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Blumenverkäufer in Berlin: Im Namen der Rose

Wenn es ein guter Abend ist, dann verkauft er 40 Blumen in Berliner Kneipen. Davon kann Korim aus Bangladesch leben. Aber nicht jeder Abend ist gut. Macht nichts, sagt er, es geht ja nicht ums Geld allein. Es geht um die Liebe.

Weil er glaubte, dass es überall besser sein müsste als zu Hause, ging er fort. Nur das Ankommen hatte er sich leichter vorgestellt.

Schwungvoll zieht er die Tür der Kneipe auf, tritt hinein, schiebt sich die Wollmütze aus der Stirn. Er hält einen Strauß mit roten und gelben Rosen vor sich wie einen Schild. „Guten Abend.“ Ein kurzer Gruß an die beiden Männer hinter dem Tresen, dann drückt er sich an der Bar vorbei zwischen die Tische. Das ist jetzt sein Auftritt. Nur schaut fast niemand.

Korim* kommt aus Bangladesch. Nachts verkauft er in Berliner Kneipen Rosen, die kaum jemand haben will.

„Du kannst mitkommen“, hat er zuvor gesagt. „Aber bitte bleib draußen.“ Das Rosenverkaufen ist ein Ein-Mann-Business. Und es ist mühsam.

Durch die Fenster der Bar lässt sich sein Auftritt verfolgen wie ein Stummfilm. Lächeln, Kopfschütteln, hochgezogene Augenbrauen. Eine Blume für die Freundin ist eine nette Geste, sagt Korim. Aber wenn einer keine Blume kauft? „Dann ist es keine Liebe.“

Der Himmel über Berlin ist an diesem Februartag schon seit Stunden wieder dunkel, vereinzelt schweben Schneeflocken durch die Luft. Breitbeinig lachend marschieren junge Männer über den Gehweg. Zwei Mädchen ziehen frierend die Schultern hoch, die Hände in den Taschen ihrer Winterjacken vergraben, die Haare zum Dutt gebunden, die Lippen rot. Schweres Parfüm. Sie gehen ganz schief, als wären sie an den Schultern zusammengewachsen. Sie schweigen. Zum Reden ist es zu kalt. Aus dem Eingang zur U-Bahn weht warme Luft auf die Straße, ein Pärchen streitet sich auf der Treppe. Später Freitagabend.

Korim gehört zu dieser Nacht wie die roten Lippen und das Parfüm. Er ist der Nebendarsteller, mit dem das Klischee des Ausgeh-Wochenendes erst eines wird. Wenn er durch die Straßen geht, dann grüßen ihn viele. Pärchen, die aus Bars kommen, oder Jungs, die am Straßenrand ihre Räder abschließen.

„Hey Korim“, sagen sie, „alles gut?“ Alles gut, sagt er dann. Korim sagt das ziemlich oft.

Den Rosenverkäufer zu kennen, ist schick. Ihn besser zu kennen, nicht.

Korim ist 42 Jahre alt, und natürlich besitzt er einen Nachnamen. Nur behält er den lieber für sich. Korim ist nicht groß, und kräftig wirkt er nur, weil er so viel übereinander trägt bei diesem Winterwetter: eine warme Überhose, die Regen und Schnee abweisen kann. Eine dicke Jacke, die eng sitzt über Pullover und Schal. Seine Handschuhe sind zweigeteilt. Den oberen Teil klappt er zurück, wenn er einzelne Blumen aus dem Strauß zuppelt. Oder wenn er sich die Nase putzen muss, was ziemlich häufig vorkommt, denn Korim fährt trotz der Kälte mit dem Rad. Die Blumen transportiert er in einem großen grünen Korb auf dem Gepäckträger. Müde zittern ihre Köpfe, wenn er voranfährt, hustend, kreuz und quer. Er merkt sich keine Straßennamen, er merkt sich seine Käufer.

