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Andrea Nahles, 41, ist Generalsekretärin der SPD und seit Januar 2011 Mutter

© Mike Wolff

Andrea Nahles: "Mit der Sehnsucht habe ich so nicht gerechnet"

SPD-Generalsekretärin Andrea Nahles war von anderen berufstätigen Müttern gewarnt worden. Ein Gespräch über weibliche Macht, Väter im Sandkasten und den Genuss des Stillens.

Von

Frau Nahles, Sie sind die erste Frau, die in einem Spitzenamt in der deutschen Politik ein Kind bekommen hat und …

... eine von zigtausenden Frauen, die Beruf und Kind vereinbaren. Für manche dadurch offenbar immer noch eine Art Feindbild. Ich habe viele Briefe bekommen mit dem Tenor, dass ich das Kind meiner Karriere opfern würde.

Stammen die Briefe von Männern oder von Frauen?

Überwiegend von Männern, und das Erstaunliche ist, dass im Briefkopf Namen und Adressen stehen. Wir bekommen hier im Willy-Brandt-Haus unfreundliche Post zu allen möglichen Themen. Doch die bitterbösen Briefe sind fast immer anonym. Diejenigen Schreiber, die mich jetzt beispielsweise fragen, warum ich überhaupt Kinder kriege, tun das aber offenbar im Brustton der Überzeugung. Dass Frauen in Deutschland als Mütter weiter berufstätig sind, scheint mittlerweile akzeptiert. Vor allem in der Teilzeitvariante. Aber dass Frauen mit kleinem Kind berufliche Ambitionen verfolgen, rührt offenbar bei vielen doch noch an ein Tabu. Als Mutter sollte man mit einem Platz in der zweiten Reihe zufrieden sein. Wenn man es nicht tut, quietscht es in Deutschland, und das im Jahr 2011!

Wie oft sehen Sie Ihre Tochter?

Ich versuche, mir die Wochenenden für sie freizuhalten und einen Tag in der Woche, an dem ich bei uns zu Hause in der Eifel Heimarbeit mache. Wenn an einem Wochenende doch mal Termine anstehen, dann nehme ich mir an einem anderen Tag Zeit. Das ist manchmal mächtig viel Organisationsarbeit, aber es klappt gut. An den Tagen, an denen ich in Berlin bin, arbeite ich dafür oft von morgens sieben Uhr durch bis in die Nacht. Wenn ich schon darauf verzichten muss, meine Tochter zu sehen, schaffe ich weg, so viel ich kann.

Haben Sie manchmal ein schlechtes Gewissen?

Nein, denn die Entscheidung, weiter in meinem Beruf zu arbeiten, habe ich bewusst getroffen und lange durchdacht. Es ist eher die starke Sehnsucht, mit der ich so nicht gerechnet hatte – auch wenn mich viele berufstätige Mütter vorgewarnt hatten. In Frankreich und in den skandinavischen Ländern ist das ein viel gängigeres Rollenmodell. Ich hatte letztens einen Workshop mit Französinnen zum Thema Frauen auf dem Arbeitsmarkt. In Frankreich haben Frauen sogar drei und vier Kinder und arbeiten trotzdem Vollzeit. Ich habe in den Gesprächen bemerkt, der entscheidende Unterschied ist, dass viele Französinnen einfach nicht so viele Skrupel haben.

Was meinen Sie mit Skrupel?

Die machen sich nicht so einen Wahnsinnskopf, eine perfekte Mutter sein zu müssen. In Frankreich gilt ein Kind viel früher als Mensch, der seinen eigenen Weg geht. Die Frauen dort haben auch kein Problem damit, frühzeitig eine Nanny zu beauftragen. Ich selbst bin da anders, ich bin sozusagen eher deutsch …

… und müssen dabei lachen. Wirkt das traditionelle deutsche Mutterbild bei Ihnen nach?

Unterbewusst sicherlich schon. Aber ich vermisse meine Tochter auch einfach.

Haben Sie den Satz schon mal zu hören bekommen: Ein Kind braucht seine Mutter!

