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Obdachlos im Südwesten von Berlin: Das Hardcore-Sabbatical am Schlachtensee

Ein halbes Jahr hat der Mann bei Wind und Wetter draußen gelebt. Dem Tagesspiegel erzählt er von seinem Alltag – und vom Weg zurück ins normale Leben.

Der Schnee knirscht unter den Schuhen, minus fünf Grad hat das Thermometer an diesem Januarmorgen gezeigt. Mirko T., der seinen richtigen Namen nicht nennen möchte, scheint leicht zu schlottern: „Ich bin eher ein Sommertyp, der Winter ist nichts für mich." Noch ein paar Schritte durchs Dickicht, und er bleibt stehen, schabt mit der Schuhspitze den Schnee an einer Stelle weg und zeigt auf eine zusammengerollte blaue Isomatte. Nun sind auch die Umrisse einer Liegefläche in der fünf Zentimeter dicken Schneedecke zu erkennen. „Vor mir muss da auch schon mal jemand gelegen haben, das Efeu wächst ja nur außen herum." Die Kälte kriecht allmählich durch die Schuhsohlen der gefütterten Winterstiefel.

Mirko T. hält sich sehr aufrecht, er wirkt sportlich. Mit seiner ockerfarbenen Hose, der gefütterten schwarzen Winterjacke und dem gepflegten Fünftagebart passt er gut in diese Gegend rund um den Schlachtensee. Und doch würde sonst niemand hier Sätze sagen wie diese: „Bis minus 10 Grad kann man es im warmen Schlafsack aushalten. Darunter wird es knuffig. Und gerade bei Nässe wird es irgendwann sehr unangenehm. Dann habe ich mich oft im Toilettencontainer untergestellt oder dort im Sitzen übernachtet. Aber der ist jetzt im Winter abgesperrt. Als Lager kann man ihn aber immer noch gut verwenden, denn unter der Treppe bleibt alles schön trocken.“

Mirko T. hat im vergangenen halben Jahr direkt am Schlachtensee gelebt. Allerdings eben nicht in einer Villa oder einer großzügigen Wohnung mit Blick auf den See. Wobei: Den Blick auf den See hatte er auch, aus erster Reihe. Als Obdachloser.

"Es ist schön mit einem See in der Nähe", sagt er und seine Lachfältchen um die Augen werden ein wenig tiefer. Er lächelt gerne, ist sehr zugewandt im Gespräch. Offensichtlich ist es für ihn kein Problem, über seine Wohnungslosigkeit zu sprechen. „Es ist wie es ist.“

Im Frühsommer ist er da, dieser Wendepunkt in seinem Leben: Der Job ist weg, die Beziehung kaputt und die Wohnung nicht mehr zu finanzieren. Er merkt, sein Leben entgleitet ihm, aber er nimmt keine Hilfe an. Er will es nicht, obwohl er heute selbst sagt, dass "eigentlich niemand auf der Straße landen muss". Es gibt zum Beispiel die soziale Wohnungshilfe, die sich kümmern. Mirko T. sagt: "Aber ich bin nicht darauf eingegangen.“

"Jetzt kauf' ich einen Schlafsack"

Im Juni meldet er sich selbst bei seinem Einwohnermeldeamt ab, zieht in eine Pension in Charlottenburg. 20 Euro kostet die Nacht. Doch das Geld wird immer knapper. Er sieht seine Vorräte schmelzen, er fragt sich, wohin soll ich, dann fasst er einen Entschluss und entscheidet: "Jetzt kauf’ ich einen Schlafsack.“ Er ist ein Camping-Fan, und er war zwölf Jahre bei der Bundeswehr, wo sie Übungen machen mussten bei minus 15 Grad im Freien. Er hat auch früher schon im Winter draußen geschlafen. All das, denkt er instinktiv, werde ihm jetzt helfen. Denn er weiß: Er wird sehr bald draußen schlafen müssen. Da ist es Ende Juli.