*Name geändert

In Korims Geschichte gibt es nur eine Wahrheit

Wenn er zwischen 30 und 40 Rosen verkauft, dann ist es eine gute Nacht. Etwa 25 Euro zahlt er für so einen so großen Strauß, er kauft ihn im Großmarkt oder bei einem Händler, meist Stunden, bevor er die Rosen weiterverkauft, für zwei Euro pro Stück. Manche verschenkt er auch. Kundenbindung.

Als er zum ersten Mal in Deutschland war, empfahl ihm ein Bekannter: verkauf Feuerzeuge. Billig einzukaufen, immer benötigt, guter Absatz. „Ein Problem“, sagt Korim. Also versuchte er es mit Parfüm. „Ein noch größeres Problem.“ Mehr sagt er dazu nicht.

Die Rosen erwiesen sich als vergleichsweise problemlos, schnell gekauft, schnell verkauft, ein flüchtiges Gewerbe, schlecht zu überprüfen, doch ganz gut von zu leben. Korim aber sagt: „Blumen sind meine Liebe.“

In Korims Geschichte gibt es nur eine Wahrheit – seine.

Er erzählt sie ein paar Tage vorher, in einem überheizten türkischen Café, leise in einer Ecke, wo ihn niemand sehen kann, der ihn vielleicht kennen könnte. Zwischen ein paar Schlucken Tee muss er immer wieder husten. Seit Tagen ist er erkältet, es will einfach nicht besser werden. Es muss wohl die Kälte sein, der größte Unterschied zwischen Bangladesch und Deutschland, sagt er. Dort sinkt die Temperatur im Winter kaum unter 20 Grad, hier schneit es.

„Schenee“, sagt Korim, und das hineingemogelte E macht dieses Wort fast zu einem anderen: Schöne. Dabei ist ihm das Wetter völlig egal.

Korim ist geboren und aufgewachsen in Dhaka, der Hauptstadt von Bangladesch, einem Ort, der seit Jahrzehnten wächst und wächst. Wie viele Menschen dort leben, das lässt sich offenbar nur schätzen. Vielleicht sind es 15 Millionen, vielleicht noch einige Millionen mehr. Dhaka ist lebendig und bunt, aber es ist auch arm – und gefährlich. So gefährlich, dass das Auswärtige Amt vor Reisen dorthin warnt; dass Korim, um zu zeigen, wie gefährlich, Daumen und Zeigefinger abspreizt, als hielte er eine Pistole in der rechten Hand.

In den Nachrichten des Westens taucht Bangladesch auf, wenn es überflutet wird, und Dhaka, wenn dort Näherinnen in einer Fabrik verbrennen. Bangladeschs wichtigstes Exportgut sind Textilien, die meisten davon kaufen die USA, gefolgt von Deutschland.

Korims Eltern schickten den Sohn nach der Schule an die Universität, wo er Geschichte studierte. So erzählt er es. Doch Arbeit fand er keine. Das Jahr, in dem er die Universität verließ, war dasselbe, in dem die bis dahin wohl schwerste Flut in der Geschichte Bangladeschs das Land überspülte, 1998. Das Wasser vernichtete Häuser und Wohnungen von mehr als 20 Millionen Menschen – und als es sich nach Wochen endlich zurückzog, hinterließ es neben Verwüstung nur noch mehr Armut. Korim beschloss, Bangladesch so bald wie möglich zu verlassen.

Er schaffte es erst im Jahr 2007. Mit einem Arbeitsvisum reiste er nach Turin in Italien, das Geld für die Papiere spendierte ihm sein Bruder. Er lernte ein wenig Italienisch, jobbte in einem Restaurant, organisierte, was es zu organisieren galt, um eine längerfristige Aufenthaltserlaubnis zu bekommen. Im Wesentlichen waren das: ein Anwalt – und noch mehr Geld.

„Hauptsache“, sagt Korim, „die Papiere sind gut.“ Und er legt sie auf den Tisch. Seinen Pass mit dem Visum und einen kleinen Ausweis aus Italien. Vom Passbild schaut ein Mann mit glänzend schwarzem und glatt gekämmtem Haar, er sieht blass aus im Blitzlicht des Fotografen.

