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Seit Januar lädt Noah Telson (links), hier mit Bruder Josh, ins Comedy Café in der Neuköllner Roseggerstraße zu Impro-Tatort-Abenden.

© Kai-Uwe Heinrich

1000. "Tatort"-Folge: Schau zu – oder ich schieße

Sonntagabend ist "Tatort"-Zeit. Neuköllner Kneipen inszenieren dies als hauseigenes Ritual. Ein Streifzug durch die Mordszene.

Wenn der Laden voll ist, die "Tatort"-Melodie, seit 1970 kaum verändert, einsetzt, dreht Noah Telson den Ton ab. Das Publikum jubelt. Viele eher Mitte 20 als Mitte 30. Sie sehen den Hinterkopf Telsons, der auf einem Holzstuhl sitzt. Ganz vorne. Er hält das Mikrofon, fängt an, die "Star Wars"-Melodie zu summen. Die drei Leute neben ihm, zwei Männer und eine Frau, stimmen ein.

In ganz Berlin sitzen Sonntag für Sonntag Tausende in Kneipen und schauen gemeinsam Tatort. In Neukölln aber gibt es eine ganz besondere Version. Rund fünfzig Besucher sind an diesem Sonntag ins Comedy Café in der Roseggerstraße gekommen. US-Amerikaner, Briten, Deutsche. Schulter an Schulter. Auf der Leinwand läuft die 999. Tatort-Folge, Borowski ermittelt in Kiel.

Hier, in Neukölln, bleibt der Ton abgedreht und Telson und seine Mitstreiter improvisieren, denken sich Dialoge aus. Im Oktober vor einem Jahr eröffnete Telson den Laden, im Januar luden sein Bruder Josh Telson und er zum ersten englischen Tatort-Abend. Es wurde ein Desaster: Sie hatten nicht einmal gelesen, was die ARD als Programmhinweis verbreitet hatte. Sie improvisierten ausgerechnet zu einer Tatort-Folge, in der jeder zweite Schauspieler gehörlos war.

Chris Rock spricht den Borowski, Nicole Ratjen dessen Assistentin Brandt

Zehn Monate später bereiten sich Telson und die drei Comedians besser vor. Sie teilen die Hauptrollen auf. An diesem Abend spricht Chris Rock den Borowski, Nicole Ratjen dessen Assistentin Sarah Brandt.

Schnitt. Kommissariat. Verhör. Borowski: "Den Film ,Interstellar’, haben Sie ihn verstanden?" In Neukölln sagt Borowski das sogar auf Englisch. Verdächtiger: "Was?" Brandt: "Antworte, es ist eine einfache Frage." Verdächtiger: "Haben Sie mich dafür aus der Arbeit geholt?"

Schnitt. Moschee. Verhör. Borowski: "Ist das kein Fitnessstudio? Ich würde mich gerne eintragen für den Vier-Uhr-Boxkurs." Muslim: "Das ist respektlos." Borowski: "Du siehst muskulös aus. Trainierst du?" So poltern die Witze durch den Abend. Telson und die anderen arbeiten sich durch die Sendung wie durch einen dunklen Raum.

Tatort auf zwei Leinwänden im Café "Dritter Raum"

Schnitt. Auf der anderen Seite der Sonnenallee im Café Dritter Raum stellten sie vor vier Wochen eine zweite Leinwand auf. Zu viele Menschen drängten sich sonntagabends dort, wo morgens Bohnen, Humus, Schinken gefrühstückt werden.

Schnitt. Eckkneipe Laika. Emser Straße 131. Borowski spricht hier Borowski und Brandt spricht Brandt. Ansonsten wird wenig geredet, gelacht gar nicht. Wenn jemand den Saal verlässt, seufzt die Doppeltür. Im Hinterzimmer sitzen Männer, deren Haare so grau wie ihre Pullunder sind. Auf dem Tisch vor ihnen steht ein Kännchen Kaffee. Um Viertel nach neun ist es leer. Sie pressen ihre Rücken in abgesessene Sessel. Vor ihnen stützt ein Mädchen den Kopf auf ihre Hände. Ihr Smartphone vibriert.

Sonntag für Sonntag fließen ungezählte Nachrichten zum Tatort durch die Twitter-Timelines. David Schelling, der eigentlich anders heißt und auf Twitter Witze schreibt, liest fast alle. Er wohnt in Schwedt, Uckermark, 85 Kilometer von Neukölln entfernt. Früher sah er nur den Tatort. Schimanski. "Das war genial." Kommissar Murot. "Fast schon Kunst." Jetzt sieht er nebenher Nachrichten von Leuten, die zu jeder Folge twittern, oder von WGs, die wetten, wer wen ermordet hat. Er sammelt jene Tweets, bei denen er denkt: "Hoppla".

"Ich find' das witzig und irgendwie nicht"

"Schiffsschrauben- und Reifenspuren. Ich möchte lösen: Der Mörder ist ein Amphibienfahrzeug." Oder: "Ich seh's schon kommen: 21 Uhr. Tatort über den IS. Und vor dem Fernseher neun Millionen Schläfer." Auch die Videotextredaktion der ARD liest Twitter. Die besten Nachrichten veröffentlicht sie im Videotext, Seite 777.

Im Laika-Hinterzimmer schiebt sich ein Mann in die letzte Reihe, in seiner Hand ein Weizenglas. Auf seinen Ohren Kopfhörer, es läuft Michael Jacksons "Earth Song". Er formt zwei Finger zur Pistole, zielt auf die Leinwand, drückt ab. Kommt Borowski, prostet er ihm zu. Sagt eine Frau, "ich zeige Sie an", sagt er: "Zeig sie an, du...", und ein Wort folgt, das keine Zeitung drucken würde. Dann geht es schnell. Selbstmord. Tatort-Melodie. Ein Mädchen lehnt sich zurück, sagt: "Das macht doch Laune, oder?" Ein Hund bellt. Anne Will begrüßt ihre Gäste. Dann dreht der Wirt den Ton ab und Prince an, "Purple Rain". "Ich find' das witzig und irgendwie nicht", sagt eine Frau zu ihrem Freund. Der legt seine Hand auf ihre Schulter: "Verlassen wir das sinkende Schiff."

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