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Kaputt gespart: Deutschlands Infrastruktur wird zum Sanierungsfall

41 Prozent der Bundesstraßen sind marode, 20 Prozent der Autobahnen, 45 Prozent der Autobahnbrücken. Auch in Berlin kommen die Ausbesserungsarbeiten nicht voran. Die Folge: endlose Baustellen, Staus, zornige Bürger. Eine Reportage aus dem Land wachsender Löcher

Irgendwann, vor ungefähr zwei Jahren, es muss an ihrem Schreibtisch gewesen sein, saß Gabriele Köstner vor einem Rätsel. Sie schlug, einem vagen Gefühl folgend, ein Notizbuch auf. Sie blickte auf Zahlen und Stichworte, handgeschrieben und in Spalten sortiert, blätterte durch die Seiten, verglich, rechnete hoch und rechnete herunter und bemerkte eine schleichende Veränderung. Sie war kaum wahrnehmbar am Anfang, am Ende des Buches aber war Köstner gewiss: Ihre Einbildung hatte sie nicht getrogen. Ihre Firma war unproduktiver geworden. Aber warum?

Das Notizbuch war Köstners Warenausgangsbuch. Jedes Mal, wenn einer ihrer Lastwagen das Firmengelände verlässt und sich auf den Weg zu einem Kunden macht, wird das darin vermerkt. Schaffte jeder dieser Lastwagen auf den ersten Seiten des Buches oft noch drei Fahrten durch Berlin am Tag, waren es am Ende in der Regel nur noch zwei. Derselben Logik folgend waren am Notizbuchende täglich oft drei Lastwagen auf den Berliner Straßen für Köstner unterwegs, wo zu Beginn noch zwei ausgereicht hatten. Und das alles, ohne dass sich an der Zahl der Firmenkunden, an den Entfernungen und der Zahl der Touren insgesamt etwas Gravierendes geändert hatte. Auch die Lastwagen selbst waren die gleichen geblieben, deren Fahrer auch.

Alles gleich - nur die Straßen nicht

Gleiche Kundenanzahl, gleiche Entfernungen zu ihnen und gleiche Zahl der Lieferungen, gleich schnelle Lastwagen und gleich fleißige Fahrer: Wenn die penibel dokumentierte Verlangsamung also an nichts von alldem liegen konnte, woran dann? Als Erklärung blieben Köstner nur die Straßen übrig. Auf denen musste sich irgendetwas verändert haben. Irgendetwas bremste dort.

Köstner staunte. Ihre damalige Ungläubigkeit klingt noch an, wenn sie heute sagt: „Die Straßen, überhaupt die ganze Infrastruktur – das ist unser Reichtum. Wir sind uns dessen aber nicht bewusst.“

Gabriele Köstner, 52 Jahre alt, ist die Chefin der Müller-Zeiner Industrieverpackungen GmbH. Es ist ein Familienunternehmen, mittlerweile geführt in vierter Generation, versehen mit 120 Mitarbeitern an vier Standorten in Deutschland, der Hauptsitz ist ein Gewerbegebiet in Berlin-Neukölln. Tätig ist die Firma in der Versandbehälterbranche – riesige Pakete gewissermaßen stellt sie her, in die vor allem Produkte von Maschinenbaufirmen eingepackt und damit für den Transport durch Zeit- und Klimazonen gerüstet werden. Angewiesen ist sie wie nahezu jeder im Land auf gute Verkehrswege.

Mitte der 80er Jahre, Köstner war gerade mit dem Studium fertig und ins Unternehmen eingestiegen, begannen Fachwissenschaftler, Wirtschaftsforschungsinstitute und Wirtschaftsinteressenvertreter darauf hinzuweisen, dass die bundesdeutsche Infrastruktur immer älter werde. Sie warnten vor zukünftigen Engpässen und schrieben, es spreche nichts dagegen, mehr Geld für die Modernisierung und Instandhaltung auszugeben, aber viel dafür. Sie blieben mit dieser Meinung damals weitgehend unter sich.

Seit Jahrzehnten sinken die Investitionen

Es folgten eine Wiedervereinigung, ein gigantisches Aufbauprogramm Ost und eine zunehmend unüberschaubare Zahl von Studien, die die Bedeutung der Straßen und Schienen für den deutschen Wohlstand hervorhoben. Gleichzeitig sanken die öffentlichen Investitionen in Deutschland. Betrugen sie im Jahr 1970 noch knapp fünf Prozent der Gesamtwirtschaftsleistung, waren es im Jahr 2012 noch eineinhalb. Das Durchschnittsalter der öffentlichen Infrastruktur stieg währenddessen. 22 Jahre waren es zu Beginn der 90er Jahre, ungefähr 28 im Jahr 2010.