Er steckt die Dokumente zurück in eine Plastiktüte, umwickelt alles mit einem Gummiband und verstaut das Päckchen wieder in der Innentasche seiner Jacke. Sein kostbarster Besitz. „Alles gut“, sagt Korim mit tiefer Stimme, die Augen ernst und dunkel. „Keine Probleme“, schiebt er beschwörend hinterher.

Probleme oder keine Probleme, das ist in Korims Erzählungen selten Ansichtssache, sondern existenziell.

Und warum ausgerechnet Italien? Weil Italien, anders als Deutschland, auch ungelernte Arbeiter aus Ländern, die nicht zur EU gehören, relativ unkompliziert einwandern lässt, eine bestimmte Zahl in jedem Jahr. Korims Aufenthaltserlaubnis ermöglicht es ihm nun, innerhalb Europas zu reisen, Italien immer wieder für die Dauer von drei Monaten zu verlassen. Dann fährt er nach Deutschland.

Korim erzählt, dass er Deutschland liebe, weil die Deutschen viel spendeten, als die Menschen in Bangladesch unter den Folgen der Fluten litten. Er denkt daran noch immer. Wenn er nicht arbeitet, dann spaziert er durch die Stadt, er schaut sich das Leben an, er kocht oder er schläft.

Freitagnacht gegen 22 Uhr drückt er die Tür einer Eckkneipe auf. Stumm und mit kleinen Augen sitzen zwei Männer an der Theke, ihre Jacken haben sie nicht ausgezogen. Sie gucken trüb aufs üppige Dekolleté der Bedienung. Die Bar ist mit rosa Lametta verhängt, die Musik sehr laut. Im hinteren Teil des Raumes feiert jemand seinen Geburtstag, die Tanzenden tragen graues Haar und Brillen, an der Decke baumeln kleine Luftballons, Luftküsse fliegen durch den Raum, der DJ zieht sich das T-Shirt aus. Ein Glatzkopf visiert das DJ-Pult an, peilt, rutscht vom Barhocker, möchte geradeaus laufen, schafft es fast.

Korim steht und schaut. Er steht hier so falsch. Korim ist Muslim, er trinkt keinen Alkohol, nur Limo oder Tee. In Bangladesch, wo der Islam Staatsreligion ist, sollten Männer und Frauen nicht zusammen ausgehen, wenn sie nicht verheiratet sind, erzählt er. Das sei natürlich etwas übertrieben. Aber ist es das hier nicht auch?

Ein älterer Herr geht langsam auf Korim zu, hält sich an dessen Schulter fest, einen Zehn-Euro-Schein in der Hand. Blumen für die Damen da hinten. Mal was Schönes. Geschmeichelt nehmen sie die Rosen aus seinen Händen. Korim lächelt.

Über die Liebe in Deutschland hat er gelernt: „Je mehr Alkohol, desto größer ist sie.“ Sein Flirt bleibt nüchtern. Es sind die Frauen, denen er die Blumen anbietet. Dann wartet er. „Bis der Mann bezahlt.“ Denn die Frau will die Rose, und der Mann will die Frau. Es wäre schön zu sagen: Korim bringt die Liebe. Aber er weiß es ja besser.

Mit Wasser versorgt, halten seine Rosen viele Tage, aber ohne kaum länger als eine Nacht.

Geld sei kein Problem, sagt er.

Er selbst hätte gern eine Liebe. Nichts Flüchtiges, sondern richtig, mit Kind und allem. Er träumt von einem kleinen Kiosk, der seinen Namen trägt – und den seines Sohnes. Er hofft, all dies in Deutschland zu finden. Kommt die Liebe, dann sind auch deutsche Papiere kein Problem. Italien ist in diesem Plan kein Umweg, es ist der einzige Weg.

