auf. Die Signale werden über einen dünnen Draht an eine Schnittstelle auf der Kopfhaut weitergeleitet.

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An diese Apparatur gewöhne man sich schnell, sagt Burkhart. Stören würden eher all die Kabel. Dreimal pro Woche kommt er ins Labor und jedes Mal schrauben die Forscher an seinem Kopf eine streichholzschachtelgroße Box fest. Ein fingerdicker Kabelstrang verbindet dann seinen Schädel mit einem Computer. Während des Trainings sieht er auf dem Bildschirm eine Bewegung der rechten Hand und stellt sie sich vor. Seine Gedanken überträgt der Computer mithilfe eines Algorithmus für maschinelles Lernen in Aktivitätsmuster für die 130 Elektroden, die auf acht Banden einer abnehmbaren Armmanschette angebracht sind. Sie stimulieren durch die Haut hindurch die Muskeln und ermöglichen eine Bewegung des eigenen Handgelenks, der Hand und sogar einzelner Finger. „Der Algorithmus übersetzt die Sprache des Gehirns in die der Muskeln“, sagt Chad Bouton, der die Versuche am Battelle Memorial Institute in Columbus geleitet hat.

Am Anfang war das Training so anstrengend wie eine Prüfung

Während die Maschine bei jedem Training lernt, echte Signale besser vom Hintergrundrauschen der Nerven zu unterscheiden, übt auch Ian Burkhart den Umgang mit dem System. „Am Anfang musste ich mich derart konzentrieren, dass ich nach kurzer Zeit so k.o. war wie nach einer fünfstündigen Prüfung“, sagt er. Mittlerweile kann er wie selbstverständlich zum Beispiel eine Flasche anheben, etwas in ein Glas füllen und den Inhalt mit einem Löffel umrühren – was viel Feinmotorik erfordert. Er kann steuern, wie fest er zugreift. Mithilfe des Nerven-Bypasses meistert er Computerspiele wie „Guitar Hero“ und kann eine Kreditkarte durch einen Magnetkartenleser ziehen. Der Weg dorthin war durchaus steinig. „Zuerst konnte Ian zwar etwas greifen und anheben, ließ es dann aber sofort wieder fallen“, sagt Bouton. „Das Festhalten erforderte ein völlig anderes Aktivitätsmuster. Das mussten wir erst der Maschine beibringen.“

Anders als bei anderen BCIs entschieden sich die Forscher dagegen, einen Roboterarm oder ein Exoskelett einzusetzen. Das System sollte so einfach und praktikabel wie möglich sein, aber keine zusätzlichen OPs erfordern. Nur so könne es in absehbarer Zeit Patienten den Alltag erleichtern kann, betonen sie. Außerdem sei es psychologisch wichtig, Herr über den eigenen Körper zu sein, meint Bouton. Burkhart pflichtet ihm bei. „Mit so einem System hat man die Chance, wie ein normales Mitglied der Gesellschaft zu funktionieren und wird nicht etwa als Cyborg wahrgenommen“, sagt er.

Für eine kabellose Variante ist die Datenmenge ein Problem

Am liebsten würde Ian Burkhart den Nerven-Bypass sofort mit nach Hause nehmen. Oder besser: eine kabellose Variante, die noch mehr Nervenzellen belauscht und über ein Smartphone Muskel-Stimulationsmuster an Elektroden überträgt, die in Kleidungsstücke eingearbeitet sind. „Wer weiß, was in zehn Jahren geht“, sagt Nick Annetta vom Battelle Memorial Institute. Bisher sei für eine Wireless-Technologie schon die schiere Datenmenge ein Problem. „Wir senden derzeit alle drei Minuten ein Gigabyte Daten, die der Algorithmus in Echtzeit auswerten und übersetzen muss.“

Eine weitere Hürde für die dauerhafte Nutzung von BCIs ist die Natur: Die eingepflanzten Elektroden sind ein Fremdkörper für das Gehirn, das es nach und nach abkapselt. Nach einigen Jahren verschlechtern sich die Signale. „Wir lernen alle noch“, sagt Bouton.

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