Als er sein Leben noch im Griff hatte, ist er im Urlaub mal mit dem Motorrad durch die USA getourt, „schön die Route 66 entlang“. Auch da hatte er das Zelt dabei. "Ich habe auch früher schon bei Temperaturen gezeltet, wo andere den Kopf geschüttelt haben."

"Früher“ ist noch gar nicht lange her. Mirko T. ist jetzt 44 Jahre, geboren in Sachsen-Anhalt, und bis vor ein paar Monaten arbeitete er als Bewerbungscoach. Gelernt hat er Schlosser und Bürokaufmann. Es ist nicht so, dass er nicht arbeiten könnte.

Im Wald am Schlachtensee schläft er ohne Zelt, nur im Schlafsack. "Das war unauffälliger." Und praktisch: Er muss es nicht immer auf- und abbauen. Den Schlafsack gibt es noch, ordentlich zusammengerollt liegt er hinter einem Baumstumpf ein paar Meter von der Liegewiese am S-Bahnhof Schlachtensee entfernt. Eine Gruppe Grundschüler in bunten Schneeanzügen rodelt dort gerade johlend die Böschung hinunter Richtung Seeufer.

Mirko T. zeigt auf eine Getränkedose im Schnee und scherzt: „Die habe ich wohl übersehen." Schließlich habe er vom Leergutsammeln gelebt, da sei es besser, wenn man sich in der Nähe eines S-Bahnhofs aufhält. "Auf der anderen Uferseite war ja schon im Herbst irgendwann Ende mit Party.“

Drei Runden, zehn Euro

An guten Tagen bringt das Flaschensammeln bis zu zehn Euro. Drei Runden muss er dafür laufen: Die erste beginnt nach der Morgentoilette im See, wo er sich wäscht, zwischen vier und fünf Uhr morgens am S-Bahnhof Schlachtensee. Er geht zu Fuß zum S-Bahnhof Nikolassee, zurück am Schlachtensee gibt er bei Rewe kurz vor sieben Uhr die Pfandflaschen ab, „der Automat nimmt zum Glück alle Flaschen“. Danach geht es Richtung Zehlendorf, an der B1 entlang Richtung Wannsee und über die Argentinische Allee wieder zurück zum Schlachtensee.

Bis zu sechs Stunden am Tag ist er zu Fuß unterwegs, 20 Kilometer am Tag. "Nach drei Runden fiel es einem dann leichter, im Schlafsack einzuschlafen. Und das Ganze trainiert extrem gut die Waden. Das sind bei mir die am besten trainierten Muskeln." Dann wird er ernst: „Man merkt aber den psychischen und physischen Abbau." Sein Gewicht sinkt von 90 Kilo auf 75 Kilo. Solange die Bewegung das Fett angreift, sei das ok, aber wenn die Muskulatur leidet, werde der Körper immer schwächer. Mirko T. ist klar, dass er auf keinen Fall etwas an den Füßen bekommen oder krank werden darf. Für den Notfall hat er in seinem Rucksack immer eine Liste mit Anlaufstellen, wo man sich kostenlos behandeln lassen kann.

Für uns ist Mirko T. noch einmal zurückgekehrt an seine ehemalige Schlafstätte "Station zwei"
Für uns ist Mirko T. noch einmal zurückgekehrt an seine ehemalige Schlafstätte "Station zwei"

© Raack

Sein Leben verläuft nun sehr ruhig, er meidet den Kontakt zu anderen Wohnungslosen, weil viele Alkohol- und Drogenprobleme haben. Aber Unterhaltung fehlt ihm, "null Kommunikation", sagt er, gehe einem schon auf den Geist. Stattdessen wird er automatisch zum Beobachter anderer Menschen an diesem Ort. Rund um den S-Bahnhof Schlachtensee kann er "das ganze menschliche Elend" beobachten: Zweimal zieht er Betrunkene aus dem Gleisbett, vielleicht war er ihr Lebensretter.

