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Thilo Sarrazin hat noch viel mitzuteilen.

© imago/IPON

Buchvorstellung in Berlin: Thilo Sarrazin provoziert nicht mehr

Einst löste er heftige Proteste aus, jetzt kommt kaum noch jemand zur Buchvorstellung. Thilo Sarrazin, Ex-Banker und -Senator, hat ausgereizt. Ein Ortstermin.

Die großen Tage des Hobby-Genetikers und Polit-Provokateurs Thilo Sarrazin sind Vergangenheit. Bei der Vorstellung seines vierten Buches über die Irrtümer und Fehlentscheidungen deutscher Politik blieben nicht nur die Demonstranten aus, auch im Saal war es überraschend leer. Von den 120 Plätzen im Tagungszentrum Jerusalemkirche unweit des Jüdischen Museums blieb die Hälfte unbesetzt. Zu Sarrazin, so scheint es, ist das Wesentliche gesagt. Nur Sarrazin selbst hat offenbar den Eindruck, noch lange nicht am Ende zu sein mit seinen Analysen und Beobachtungen. Auf den 560 Seiten zum Thema "Wunschdenken" in der deutschen Politik hat er vor allem Angela Merkel ins Visier genommen, aber auch Berlins Ex-Regierenden Klaus Wowereit und die Megapleite seiner Amtszeit, die Nicht-Eröffnung des neuen Flughafens BER.

Sarrazin ist ein "verletzter Autor"

Sarrazin zeigt keine Emotionen, verweigert den Fotografen das Lächeln, spricht knapp und überlegt - also alles wie immer. Die geröteten Wangen lassen eine gewisse Anspannung vermuten. Zunächst darf ein Professor der Geschichte das neue Buch bewerten, Andreas Rödder von der Uni Mainz. Sein Urteil fällt differenziert und wohlwollend aus. Sarrazin sei belesen, klug, leidenschaftlich, aber auch ein "verletzter Autor", weil er nach dem Ausscheiden aus der Bundesbank seine "bürgerliche Existenz nur mit Mühe" habe retten können. Verantwortlich für seinen Sturz: Angela Merkel, die sich nach dem Erscheinen von Sarrazins erstem Buch von ihm distanzierte. Rödder seinerseits distanziert sich von den bekannten Thesen Sarrazins zur Vererbung von Intelligenz und kulturellen Rückständigkeit muslimischer Gesellschaften, lobt aber seine Ausführungen zu politischer "Fremd- und Selbsttäuschung", auch und gerade in der aktuellen Flüchtlingsdebatte.

Sarrazin war schon lange am Schreiben, als die Flüchtlingskrise über Deutschland hereinbrach, trotzdem lieferte sie ihm wichtiges Anschauungsmaterial für seine Kernthese, Politik orientiere sich weniger an Fakten als an ideologisch geprägten Wunschvorstellungen. Etwa, dass die hunderttausenden Asylbewerber aus dem Nahen Osten und Afrika für Deutschland eine Bereicherung seien. Für Sarrazin ist das Gegenteil richtig. Merkels Entscheidung, die in Ungarn gestrandeten Flüchtlinge im vergangenen Herbst großzügig aufzunehmen, sei die "größte politische Torheit" seit dem Zweiten Weltkrieg. Dennoch solle das Buch nicht als Abrechnung mit Angela Merkel gelesen werden.

SPD könnte erneut abstürzen

Sarrazin meidet politische Reizwörter wie Lügenpresse oder Asylmissbrauch, zitiert lieber Max Weber als klar zu sagen, was er denkt. Die etablierten Parteien, so erklärt er, müssten sich über das Erstarken von "Alternativen" nicht wundern, wenn sie in brisanten Fragen nur "einheitliche Antworten" gäben. Seiner eigenen Partei SPD könnte es bald erneut so ergehen wie in Sachsen-Anhalt, wo sie auf ein historisches Tief von 10,6 Prozent abstürzte.

Zur Berliner Politik nach seinem eigenen Ausscheiden als Finanzsenator wolle er sich nicht äußern, das empfände er als "taktlos". Wowereit wird im Buch eine Mitverantwortung an der BER-Pleite angelastet. Man sollte eben keinen Flughafen-Aufsichtsrat leiten, wenn man von Flughäfen keine Ahnung hat, meint Sarrazin. Ansonsten bleibt der Sachbuchautor vage. Es habe mangelnde Aufsicht und Führungsprobleme in der Berliner Verwaltung gegeben. Beispiel: Es seien seinerzeit Sozialarbeiter gesucht worden und niemand außer ihm sei auf die Idee gekommen, doch mal die landeseigene Personaldatenbank nach entsprechenden Qualifikationen zu durchforsten. 300 Mitarbeiter, die sich längst "wärmere Tätigkeiten" am Schreibtisch gesucht hätten, seien so identifiziert worden. Doch auf Nachfrage konnte Sarrazin nicht sagen, ob diese Mitarbeiter denn auch tatsächlich eingesetzt werden konnten.

Thilo Sarrazin, Wunschdenken. Europa, Währung, Bildung, Einwanderung - warum Politik so häufig scheitert. DVA 2016

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