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Berlin: "Blind Date Dinner": Das Essen bleibt im Dunkeln

Gegessen wird, was auf den Tisch kommt! So sagt die gute Kinderstube.

Gegessen wird, was auf den Tisch kommt! So sagt die gute Kinderstube. Aber was passiert, wenn man das, was auf den Tellern liegt, nicht sehen kann? Man nimmt die Finger und lässt es sich schmecken- zumindest, wenn der Spielort der stockdunklen Mahlzeit Kreuzbergs vegetarisches Restaurant "Abendmahl" ist.

Dorthin hatte am Montag Wirt Udo Einenkel zum "Blind Date Dinner" geladen, zu einer Verabredung mit unbekannten Speisen. Die Getränke können noch bei Lampenschein bestellt werden, um größeren Katastrophen im Dunkeln vorzubeugen. Rasch ein Blick zu den Nachbartischen: Etwa 12 Paare, die sich bis auf die Frisch-Verliebten von Tisch Vier schon alle seit Ewigkeiten zu kennen scheinen - dann verlöscht das Licht wie vor dem ersten Akt in der Oper, nur dass der Rest im Dunkeln spielt. Kein Zigarettenglimmen stört die Nacht. Und erst wenn die freundliche Kellnerstimme bittet, Gläser und Bestecke vom Tisch zu räumen, merkt man, dass der nächste Gang naht und eine weitere Runde im Rätselraten: Avocado oder Tofu? Pampelmuse oder Apfelsine? Nur beim Dessert fällt das Urteil eindeutig auf Sorbet und Eiscreme. Aber das knusprige Zeugs mit dem süß- bitterem Nachgeschmack, entschlüsselt erst die nachgereichte Speisekarte als Sesam-Krokantchips.

Irgendwann durchdringt mit einem Mal ein heller Sopran das Dunkel: Mozarts Abendempfindung. Ein Lied über den Tag des Lebens und die große Nacht danach. Zwei Dutzend Augenpaare wandern zwischen Teller, Sängerin und vermuteter Position des Tischnachbarn hin und her. Wer würde jetzt nicht mindestens eine Trüffelpastete geben, um in den Gedanken seines Gegenübers zu lesen? Von einer blinden Bekannten weiß Einenkel, dass Nicht-Sehende sich bei jeder Handlung unglaublich konzentrieren müssen. Das gilt an diesem Abend für alle: Winzige rote Lichtpunkte an den Tischbeinen weisen den Kellnern den Weg zwischen den Gästen. Ganz vorsichtig werden Gläser ertastet, die Gabel gesucht, und dann doch mit den Händen gegessen. Wer nachbestellen will, ruft seine Tischnummer. Auch andere Bedürfnisse werden per Zuruf geregelt. Wer austreten muss, wird an der Hand zum Ziel geführt.

Nach zwei Stunden und einer kleinen Ewigkeit ist die Nacht zuende. Wie nach einem schönen Traum reiben sich ein paar die Augen, als das Licht nach dem Dessert wieder angeht. Die Schadensbilanz für Service wie Besucher in Grenzen: Nur eins- zweimal hat es aus Richtung Küche gescheppert, und die Rotweinlache neben der verrutschten Tischdecke von Tisch Vier ist wohl eher auf missglückte Annäherungsversuche der Gäste untereinander zurückzuführen.

Sebastian Schneller

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