Unzählige Male, und das bekommt sicherlich jede berufstätige Mutter zu hören, jeweils ganz unterschiedlich verpackt. „Ja, ja, das Kind will auch zur Mutter.“ Oder: „So viel Zeit hast du ja mit dem Kind auch nicht.“ Hinter diesen in politisch korrekte Formulierungen gekleideten Bemerkungen steckt ein ganzer Kosmos von Skepsis.

Das Mutterbild in Deutschland scheint in den vergangenen Jahren konservativer geworden zu sein.

Seit den wissenschaftlichen Erkenntnissen, dass frühkindliche Förderung Erfolge bringt, wird die Mutter neu in Haftung dafür genommen, dass das mit der Förderung auch optimal klappt. Warum ist es nicht egal, ob mein Kind zwei Monate früher oder später laufen kann? Ich habe das Gefühl, dass die Leistungsgesellschaft schon in die Krabbelstube einzieht. Und diese Thesen der sogenannten Tigermutter finde ich so indiskutabel, dass ich mir extra ihren Namen nicht merke…

Sie meinen Amy Chua. Die Bestsellerautorin fordert kompromisslose Strenge. Eine ihrer Töchter brachte es als Pianistin bis in die Carnegie-Hall.

Schön. Aber ich glaube, dass derart gedrillte Kinder sehr häufig irgendwann ausbüchsen. Irgendwann kippt es, weil die Kinder in ihrer Persönlichkeit nicht mitgewachsen sind.

Lesen Sie Erziehungsratgeber?

Da gibt es so viele unterschiedliche Modelle. Ich habe ein Buch, das heißt „Oje, ich wachse!“, das hat mir persönlich sehr geholfen, da steht beispielsweise drin, dass es okay ist, wenn man unsicher ist. Das ist normal. Da finden Sie viele O-Töne von Müttern und Vätern, die einem aus dem Herzen sprechen.

Heute lautet das Mantra: Kinder brauchen Regeln.

Das finde ich richtig. Man sollte hinzufügen: Kinder brauchen Aufgaben, die sie bewältigen können. Ich hatte immer das Gefühl, ich werde in meiner Familie gebraucht. Das war ein gutes Gefühl. Mein Bruder war fürs Rasenmähen zuständig, ich habe Kuchen gebacken. Und seitdem ich zehn Jahre alt war, hatte ich die Verantwortung, Küche Flur und Treppe ordentlich zu halten. Meine Mutter hat sich darauf verlassen, dass ich das mache. Bei meinem Bruder war das auch so.

Ihre Mutter war berufstätig: Finanzangestellte.

Ja, Vollzeit, bis ich acht war, danach halbtags. Das war exotisch damals in einem Dorf in der Eifel. Ich war nicht im Kindergarten, weil es den nicht gab. Erst in der Grundschule habe ich dann bemerkt, die Mütter der anderen sind alle zu Hause.

Litten Sie darunter, dass Ihre Mutter weniger Zeit für Sie hatte?

Nein. Nur bei Kindergeburtstagen hatten die Mütter der anderen viel mehr Spiele vorbereitet. Mein Vater hat stattdessen einen Grill aufgestellt, das war auch schön.

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Es gibt einen neuen Typus der deutschen Hausfrau: die Latte-Macchiato-Mütter vom Prenzlauer Berg.

Ich habe bis vor kurzem in der Bötzowstraße gewohnt, mittendrin. Ich bin jetzt nach Britz gezogen, weil es da einen Park und viel Grün gibt, wenn Ella in Berlin ist, und nicht nur so ein paar Spielplätze. Viele der Latte-Macchiato-Mütter, wie Sie sie nennen, haben sich entschieden, aus dem Beruf auszusteigen und fühlen sich damit offenbar ganz gut, solange die Ehe funktioniert. Aber was passiert, wenn diese Beziehungen zerbrechen?

Wenn Kinder da sind, fallen viele Paare in traditionelle Rollenmuster zurück.

Ich will die Lebensplanung anderer Menschen nicht beurteilen oder gar kritisieren. Doch ich finde es riskant, den Beruf aufzugeben und sich darauf zu verlassen, dass die Beziehung hält. Noch heute zahlen fast immer Frauen den Preis dafür, Kinder zu haben. Die meisten Mütter arbeiten nur noch Teilzeit und sind damit von Weiterbildungsmaßnahmen in Betrieben ausgeschlossen. Sie verdienen auch weniger Geld, was dazu führt, dass sie letztlich auch eine geringere Rente bekommen. Es sollte ein gesetzlich verankertes Rückkehrrecht von Teilzeit- auf Vollzeitstellen geben.