Und Köstner musste folglich drei statt bislang zwei Lastwagen über die Berliner Straßen fahren lassen.

In Berlin ging – seit Weltkriegsende – auf beispiellose Art und Weise die S-Bahn kaputt. Hunderttausende kamen Tag für Tag später als nötig an ihre Arbeitsplätze oder mussten dafür früher aufstehen, konnten sich weniger als zuvor daheim ausruhen oder hatten weniger Gelegenheit, Geld am Feierabend auszugeben. Staustudien sortierten die Stadt zunehmend unter den vorderen Plätzen in Deutschland ein. Ein Flughafen wurde teurer als geplant und trotzdem nicht fertig.

Wie das Thema in den aktuellen Koalitionsvertrag kam

Die Leverkusener Autobahnbrücke über den Rhein wurde für Fahrzeuge, die schwerer als dreieinhalb Tonnen waren, gesperrt. Eine Autobahnbrücke über den Nord-Ostsee-Kanal war für Lastwagen über siebeneinhalb Tonnen nicht mehr passierbar, der Kanal selbst, die meistbefahrene künstliche Wasserstraße der Welt, nicht mehr für größere Schiffe. Die 100 Jahre alten Schleusen waren kaputt.

Spätestens mit diesen Großblamagen verließ das Thema den Kreis der Fachleute. Ein großer Teil der im Land lebenden Menschen schien plötzlich davon betroffen zu sein, der Zorn der Bürger begann zu wachsen. Immer öfter standen sie im Stau. Das Thema kam in den aktuellen Koalitionsvertrag.

„Eine leistungsfähige Verkehrsinfrastruktur ist die Grundlage für die Wettbewerbsfähigkeit unserer Volkswirtschaft“, steht dort in der Präambel. „Deshalb werden wir besondere Anstrengungen unternehmen, um zusätzliche Ausgaben für eine moderne, sichere und leistungsstarke Verkehrsinfrastruktur auf den Weg zu bringen. Damit wollen wir Straßen, Bahnen und Wasserwege erhalten und wo nötig ausbauen.“

Die Lkw's schaffen immer weniger Strecke

Damit aber beginnt für Gabriele Köstner das eigentliche Rätsel. „Ich fühle mich als Wirtschaft gut aufgehoben hier“, sagt sie, „hier in Berlin und hier in Neukölln. Wenn halt die Geschichte mit der Infrastruktur nicht wäre.“ Sie sieht das seit Jahren wachsende Problembewusstsein der Politiker, aber sie sieht keinen Fortschritt. Auch im gerade zu Ende gegangenen Jahr 2013 schafften ihre Berliner Lastwagen weniger Kilometer als im Jahr zuvor.

Ein paar diesbezügliche Fragen und Antwortversuche darauf: Wenn eine Firma einen Lastwagen zusätzlich anschaffen und einen Fahrer zusätzlich einstellen muss, wo ist das Problem?

Das Problem besteht darin, dass diese Firma sich in Konkurrenz zu anderen Firmen befindet, die solch eine Investition nicht tätigen müssen. Die Firma würde also möglicherweise ihre Preise erhöhen, die konkurrierenden Unternehmen jedoch nicht. Sie hätte einen Wettbewerbsnachteil.

Aber es sind alle Firmen in derselben Infrastruktur unterwegs, die Konkurrenz muss also ebenso viel investieren. Jedes vergleichbare Unternehmen würde einen zusätzlichen Fahrer einstellen, was gut ist für den Arbeitsmarkt, und einen zusätzlichen Lastwagen kaufen, was gut ist für den Lastwagenhersteller, der dann womöglich auch neue Mitarbeiter einstellen muss.

Einer verliert immer

Aber auch ein Lastwagenhersteller ist auf Transportunternehmen angewiesen. Deren Preiserhöhungen würde er auf die eigenen Lastwagenpreise aufschlagen und damit seinerseits weniger konkurrenzfähig werden. Irgendeiner verliert also immer.

