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— SZENARIO 2 —: Zeit der Langweiler

Das 28. Jahrhundert gilt in Deutschland als das „age of being boring“, das Zeitalter der Langweiler und der Langeweile.

Das 28. Jahrhundert gilt in Deutschland als das „age of being boring“, das Zeitalter der Langweiler und der Langeweile. Nichts ist los, die meisten Probleme sind gelöst, der Staat, wenngleich mit Ausnahme von Polizei und Feuerwehr fast nur noch virtuell aktiv, funktioniert leidlich. Die traditionellen Feinde der parlamentarischen Demokratie haben sich auf ihre eigenen Planeten zurückgezogen, wo sie nach Herzenslust blutige Diktaturen, populistisch gesteuerte Autokratien oder anarchistisches Gewusel ausprobieren können. Deshalb wird in Deutschland, mitten auf der alten Erde, eine Welle von Retro-Fanatikern nach oben gespült, die unbedingt wieder Abenteuer wollen und die seit kurzem möglichen Zeitreisen als einen Weg ansehen.

Folglich entbrennt im Land eine Diskussion über die Möglichkeit, ganz Deutschland in eine andere Zeitzone zu versetzen. Eine Minderheit der Diskutanten erwägt den Schritt in die Zukunft, was aber allgemein als zu riskant verworfen wird. Was einzelne Reisende dort an Inkompetenz und schlechtem Wetter gesehen hätten, sei keineswegs verlockend, heißt es. Doch auch die Vergangenheit scheint nicht durchweg attraktiv. Als einzige mehrheitsfähige Ära bietet sich die Zeit um das Jahr 2000 an, die von vielen historisch wenig beschlagenen Deutschen als eine Art goldenes Zeitalter gesehen wird. Es hätten damals sogar zwei verschiedene Deutschlands existiert, sagt man, und man habe sich aussuchen können, in welchem politischen System man leben wolle.

In den Wohnungen habe es Fenster zum Durchschauen gegeben, heißt es, und es sei damals auch im Winter in diesen Wohnungen richtig schön warm gewesen. Im Sommer seien die Menschen hingegen manchmal in riesigen Menschenmengen 40 und mehr Kilometer im Kreis herumgelaufen, einfach so, ohne jeden Sinn, nur um zu prüfen, wer der Schnellste ist. Jeder habe seine Meinung sagen können, unabhängig davon, wie blöd sie war, und als Staatsoberhaupt habe eine Art Dichter fungiert, ein gewisser Gunter Graß oder Günter Gras – die Schreibweisen variieren ein wenig. Er habe die Menschen mit wohlgestalteten Gedichten unterhalten und ihnen damit über Zeiten der Erschöpfung hinweggeholfen.

Obwohl einige Fachhistoriker gegen diese Darstellung angehen und betonen, es gebe dafür nur sehr widersprüchliche Belege, votiert eine große Mehrheit der Deutschen dafür, das Wagnis einfach einmal auszuprobieren. Als bester Zeitpunkt für einen Rücksprung des Landes wird der November 1989 angesehen, von dem es vage heißt, er sei ein Monat großer historischer Dynamik gewesen. Spannend! Als aber ein Voraustrupp, rund zehntausend Menschen, am Ziel in Berlin ankommt, ist die Enttäuschung groß: Die Stadt ihrer rückwärtsgewandten Träume erweist sich als grau und verfallen, und in westlicher Richtung türmt sich eine streng gesicherte Mauer aus senkrecht gestellten Platten auf, die von bewaffneten Posten in militärischer Uniform kontrolliert wird.

Als die Zeitschleuse immer mehr Menschen in die Berliner Stadtmitte entlässt, kommt es vorn zur Panik. Die Reisenden durchbrechen die Sperren, schieben die Posten beiseite und dringen in den Stadtteil westlich der Mauer vor, der sich als besser aufgeräumt und heller beleuchtet erweist. Mit großem Erstaunen betreten sie ein großes Haus, das ein historisch bewanderter Experte als „Kaufhaus“ identifiziert. Er erläutert, dass die Menschen des Spätmittelalters sich die Gegenstände des täglichen Bedarfs nicht einfach per Gedankenbestellung per Amazon kommen lassen konnten, sondern sie persönlich in sogenannten „Geschäften“ abholen mussten – dieses Gebäude, das „KaDeWe“, sei ein besonders prächtiger Vertreter dieser Gattung. Die dort herumziehenden Zeitreisenden erkennen zwar viele zeitlose Gegenstände wie Handtaschen oder Parfüm wieder, doch dabei bleibt es auch. Wer dies alles kaufen will, muss dafür Bargeld hergeben, die „D“- oder „Westmark“, die aber niemand aus der Zukunft mitgebracht hat. Enttäuscht wendet sich der Voraustrupp ab, obwohl ein glatzköpfiger Mann mit rotem Schal, offenbar ein Funktionsträger des historischen Berlins, ihnen im Fernsehen, einer altertümlichen Einweg-Kommunikationsmethode, die Zahlung eines „Begrüßungsgelds“ ankündigt; Alle fahren zurück ins Jahr 2787. Dort behaupten Historiker später, der Besuch der Zukunftsberliner habe eine bemerkenswerte, von niemandem erwartete politische Wende ausgelöst. An der Präsidentschaft des besagten Dichters Güter Grass werden in diesem Zusammenhang deutliche Zweifel laut. Es heißt, es handele sich zwar um einen Dichter, der zwar großen Einfluss besessen habe, durch die Ereignisse des Novembers 1989 aber in eine gravierende Sinnkrise gestürzt worden sei und fortan wirre Reden geführt habe.

Im Berlin des Jahres 2787 fällt die Entscheidung, auf große Zeitsprung-Experimente in Zukunft zu verzichten. Einzelne Menschengruppen dürfen allerdings weiter ins Berlin der Vergangenheit reisen – sie tarnen sich dort meist als Touristen, tragen sogenannte Funktionsjacken und werden in einigen Stadtteilen als Plage empfunden, ohne dass ihr wirklicher Hintergrund erkannt wird. Um solche Reisen durch mehrere Länder zu erleichtern, setzt die europäische Zentralregierung des späten 27. Jahrhunderts im Altjahr 2002 den „Euro“ als neue europäische Gemeinschaftswährung durch, eine Entscheidung, die in den folgenden Jahren auf scharfe Kritik trifft, obwohl ihr eigentlicher Hintergrund unbekannt bleibt.

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