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Wissen: Hitler – ein Bedürfnis

Die Deutschen waren vom "Führer" fasziniert. Der Propagandabegriff "Volksgemeinschaft" trug dazu bei.

Wie konnte sich das NS-Regime halten, zwölf Jahre lang und bei immer weiter zunehmender Gewalt? Wie vermochte es die bereitwillige Zustimmung der Deutschen ungeachtet aller Zumutungen und wachsender Unterdrückung zu sichern? Das bleibt ein großer Fragenkomplex bei der Beschäftigung mit dem „Dritten Reich“, dem hinterher, nach dem katastrophal verlorenen Krieg, niemand mehr gefolgt sein wollte. Doch das Gegenteil ist wahr, wie die Referenten des Symposiums „Hitler und die Deutschen“ am vergangenen Wochenende im Deutschen Historischen Museum Berlin (DHM) ausführten. Dem „Führer“ „entgegengearbeitet“ zu haben, wie Hitler-Biograf Ian Kershaw zur zentralen Aussage seines 2300 Seiten umfassenden magnum opus gemacht hat, war das Bedürfnis vieler, wenn nicht der meisten Deutschen.

Es gab eine lang anhaltende Faszination durch den „Führer“, die ihren Höhepunkt nach dem Sieg über Frankreich 1940 erlebte und nach der Niederlage von Stalingrad Anfang 1943 ihren Tiefpunkt. Danach hat Hitler keine öffentliche Rede mehr gehalten. Das Herrschaftssystem zerbröselte immer mehr, so Hans Mommsen, die „führerimmediaten Sonderbehörden“ gewannen an Macht, doch um den Preis der „Auflösung der Staatsgewalt“. Zugleich schreckte Hitler vor einer durchgreifenden Reform des Staatswesens zurück, wie sie der Verwalter der Partei, „Reichsleiter“ Martin Bormann, betrieb. 43 „Reichsgaue“ wuchsen zu veritablen Territorialherrschaften heran, doch verlor der Gesamtstaat an Gestaltungsmacht.

Niemand kannte die Politik des Reiches im Einzelnen. Hitler fertigte seine „Führerbefehle“ auf privatem Briefpapier aus, ohne Gegenzeichnung oder Veröffentlichung. Die konkurrierenden, um die Gunst Hitlers buhlenden Machtzentren in immer weiter wuchernden Bürokratien sind gut erforscht. Doch nicht die Binnenkonstruktion des NS-Regimes war das beherrschende Thema des Berliner Symposiums, sondern die „Volksgemeinschaft“. Sie fand in symbolischen Gesten ihren Ausdruck, vor allem der Architektur, die Hitler als selbst ernannter Baumeister bis zum Ende seines Regimes pflegte. Durch große Bauten, so der Münchner Architekturhistoriker Winfried Nerdinger, sollte „der Volksgemeinschaft ein Gefühl ihrer eigenen Größe gegeben“ werden. Darin lag durchaus eine antikapitalistische Note; die Großbauten der „Bewegung“ sollten sich sichtbar über die Bauten von Partikularinteressen erheben.

Nerdinger betonte, dass die im Nachhinein als megaloman gescholtenen Vorhaben der Nazis fallweise „durchgerechnet“ gewesen seien. Für den geplanten Münchner Hauptbahnhof mit einer 270 Meter Spannweite messenden Kuppel habe es „30 Leitz-Ordner“ Berechnungen gegeben. Die in solchen Vorhaben zutage tretende Dynamik des Hitler-Regimes wurde im Symposium immer wieder betont. So verwies Michael Wildt (Humboldt-Universität Berlin) beispielhaft auf die Flugzeugindustrie, die 1933 gerade einmal 4000 Arbeitsplätze bot, 1939 hingegen 320 000. Die „Reichsberufswettkämpfe“ unter dem Motto „Freie Bahn dem Tüchtigen“ eröffneten ungeahnte Aufstiegschancen. Das Menschenbild der Nazis war höchst utilitaristisch: „Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen“, hieß es, ein Spruch allerdings, den auch Lenin im Munde führte. Was im Sowjetkommunismus als Klassenfeind ausgeschieden wurde, war im NS-System der „rassisch“ bestimmte „Volksfremde“. Dieses Feindbild half wesentlich mit, die erstrebte Volksgemeinschaft zu stabilisieren.

Merkwürdigerweise stand derjenige Historiker, der die Beurteilung der Volksgemeinschaft in eine neue Bahn gelenkt hat, nicht auf der Rednerliste: Götz Aly. Sein Buch „Hitlers Volksstaat“ machte 2005 Aufsehen, weil es die Einbeziehung und Beteiligung nahezu der gesamten Bevölkerung an den europaweiten Raubzügen des Regimes nachwies. Also kein besonderer urdeutscher Antisemitismus, sondern schlicht Komplizenschaft bei der Ausbeutung Europas war es, Aly zufolge, was den Hitler-Staat zusammenhielt.