Vor allem aber käme, wer das Argument weiterdenkt, zu folgendem Schluss: Wenn eine schlechte Infrastruktur also neue Arbeitsplätze und die Produktion von mehr Fahrzeugen zur Folge hätte – wo wären die eigentlich? Die stünden ja nicht auf den Firmenparkplätzen herum, sondern wären auf den Straßen. Es gäbe also mehr Verkehr, mehr Straßenverschleiß, mehr Staus, und alle kämen langsamer voran.

Und wie sähe es bei einer überhaupt nicht mehr vorhandenen Infrastruktur aus? Bräuchte man nur alle Weltkriegsblindgänger, die in Deutschland gefunden werden, auf den hiesigen Straßen und Schienen explodieren zu lassen, dann hätte man zwar keine Verkehrsinfrastruktur mehr, dafür aber irrsinnig viele neue, zwar querfeldein und entsprechend langsam vorwärtsrumpelnde Lastwagen und Lastwagenfahrer, aber alles wäre bestens?

Viele Berliner Firmenchefs sagen: „Das ist politisch so gewollt"

Die Sache mit den Blindgängern ist bislang unterlassen worden, aber jeder fünfte Autobahnkilometer in Deutschland ist mittlerweile so beschädigt, dass er jene amtliche Zustandsnote, die als „Warnwert“ gilt, erreicht oder sogar überschritten hat. Auf 41 Prozent der Bundesstraßen trifft dies ebenfalls zu sowie auf 46 Prozent der Autobahnbrücken.

„Es liegt vielleicht an der Fülle“, sagt Köstner, „es ist vielleicht alles immer noch viel zu selbstverständlich.“ In einer Stadt wie Berlin zum Beispiel, die einmal für lange Zeit drei Flughäfen hatte, die sich daran gewöhnt habe, würde das, was eben ohnehin schon da ist, möglicherweise immer noch zu wenig geschätzt. Vor allem dann, wenn man es nicht selbst gebaut habe, sondern die Vorfahren dies taten.

Wenn Köstner recht hat, dann ist die deutsche Infrastruktur also ein schulterzuckend angenommenes Erbe, lebenswichtig und überall verfügbar wie Graubrot, aber eben genauso grau.

Kosten alles in allem: 780 Milliarden

Das Grau besteht bundesweit aus 13 000 Kilometern Autobahnen und 40 000 Kilometern Bundesstraßen, wovon wiederum mehr als 2000 Kilometer autobahnähnlich ausgebaut sind. Es gibt 600 000 Kilometer Landes-, Kreis- und Gemeindestraßen, 33 600 Kilometer Bundesschienenwege, 7300 Kilometer Bundeswasserstraßen und 3400 Kilometer S- und Straßenbahnschienen. Nach Berechnungen des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung hat dies alles zusammen, einschließlich tausender Bahnhöfe, 780 Milliarden Euro gekostet.

„Das ist alles irgendwann schon einmal ausgegebenes Geld“, sagt Köstner, das dürfe man nicht verkommen lassen. Der Staat habe doch drei grundsätzliche Aufgaben: „Wir müssen schauen“, sagt Köstner, „dass die Menschen eine vernünftige Bildung bekommen. Dass sie sicher leben. Und dass die Infrastruktur, auf der sich der ganze Handel abspielt, die halbe Wirtschaft und eben auch das Leben, dass die gut ist.“ Sie ärgert sich jetzt, und zwar darüber, dass sie dabei ist, sich zu rechtfertigen. Und dazu noch mit Binsenweisheiten.

Wer mit Berliner Firmenchefs über den Straßen- und Schienenverschleiß redet, kommt oft an diesen Punkt. Sie schildern ihre Probleme, argumentieren, und irgendwann bemerken sie, dass sie sich damit auf dem Niveau von Selbstverständlichkeiten bewegen.

Ratlosigkeit setzt ein

Sie bemerken, dass dies alles schon tausendmal gesagt worden und dabei doch kein bisschen schwer zu verstehen ist. Dann setzt die Ratlosigkeit ein. Warum ändert sich so wenig? Warum ist die Straße des 17. Juni wegen Festveranstaltungen dauernd gesperrt? Warum die Niederneuendorfer Allee für Lastwagen immer noch? Warum dauern die Bauarbeiten an der Invalidenstraße und der Straße Unter den Linden so lange? Warum vernachlässigt die Bahn ihre Güterbahnhöfe? Warum hat man mit der Sanierung einer Brücke am Autobahndreieck Funkturm so lange gewartet, bis dort – am immerhin meistbefahrenen Autobahnabschnitt Deutschlands – nur noch eine Großoperation geholfen hat und jeweils nur ein Fahrstreifen zur Verfügung stand?

