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Am Rand des Kreuzberger Friedhofsgeländes an der Jüterboger Straße soll eine Wohnanlage für Flüchtlinge gebaut werden.

© Doris Spiekermann-Klaas

Bürgerinitiative gegen Friedhofsbebauung in Kreuzberg: Unredlicher Protest

Eine Bürgerinitiative sammelt Unterschriften gegen ein Bauprojekt am Rand der Friedhöfe im Bergmannkiez. Dass dort Wohnungen für Flüchtlinge entstehen sollen, wird verschwiegen. Warum bloß? Ein Kommentar.

Die Unterschriftenlisten liegen beim Bio-Bäcker, in der Markthalle am Kreuzberger Marheinekeplatz, in Kneipen und Blumenläden – und die Spalten haben sich schnell gefüllt. Seit September hat die Bürgerinitiative „Keine Bebauung! Für die Erhaltung der Bergmannfriedhöfe in Kreuzberg“ nach eigenen Angaben mehr als 3000 Unterschriften gesammelt. Der Widerstand richtet sich gegen das Vorhaben der evangelischen Kirche, ein Teilstück am Rand des Friedrichswerderschen Friedhofs für den Bau von Wohnungen freizugeben – so wie viele Gräberfelder in Berlin entwidmet werden sollen, damit dringend benötigter Wohnraum, aber auch Erholungsflächen entstehen können. In der wachsenden Stadt verlangt das Leben inzwischen mehr Platz als der Tod. Von den 908 Hektar Friedhofsflächen wird langfristig etwa ein Drittel nicht mehr für Gräber benötigt, das liegt auch am Trend zur Urne und zur anonymen Bestattung.

Die Bürgerinitiative sieht die Kreuzberger Baupläne dagegen „als erschreckenden Ausdruck einer sich offenbar im Eiltempo vollziehenden Abschiednahme von traditionellen christlichen Werten“. Und weil das vielen kirchenkritischen Kreuzbergern herzlich egal sein dürfte, heißt es im Aufruf zur Unterschriftensammlung: „Man mag sämtliche christliche Werte wie Nächstenliebe, Versöhnung und nicht zuletzt Erlösung für Rudimente einer vergangenen Zeit halten ... Sei’s drum“ – die geplante Bebauung sei der Beginn „eines groben Aktes der Kulturzerstörung“. Schließlich seien Friedhöfe nicht nur „Orte der Ruhe und Besinnung“, sondern auch „wertvolle ökologische Nischen“.

Flüchtlinge seien selbstverständlich willkommen, betont die Initiative

Was die Initiative in ihrem Aufruf nicht erwähnt: Am Rand des Friedhofs in der Jüterboger Straße, in sicherer Nachbarschaft zur Polizei-Direktion 5, sind nicht etwa neue Luxusapartments geplant, entstehen soll dort eine Wohnanlage für anerkannte Flüchtlinge und ihre Familien, betreut von der Diakonie.

Ein nicht unwichtiges Detail. Die Flüchtlingswohnungen zu verschweigen, könnte man für unredlich halten. Im Kreuzberger Milieu, geprägt von der Parole „Refugees welcome“, kämen andernfalls womöglich weniger Unterschriften gegen das Bauprojekt zusammen. Und zum christlichen Wertekontext, den die Bürgerinitiative beschwört, passt die Ablehnung einer Flüchtlingsunterkunft auch nicht so recht.

Nein, Flüchtlinge seien selbstverständlich willkommen, sagt der Sprecher der Initiative. Da liegt er ganz auf Linie der grünen Bezirksbürgermeisterin Monika Herrmann, die erst in der vergangenen Woche bekräftigt hat, man würde gerne viel mehr Flüchtlinge aufnehmen, nur fehle es leider an Räumen. Um Missverständnissen vorzubeugen, hat der Mann von der Bürgerinitiative ein subtileres – man könnte sagen: von Verantwortungsgefühl getragenes – Argument dafür, das konkrete Bauvorhaben am Friedhof im Protestaufruf lieber unbenannt zu lassen: „Wir sind ja nicht gegen Flüchtlinge, sondern nur gegen die Bebauung.“ Amen.

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