Dann kommt der Herbst. „Je später im Jahr, desto weniger war los hier, da gingen dann die Einnahmen runter auf zwei Euro am Tag." Wieder wird das Geld knapp. 74 Cent seien sein minimaler Ansatz gewesen: 19 Cent für Wasser, 55 Cent für Toastbrot. Er sagt: „Geschmacklich ist dieses Leben natürlich eintönig. Einmal habe ich vier Wochen am Stück nichts Warmes gegessen. Aber alles ist besser als nichts." Es hält am Leben.

Die Menschen, die jetzt noch draußen leben, beneidet er nicht, sagt Mirko T. Der Schnee ist dabei nicht das Schlimmste - er isoliert gut. "Schlimmer ist die Feuchtigkeit und ab Minus 10 wird es knuffig"
Die Menschen, die jetzt noch draußen leben, beneidet er nicht, sagt Mirko T. Der Schnee ist dabei nicht das Schlimmste - er isoliert gut. "Schlimmer ist die Feuchtigkeit und ab Minus 10 wird es knuffig"

© Raack

Kurz vor Weihnachten regnet es drei Tage hintereinander. Der Schlafsack ist völlig durchnässt, man bräuchte mindestens zwei Tage, um ihn zu trocknen. Nach drei Tagen Regen kehrt er dem Wald den Rücken, denn er hat nun noch eine andere Anlaufstelle, an die er sich langsam herangetastet hat: Seit Oktober ist er immer mal wieder in die Suppenküche der Evangelischen Paulusgemeinde gegangen. Und es ist einmal mehr Rosmarie Mette vom Diakonischen Werk Steglitz und Teltow-Zehlendorf, die schon vielen Obdachlosen geholfen hat, die ihn dort berät.

Mirko T. versucht nun, den Weg zurück ins geregelte Leben zu finden. Und da geht's dann am Anfang vor allem um Bürokratie: Bei der Polizei melden, dann zum Jobcenter.

Die Behördengänge hat er bislang als sehr unkompliziert erlebt. „Wenn man freundlich auf die Menschen zugeht, kommt das auch zurück.“ Nur den ersten Tag hat er als sehr hektisch erlebt: „Bis 16 Uhr musste ich in meiner Unterkunft einchecken, mich aber davor noch beim Jobcenter arbeitslos melden, dann in die Leistungsabteilung, da bekam ich dann 50 Euro für zwei Wochen. Zum Glück wurde mir, das geht ja nach Geburtsdatum, der Bezirk Steglitz-Zehlendorf zugeteilt, das ist ja hier meine Gegend. Und dann bin ich nach den Behördengängen noch mal hierher an den Schlachtensee gefahren und habe meine restlichen Sachen geholt.“

Niemand wusste von seiner Entscheidung

Seine Bekannten, seine Familie? Niemand weiß von seinem Schicksal, die alten Kontakte, sie sind weg. Er sei nun froh, dass er ein Zimmer habe und sich mal entspannen kann. "Draußen war ich ja nur am Suchen und Sammeln. Aber an das weiche Hotelbett musste ich mich erstmal gewöhnen." In seinem Hotel am Heidelberger Platz, finanziert vom Jobcenter, schnitt er sich gleich am ersten Tag den Bart ab, der war ihm schon bis knapp über das Herz gewachsen. Aber die Zeit im Wald sei sehr wichtig für ihn gewesen, er nennt die sechs Monate sein "halbes Sabbatjahr auf Hardcore". Um abzuschalten, mit sich zu sein, raus aus der Zivilisation.

In der kommenden Woche beginnt für den ehemaligen Bewerbungscoach das Bewerbungstraining vom Jobcenter. Vier Jahre hatte er selbst für Bildungsträger gearbeitet, „im Prinzip das, was ich nächste Woche mache. Auch wenn ich diesmal auf der anderen Seite sitze".

Sein Wunsch: eine eigene Wohnung. Sein Traum: ein Job im Personalbereich.

Die Autorin schreibt für den Tagesspiegel und für Tagesspiegel Zehlendorf, das digitale Stadtteil- und Debattenportal aus dem Berliner Südwesten, auf dem dieser Text erscheint.

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