Das sieht Ian Kershaw anders. Der Verfasser der maßgeblichen Hitler-Biografie gab in seinem Eröffnungsvortrag die Richtung mit dem Titel „Führerstaat – Charisma und Gewalt“ vor. Weit stärker als in seinem Buch gewichtete Kershaw im voll besetzten Kinosaal des DHM die Bedeutung des Charismas, ganz im Sinne Max Webers als außeralltägliche Qualität einer Person, die die subjektive Wahrnehmung seiner Bewunderer herausfordert. Dabei ist das Charisma inhaltlich nicht bestimmt – es ist ein Wirkungsmechanismus, Weber nennt es eine „Chance“.

Allerdings wurde im NS-Staat die legal-bürokratische Herrschaft zunehmend durch willkürliche Machtausübung aufgeweicht. Hitler vermied konkrete Zielsetzungen, bis auf zwei: zum einen die Überwindung der Klassengesellschaft durch die „Volksgemeinschaft“ und zum anderen die gewaltsame Abrechnung mit den Feinden, den marxistischen „Novemberverbrechern“ und den Juden. Die klassenlose Gesellschaft ließ sich nicht herstellen, aber die Ausgrenzung der Juden mit Gewalt durchsetzen. Dabei stützt sich Kershaw auf Hans Mommsens Begriff der „kumulativen Radikalisierung“, um die Gewaltdynamik des „Führerstaates“ zu beschreiben. Die Eskalierung der Gewalt im Kriege und dort besonders in den zu „Lebensraum“ erklärten Gebieten Osteuropas war kein Zufall, sondern Folge der Radikalisierung der Gesellschaft.

Brigitte Hamann, die die Wiener Zeit Hitlers erforscht hat, wies in ihrem Vortrag „Vom Trommler zum Führer“ auf die Erfahrung des habsburgischen Vielvölkerstaates hin, den der junge Hitler weidlich hasste. Er strebte den Anschluss Deutsch-Österreichs an Deutschland an, was die Alliierten 1918 bekanntlich verhinderten. Antisemitismus lag dem jungen Hitler fern, wie Hamann betonte. Hinzuzufügen wäre, dass der Antisemitismus in Wien allerdings stark ausgeprägt war, durchsetzt mit sozialen Tendenzen, die in Richtung der späteren „Volksgemeinschaft“ weisen.

Seit 1928 ist die NSDAP nicht mehr in erster Linie als politische Partei zu sehen, sondern als soziale Bewegung, meint der Historiker Armin Nolzen. Er pointierte nochmals Kershaws Deutung des Charismas, indem er es als „Zuschreibungscharisma“, weniger als „Eigencharisma“ sieht. Ab 1933 habe Hitler als Führerfigur nicht mehr wie zuvor zur Verfügung gestanden. Die frühere, persönliche Interaktionsbeziehung konnte in der Vermittlung durch Wochenschauen oder im Rundfunk nicht mehr wirken.Oft habe es regelrechte Enttäuschung bei den Gefolgsleuten gegeben.

Die Konzentrierung aller Herrschaft auf Hitler führte zum Sozialdarwinismus, so Hans Mommsen in seinem Vortrag „Zerstörung der Politik und Amoklauf des NS-Regimes“. Die NS-Bewegung sei als Propaganda-Bewegung „strukturell zur Politikgestaltung unfähig“ gewesen, bei Hitler sei eine „Flucht vor jeder Form von Staatlichkeit“ zu beobachten.

Birthe Kundrus vom Hamburger Institut für Sozialforschung radikalisierte die Fragestellung der Tagung, indem sie die „Volksgemeinschaft“ als „Kampfgemeinschaft interpretierte: Der Massenmord sei „zur Überraschung der NS akzeptiert“ worden. Damit rückt sie in die Nähe der Goldhagenschen Hypothese von einer mörderischen Disposition der Deutschen – was empirisch nicht zu halten ist.

Die von dem Münsteraner Historiker Hans-Ulrich Thamer, mit dem „Exzellenzcluster Religion und Politik“ Mitveranstalter des Symposiums, eingangs gestellte Frage nach der Tragweite des Begriffs „Volksgemeinschaft“ blieb letztlich offen. Diese Gemeinschaft war zugleich von Aufstiegswünschen wie von Ausgrenzungspraktiken bestimmt. „Volksgemeinschaft“ und „Führermythos“ bedingen einander wechselseitig. Im kommenden Jahr wird die Ausstellung „Hitler und die Deutschen“, zu der die gleichnamige Tagung den Weg wies, im DHM zeigen, in welchen Bildern sich „Volk“ und „Führer“ darstellten respektive von der gelenkten Medienmaschinerie gezeigt wurden. Dann wird besser zu beurteilen sein, ob die „Volksgemeinschaft“ nur ein Propagandabegriff war oder ob sich mit ihr die historische Realität ertragbringend beschreiben lässt.

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