Draußen auf der Straße legt Korim die restlichen Rosen in den Fahrradkorb. „Ist doch alles Europa“, sagt er und bewegt den Arm, als rühre er in einem großen Topf, in dem alle schwimmen. Italiener, Deutsche, Franzosen, Briten, Polen – und dazwischen paddelt er selbst, hält den Kopf über der Brühe so gut, wie es eben geht. Der große europäische Gedanke, den in Deutschland niemand recht zu denken vermag, hier ist er, verpackt in ein Atemwölkchen, rausgepustet in die kalte Berliner Nacht.

Noch eine Bar, es ist vielleicht die zwanzigste. Das Licht darin ist fast bis zur Dunkelheit gedimmt, eine der Fensterscheiben ist zersprungen und verklebt. An einem Tisch gleich neben der Tür sitzen junge Männer und Frauen, sie lachen und trinken. Korim hält seinen kalten Strauß Rosen in die Unterhaltung. Eine Frau schaut in ihr Glas, der Mann ganz rechts zuckt mit der Schulter, als schüttele er eine Spinne ab. Auch das heißt Nein.

„Viele Bangladeschis suchen Arbeit im Ausland“, sagt Korim. Auch von seinen Geschwistern, sieben insgesamt, seien einige in Europa. Die Eltern leben noch in Bangladesch. Das Geld, das sie in ihre Kinder investierten, sollte denen zu Glück verhelfen – und zu mehr Geld. Korim telefoniert oft mit ihnen. Wenn seine Mutter fragt, wann er denn endlich einen Laden eröffnen wird, dann sagt er: bald. Dass er Rosen verkauft, weiß sie nicht.

Geld sei kein Problem, erzählt er. Oder er sagt: „Wer braucht schon Geld?“ Er. Alle.

Wenn das Geschäft mit den Blumen nicht genug abwirft, dann arbeitet er als Aushilfe in einem Restaurant. Auf 500 Euro komme er zusammengerechnet in einem Monat, in Bangladesch entspricht das in etwa einem durchschnittlichen Jahreseinkommen. Für 100 Euro kauft er Lebensmittel, 200 Euro zahlt er für ein Zimmer, das er sich mit einem anderen Mann teilt.

„Alles gut“, sagt Korim. Ein schlechtes Leben in Europa ist immer noch besser als ein nicht ganz so schlechtes in Bangladesch.

Auf dem Gehweg vor einem türkischen Café kauft ein junger Mann im kunstseidenen Blouson eine Rose. Wie geht’s, wie geht’s? Alles gut.

Eine Barfrau nimmt gleich fünf Blumen. Gibt zehn Euro und ein Lächeln. Und weiter.

Bist du glücklich, Korim?

„Was heißt das, glücklich?“

Happy. Are you happy?

„Oh ja, I’m a happy man.“

Bis zur nächsten Kreuzung schiebt er sein Rad. Die Nase läuft. Eine Kreuzung bedeutet: vier Ecken, vier Kneipen. Was wiederum bedeutet: Konkurrenz. Ein Kollege ist schon da. Ein Wortwechsel, mit schnellen, kurzen Schritten überquert Korim die Straße. Der Kollege dreht ab.

Wie viele Rosenverkäufer in der Stadt leben, ist nicht bekannt. Die Berliner Polizei sagt: „Es gibt keine Erkenntnisse über die Anzahl oder die Herkunft der Personen, und es gibt auch keine Probleme.“ Niemand beschwert sich. Korim ist für die Behörden kein Asylant und kein Flüchtling, sein Name steht auf keinem Klingelschild. Statistisch gesehen existiert er nicht.

Um kurz vor Mitternacht hat Korim ungefähr 40 Euro verdient, meistens arbeitet er etwa bis 1 Uhr. Manchmal geht er danach selber noch aus. Nachts fühlt es sich an, als dürfte er richtig mitmachen in Deutschland.

Am Samstagmittag klingelt das Telefon. Es ist Korim, er sagt: „Schreib, dass alles gut ist, ja? Alles okay.“ Okay.

Der Text ist auf der Reportage-Seite erschienen.

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