Wie sähe die optimale Arbeitsteilung in Familien aus?

Beide arbeiten 30 Stunden in der Woche, und es gibt eine gute Kinderbetreuung. Nicht, dass ich glaube, dass wir das morgen erreichen in Deutschland. Aber Zeit für die Familie ist ein großer Wunsch geworden. Viele Männer leiden darunter, dass sie zu wenig Zeit mit ihren Familien haben. Und viele Frauen wünschen sich – nach allen Befragungen, die ich kenne – ein bisschen mehr Arbeitszeit, um dort auch noch Aufstiegsmöglichkeiten zu haben, wenn die Kinder größer sind. Heute entstehen viele Paarkonflikte aus dem Grundmuster: Stress trifft Frust. Viele reiben sich auf, hetzen sich ab und liegen, wenn abends das Kind glücklich schläft, k.o. auf der Couch. Und dann haben sie noch ein schlechtes Gewissen, weil sie gerne mehr Zeit mit dem Kind verbringen würden. Dass es dennoch so viele Eltern auf sich nehmen, zeigt, wie wunderbar das Leben mit Kindern ist.

Sie haben die Rollen einfach vertauscht. Ihr Mann arbeitet sonst in einem Museum, jetzt bleibt er zu Hause beim Kind.

Mein Mann hat das Glück, dass sein Arbeitgeber Elternteilzeit anbietet. So arbeitet er zwei Tage und macht einen weiteren Tag Telearbeit, was kein Problem ist, die Kleine schläft noch zwei-, dreimal am Tag. Und meine Eltern helfen auch gerne, wenn es mal nötig ist.

Wie reagieren seine Bekannten?

Auf dem Kinderspielplatz ist er voll integriert, das ist nicht ohne, denn er ist dort der einzige Mann.

Sie sagen das amüsiert. Taugt er denn zum Vorbild?

Mein Mann löst Fragen aus. Die Männer fragen sich: Würde ich das auch machen? Und viele, jedenfalls in der Region, aus der ich komme, können sich das nicht vorstellen. Ich glaube, es ist eine Frage des männlichen Selbstverständnisses. Offen geredet wird darüber aber selten.

Macht Ihre Tochter den Rollentausch mit?

Problemlos, bislang jedenfalls, sie ist ja erst sechs Monate alt. Wir haben von vornherein darauf geachtet, dass es bei uns auch nie so was wie einen Mutter-Kind-Planeten gab, mit dem Mann auf der Umlaufbahn. Wir wussten ja, dass ich nach zwei Monaten wieder nach Berlin pendeln würde. Wir teilten uns vom ersten Tag an die Erziehung, um unserer Tochter die Umgewöhnung so leicht wie möglich zu machen. Sonst hätte sie womöglich gedacht: „Mein Gott, jetzt ist auf einmal nur noch dieser behaarte, größere Schatten da, und der riecht auch noch anders.“ Ich beobachte allerdings, dass viele Frauen über den Kindern glucken. Dann ist es wenig verwunderlich, wenn das Kind nachher nur noch zur Mama will. Wenn man dieses partnerschaftliche Modell leben will, von dem ich geredet habe und das ich in Frankreich und in Skandinavien beobachte, geht es nicht ohne Reflektion der eigenen Rolle als Mutter.

Was meinen Sie genau?

Natürlich ist die Nähe zum Baby eine besondere Form der Intimität, die man mit niemandem sonst hat. Woher auch, das Kind kommt aus dem eigenen Bauch. Ich habe das Gefühl, dass manche Frauen mitunter fast ein bisschen eifersüchtig diese Beziehung vor ihren Männern exklusiv halten. Der Mann macht es nie so ganz richtig, und schwupp, ist er vom Wickeltisch auch wieder weg. Frauen haben auch Macht mit ihrem Kind. Es ist eine gute, eine positive Macht. In einer partnerschaftlich verstandenen Elternschaft muss die Mutter bereit sein, den sehr engen, vertrauten Umgang mit dem Kind zu teilen. Das ist nicht immer einfach.

