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Steht ein Pferd auf'm Flur, ähm, in der S-Bahn. Kommt alles mal vor, in Berlin! Dieses Bild stammt nicht von der S1 und wurde auch nicht in den letzten vier Wochen aufgenommen, zeigt doch aber, was so möglich ist in öffentlichen Verkehrsmitteln.

© promo/screenshot

Der tägliche S1-Wahnsinn von und nach Zehlendorf: Fährst Du S-Bahn oder wohnst Du schon?

Geburten, Hochzeiten, Todesfälle, Familienkonflikte, Jobangebote. Ich danke allen auf der S1 von und nach Zehlendorf, dass ich täglich mit intimen, privaten oder beruflichen Informationen versorgt werde. Ich frage mich, fahr' ich S-Bahn oder wohn' ich schon?

Wieso wird Menschen eigentlich geraten, auf den sozialen Medien wie zum Beispiel Facebook keine privaten Daten mitzuteilen? In der S-Bahn ist das Leben längst ein großer Familienausflug, nirgendwo ist man so nah' am Leben der anderen wie etwa auf der S-Bahnlinie S1 von und nach Zehlendorf. Vielleicht ist der Autor für den Zehlendorf Blog einfach zu neugierig, vielleicht werden ihm die Informationen - private, intime, berufliche - aber einfach nur freiwillig geschenkt, und er weiß zu wenig damit anzufangen und schon gar nicht, sie zu schätzen. Es stellt sich jedenfalls die Frage, ob man noch S-Bahn fährt oder schon darin lebt?

Hier ein nicht vollständiger Auszug der Erlebnisse der letzten vier Wochen zwischen Zehlendorf und Anhalter Bahnhof. Vielleicht haben Sie Lust, ein paar Anekdoten anzufügen.

- Voller Zug, alle Plätze besetzt, neben mir ein Mann mit Kaffeebecher und offenem Laptop, er versucht offensichtlich zu arbeiten. Die anderen drei in der "Sitzbucht" versuchen verzweifelt, sich dünne zu machen. Der Mann wird geblendet, weil die Sonne auf den Bildschirm scheint, er hält das Gerät mir deshalb fast unter die Nase. Ich muss zwangsläufig mitlesen, offensichtlich ein Brief, beruflich, der Mann verschreibt sich ziemlich oft, weil es zu hell ist. Stört ihn nicht, der Kaffee wird kalt. Beim Aussteigen schafft er es endlich, den Becher umzukippen.

Tschuldigung, mein Handy klingelt. Ich muss da jetzt mal ran!
Tschuldigung, mein Handy klingelt. Ich muss da jetzt mal ran!

© Thilo Rückeis

- Halbvoller Zug, zwei junge Erwachsene, ihr Handy klingelt. Sie kreischen erfreut hinein und stellen auf Lautsprecher! Offensichtlich wurde ein Baby geboren. Das ist wirklich toll! Aber nun unterhalten sich beide mit dem unbekannten Dritten am anderen Ende der Leitung, der ebenfalls gut zu verstehen ist, über die Länge der Geburt und was sonst noch so geschah. Die Hebamme, die Mutter, der Name. Erstaunlich, dass der Termin der Taufe nicht öffentlich bekannt gegeben wurde.

- Döner mit Knoblauchsoße, Burger mit Pommes, frischer Salat mit Baguette, Currywurst Pommes, Eis, Kaffee, Bier. Wann wird eigentlich endlich mal angegrillt in der S-Bahn?

- Volle S-Bahn, alles belegt, eine Frau im Businesskostüm telefoniert laut, offenbar mit einer Kollegin über den kommenden Geschäftstermin. Man erfährt etwas über ihre Branche, ihren Chef, ihre neue Haarfarbe und über "Probleme mit Kurt".

Es ist ja so: Selbst, wenn man partout nicht zu hören und zum Beispiel lieber in Ruhe lesen oder aus dem Fenster gucken will, es geht nicht! Entschuldigung, dass ich mich einfach nicht konzentrieren kann, wenn vor mir eine Frau fast heult, weil sie offensichtlich gerade per Telefon von ihrem Freund verlassen wird und ihn ständig anschreit durch's Handy! Offensichtlich ist das Leben in öffentlichen Verkehrsmitteln mittlerweile schon so transparent, dass man wirklich gerne alle anderen am eigenen Dasein teilnehmen lässt. Vermutlich, weil man es selbst gar nicht bemerkt, dass da noch andere sind, oder?

- "Hallo Schatz, ja, ich bin jetzt gleich da. Was hat Paula in Mathe?"

- Anruf eines Kollegen, ich sitze in der S-Bahn und sage verschämt: "Sorry, geht gerade nicht, ruf dich gleich zurück!" Später der Kollege: Du war'st doch in der S-Bahn, wieso konntest du denn nicht reden?"

- Aber es gibt offenbar noch andere Menschen, wie die folgende Episode eines Kollegen deutlich macht, der erzählte: "Eine ältere, ergraute, sehr stilvoll elegant gekleidete Dame mit kerzengerader Sitzhaltung forderte mich einmal auf, meine Morgentoilette woanders als in der S-Bahn zu verrichten, nachdem ich mich (kurz) im Ohr gekratzt hatte. Da hatte ich erst begriffen, was sich in diesem 'öffentlichen Raum' eigentlich gehört."

Und was ist mit Ihnen? Fahren Sie noch S-Bahn oder waschen Sie sich schon?

Der Autor ist Redakteur für besondere Aufgaben im Tagesspiegel. Der Text erscheint auf dem Zehlendorf Blog, dem Online-Magazin dieser Zeitung.

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