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Der andere Blick. Oliver Sacks versuchte, sich in die Welt seiner Patienten zu begeben – auch darin gründete sein Erfolg. Am 30. August 2015 starb er.

© AFP

Oliver Sacks: Geschichten über das Gehirn

Er schrieb zahlreiche Bestseller wie „Der Tag, an dem mein Bein fort ging“ oder die Vorlage für den Film „Zeit des Erwachens“. Heute wird der populäre Neurologe und Autor Oliver Sacks 80 Jahre alt.

Er sei die „Scheherazade der Neurologie“ hieß es wohlwollend, als 1985 sein berühmtester Sammelband „Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte“ erschien. In der Titelgeschichte geht es um einen Musikprofessor, der zum Beispiel Parkuhren tätschelt, weil er sie für Kinder hält. Der Neurologe und Autor Oliver Sacks hatte herausgefunden, dass der Mann nicht „verrückt“ war, sondern an einer gravierenden Störung im Sehzentrum des Gehirns litt. Er hatte die Fähigkeit verloren, Gesehenes zu deuten.

Kollegen haben Sacks anfangs argwöhnisch beäugt. Manche warfen ihm vor, zu „unwissenschaftlich“ zu schreiben. Andere wandten ein, er schildere nur ausgesprochen seltene und bizarre Fälle, stelle seine Patienten zur Schau. Mittlerweile sind die Bücher des Neurologen auch in der Fachwelt weitgehend anerkannt. Von Patienten und ihren Angehörigen bekommt er ohnehin Unmengen Post. Sie hoffen, der Arzt möge sich ihren verzwickten Fall genauer anschauen.

Oliver Sacks wurde am 9. Juli 1933 in London als Kind einer großen jüdischen Ärzte-Familie geboren. Zur Neurologie hat ihn vermutlich die Krankheit eines unter Wahnvorstellungen leidenden Bruders gebracht, schrieb er 2001 in seiner Autobiografie (auf Deutsch: „Onkel Wolfram“). Wie entsteht aus dem Zusammenspiel von Millionen Nervenzellen Denken, Gefühl, Bewusstsein, Erinnerung oder Identität? Diese Frage war es, die Sacks faszinierte und antrieb. Sacks ging 1960 in die USA und erhielt fünf Jahre später eine Professur am Albert-Einstein-College in New York. Später gehörte er der Columbia-Universität an, gab Seminare und betreute Patienten. Bis zu seiner Pensionierung arbeitete er zugleich an einer Klinik in der Bronx. Heute ist Sacks Professor an der New York School of Medicine.

Die biografischen Fallgeschichten, die ihn bekannt gemacht haben, orientieren sich vor allem an dem russischen Neuropsychologen Alexander Lurija (1912–1977). „Für mich sind Schreiben und Medizin, Schreiben und Wissenschaft nichts Getrenntes, sie ergänzen einander“, sagt er. Es geht ihm in seinen Büchern nicht einfach um „Fälle“. Vielmehr erzählt er warmherzig die Lebensgeschichten von Patienten, deren Welt etwas anders ist als die, die wir gewohnt sind.

Fast alle Bücher wurden zu Bestsellern, darunter „Awakenings“, von Harold Pinter als Theaterstück verarbeitet und verfilmt unter dem deutschen Titel „Zeit des Erwachens“ mit Robin Williams und Robert de Niro in den Hauptrollen. Es geht um die Geschichte der von der Medizin vergessenen, in den USA Überlebenden der „Europäischen Schlafkrankheit“, die der Neurologe Sacks mit dem damals neuen Mittel L-Dopa aus ihrer Lethargie holen konnte. Leider nur für kurze Zeit.

Sich selbst bezeichnet Sacks gern als „Neuroanthropologe“, als Erforscher von dem, was „psychisch krank“ heißt in verschiedenen Denkwelten. Damit verbunden ist eine fundamentale Kritik an Teilen des medizinischen Denkens: „Alles Lebende ist zerstampft, pulverisiert, in kleinste Teile zerlegt.“ Dass die Neurologie gelernt habe, viele Störungen im Gehirn genau zu lokalisieren, heiße nicht, sie damit erklären zu können, mahnt Sacks. Dennoch legt er Wert darauf, dass die Medizin auf naturwissenschaftlicher Grundlage gedeihen solle.

Sacks hat erlebt, welche bizarren Folgen kleine Abweichungen im Gehirn haben. Ein Melanom am rechten Auge rief Halluzinationen hervor. Nach einem komplizierten Beinbruch war Sacks Körperwahrnehmung erheblich gestört – festgehalten in: „Der Tag, an dem mein Bein fort ging“. Und Gesichter kann er sich von Geburt an nicht merken, eine neurologische Besonderheit, die ihn immer wieder in peinliche Situationen brachte – bis er entdeckte, dass sein Gehirn anders funktioniert als das seiner Mitmenschen und sie nun bittet, ihm die Gesichterblindheit nicht übel zu nehmen.

Oliver Sacks jüngstes Werk „Drachen, Doppelgänger und Dämonen – über Menschen mit Halluzinationen“ ist bei Rowohlt erschienen. Preis: 22,95 Euro.

Justin Westhoff

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