Sie stört das nicht als Mutter?

Nein. Natürlich habe ich es genossen, zu stillen. Natürlich schwankt auch mein Wohlbefinden, vor allem je nachdem ob ich gerade hier in Berlin einen Tag hatte, an dem mir die Arbeit sinnvoll erschien, oder ob ich angestrengt bin.

Als Generalsekretärin müssen Sie immer verfügbar sein. Haben Sie schon mal bei Anne Will abgesagt, um Ihre Tochter ins Bett zu bringen?

Nein, aber bei einer anderen Sendung schon. Es sollte an einem Abend aufgezeichnet werden, als ich mich um meine Tochter kümmern wollte.

Wird das in der SPD toleriert?

Ja. Der Mensch darf nicht verloren gehen. Wenn man ein Kind großzieht, hat man jeden Tag Wertentscheidungen zu treffen: Wo greife ich ein, und wo lasse ich es laufen? Das kann für die politische Arbeit nur von Nutzen sein. Ich sehe das ganz gelassen.

Ein Porträt schildert sie so: „Sie klingelt morgens um sieben Genossen aus dem Bett und brüllt: ,Mensch, was haste da im Interview gesagt.'“ Besonders gelassen klingt das nicht.

Ich weiß schon, wer gemeint war. So was mache ich heute seltener, was nichts mit meiner Tochter zu tun hat. Ich bin einfach älter geworden.

Am Gründonnerstag dieses Jahres endete das Parteiausschlussverfahren gegen Thilo Sarrazin damit, dass er in der SPD bleiben durfte. Sie haben den Kompromiss ausgehandelt, der in den Medien anschließend heftig kritisiert wurde. Das erste Osterfest mit einem Kind stellt man sich anders vor.

Ja, das Parteiordnungsverfahren hat mir die Feiertage verhagelt. Aber so ist das, wenn man Generalsekretärin ist. Das war schon heftig, direkt aus dem Mutterschaftsurlaub in dieses Verfahren – das wünscht man keinem.

Manche Parteifreunde haben damals sogar Ihren Rücktritt gefordert. In einem Spitzenjob wie Ihrem geht es einem schnell an die Existenz.

Wenn ein Juso-Landesvorsitzender aus Hessen meinen Rücktritt fordert, dann macht mir das keine schlaflose Nacht.

Letztlich sind Spitzenpolitiker Getriebene: ob von Parteifreunden oder aktuellen Ereignissen. Angela Merkel soll bei einer Reise in Korea ganz verstört gewesen sein, als ihr Handy mal für eine Stunde keinen Empfang hatte.

Man kann das mit dem Handy so oder so handhaben. Wenn alle wissen, es kann passieren, dass ich an einem Sonntag drei Stunden nicht draufgucke, wird das auch akzeptiert.

Sie wollen noch weiter. In der „Brigitte“ sagten Sie, dass Sie es nicht ausschließen, Kanzlerin zu werden.

So habe ich das nicht gesagt. Diese Frage stellt sich nicht. Mein Job ist es, an maßgeblicher Stelle einen Wahlkampf zu gestalten, der am Ende einen sozialdemokratischen Kanzler möglich macht. Das nehme ich sehr ernst. Der Wahlkampf 2013 wird eine brutale Herausforderung für mich und meine Familie.

In der Abitur-Zeitung haben Sie als Berufswunsch geschrieben: Hausfrau oder Bundeskanzlerin.

Hey, das war ein Witz! Da war ich 18! Wer, bitteschön, hätte jemals etwas Ernstzunehmendes in seine Abi-Zeitung geschrieben? Doch dieser Witz hängt mir jetzt seit Jahren an, seitdem eine Talkshow-Redaktion das Sekretariat des Gymnasiums überredet hat, ihr die Abi-Zeitung zu überlassen. Hausfrau oder Kanzlerin schienen mir damals unter den deutschen Berufen die beiden Extrempole zu sein. Es sollte möglichst absurd sein. Wenn es heute ein bisschen realistischer wirkt, ist das für mich keine schlechte Nachricht. Aber ein Witz ist es auch nach all den Jahren immer noch.

Das Gespräch führten Stephan Haselberger und Barbara Nolte

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