Viele der Firmenchefs sagen dann, dies sei der politische Wille. „Das ist politisch so gewollt“, sagen sie. Sie seien also sicher, man wolle ihnen Böses. Einige von ihnen landen dann ganz schnell bei den Fahrradfahrern als staatlich geförderte Straßenraumkonkurrenz und generelles Ärgernis, wobei die nun ganz bestimmt nicht die Salvador-Allende-Brücke in Köpenick, die Rudolf-Wissell-Brücke auf der A100, die Bösebrücke zwischen Pankow und Wedding und noch 70 andere Brücken in der Stadt so kaputt gemacht haben, dass sie der Berliner Industrie- und Handelskammer als sanierungs- oder abrissreife Sorgenfälle gelten.

Siemens hat den Transport seiner Gasturbinen aufs Wasser verlegt

Eine Firma sagt gar nichts. Sie ist ein Gigant, ein Weltkonzern, der in der Mitte des 19. Jahrhunderts in Berlin gegründet wurde. Sie möchte nicht im Geringsten in den Ruch eines Beschwerdeführers geraten. Vielleicht, weil ihr andere, direktere Wege der Problemlösung offenstehen. Vielleicht aber auch nicht. Sie heißt Siemens.

Siemens baut Gasturbinen in Berlin. Großartige Gasturbinen sind das, mit derzeit höchstmöglichem Wirkungsgrad. Wenn Licht auf die Maschinen fällt, glitzern sie. Sie sind, wenn man so will, eines der Überbleibsel der einstigen industriellen Unschlagbarkeit Berlins.

Zu schwer für Berliner Brücken

Die Turbinen sind bestimmt für den Weltmarkt, und sie sind mit der Zeit immer größer und schwerer geworden. Sie sind mittlerweile zu schwer für die Berliner Straßen und Brücken.

Der Berliner Hafen- und Lagerhausgesellschaft, kurz Behala, ein Unternehmen des Landes Berlin, kam das zu Ohren, und sie reagierte schnell. Sie baute eine Verladerampe am nächstgelegenen Spree-Kanal, auf dass Siemens seine Maschinen auf kürzestmögliche Weise weg von der Straße, hin zum Wasser transportieren konnte. Sie kaufte eine Transportmaschine mit 192 Rädern, ließ ein Schiff entwickeln und zusammenschweißen und wies Taucher an, den Kanal von den gröbsten Hindernissen zu befreien. Auf der 900 Meter langen Strecke holten sie Steine, Stahlträger, Motoren, Geldschränke vom Grund. Es war eine Investition, die ungefähr zwei Dritteln des Jahresumsatzes der Behala entsprach. Seit 2012 werden die 520 Tonnen schweren Turbinen auf dem Kanalweg ausgeliefert.

Aber der Kanal verfällt. Er ist ohnehin sehr flach, die Böschungen rutschen, und eines Tages, die Fachleute von der Behala können quasi dabei zuschauen, wird das extra gebaute Schiff mit der Superturbine an Bord irgendwo auf den 900 Metern auf Grund laufen.

Die Spree, das ist die Zukunft

Bundestagsabgeordnete kümmern sich seit einigen Monaten. Möglicherweise wird jener lange Kanal deshalb in den Bundesverkehrswegeplan aufgenommen, in eine langfristig ausgelegte und immer unerfüllbarer scheinende Wunschliste voll von national bedeutsamen Infrastrukturprojekten, deren Notwendigkeit weitgehend unbestritten ist, die Finanzierung aber nicht.

Gabriele Köstners Firma verpackt diese Gasturbinen. Sie ist also ebenfalls betroffen von der Kanalmalaise, denn wenn es ihren Kunden absehbar schlechter gehen sollte, geht es auch ihrem Unternehmen schlechter. Vielleicht weiß sie eine Lösung für die Zukunft. Die Expertise dafür hätte sie jedenfalls. Ihre Firma, die Müller-Zeiner GmbH, wurde im Jahr 1900 gegründet, und zwar als Flößerunternehmen. Sie beförderte Baumstämme über den Rhein und den Main von Oberfranken bis nach Amsterdam. Beide Flüsse existieren auch heute noch. Die Spree auch. So, wie es derzeit aussieht, ist das die Zukunft.

Erschienen auf der Dritten Seite.

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