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Berlin: Das älteste Gericht

Vor 100 Jahren erhielt eine wichtige Institution ein neues Gebäude: Das Kammergericht zog an den Kleistpark. Ein Rundgang durch ein Haus mit 540 Räumen.

Hinter den wuchtigen Königskolonnaden im grünen Kleistpark wirkt das Kammergericht wie ein neobarockes Schloss oder ein Herrscherhaus – jedenfalls strahlt es noch immer Würde aus und eine gewisse Erhabenheit. Heute feiert das Gebäude auf den Tag genau seinen 100. Geburtstag. Am 18. September 1913, mittags um zwölf, wurde es nach vierjähriger Bauzeit auf dem Gelände des einstigen Botanischen Gartens in Gegenwart von Prinz August Wilhelm von Preußen eingeweiht: „40 Möbelwagen waren 14 Tage lang damit beschäftigt, die gewaltigen Massen von Büchern und Schriftstücken nach dem neuen Gebäude hinauszuschaffen“, schrieb die „Vossische Zeitung“. Das Haus hatte 540 Räume. „Wach auf, wach auf, du deutsches Land“, spielte ein Trompeten- und Posaunenchor, und abends gab es im Festsaal des Zoologischen Gartens Helgoländer Hummer, Holsteiner Kalbsrücken und Straßburger Gänseleberpastete.

So starteten die Juristen ihre Arbeit im neuen Bau, wohlwissend, dass ihr Kammergericht eine uralte Institution ist: 1468 wird es erstmalig urkundlich erwähnt, ist damit Deutschlands ältestes noch tätiges Gericht. „Anders als andere, die im Freien tagten, verhandelte es schon damals in den „Kammern des Landesherrn“. Daher der Name“, erklärt Ulrich Wimmer, Richter und Pressesprecher, und eilt durch gekachelte Flure, vorbei an kleinen und großen Sitzungssälen in die Bibliothek. Hier gibt es die erste Antwort auf die Frage: Wo sind stumme Zeugen der Vergangenheit zu sehen? „Bei uns“, sagt Bibliotheksleiterin Gabriele Hoffmann. Die jahrhundertealte Berliner Justizgeschichte steckt zwischen vergilbten Buchdeckeln, hinter Metallschließen und in mächtigen Folianten, das älteste Stück ist eine Gerichtsordnung von 1533, das prächtigste behandelt die Krönung Karls VII. Der 100000-fache Schatz war verschollen und tauchte nach der Wende in einer Scheune in Lindenberg auf – die Staatsbibliothek Unter den Linden hatte die Bücher ausgelagert und dann vergessen. Nun wurden sie in Leipzig vom Schimmel befreit und mithilfe von 340000 Lotto-Euro restauriert.

In Berlins oberstem Zivil- und Strafgericht arbeiten 130 Richter und 300 weitere Mitarbeiter, in 28 Zivil- und fünf Strafsenaten werden die Entscheidungen anderer Gerichte in höherer Instanz überprüft, in Spionage- oder Terrorismusprozessen ist das Kammergericht in erster Instanz tätig.

Unrühmlich ist die Zeit vom August 1944 bis Januar 1945, als im Plenarsaal gegen die Beteiligten am Hitler-Attentat vom 20. Juli 1944 verhandelt wurde. Der Grund: Der Volksgerichtshof in der Bellevuestraße besaß keinen Saal für die zahlreichen Zuschauer, die den Schandprozess des Roland Freisler verfolgen sollten. „Freisler war hier als verbrecherischer Gast“ sagt die heutige Kammergerichtspräsidentin Monika Nöhre. Strafprozesse finden in diesem Saal nicht mehr statt, doch es tagt der Verfassungsgerichtshof des Landes Berlin. Viele Besuchergruppen kommen an den Ort, und man glaubt die geifernde Stimme des Nazi-Anklägers zu hören, wenn man den dunkel getäfelten Saal mit seinem allegorischen Deckengemälde zum Thema Wahrheit, Gerechtigkeit und Freiheit betritt – Hakenkreuzfahnen hingen und eine Hitler-Büste stand damals hinter dem Richtertisch.

Die neue Ära nach 1945 sieht das Gebäude als Sitz des Alliierten Kontrollrates, doch am Anfang des Kalten Krieges verlässt die Sowjetunion im März 1948 das Gremium. Dennoch hängen die Fahnen der vier Siegermächte weiter über dem Eingang – heute sind nurmehr die leeren Fahnenstangen geblieben, sie stehen unter Denkmalschutz. Bis zum 2. Oktober 1990, dem Tag vor Deutschlands Wiedervereinigung, sind nur noch 20 Räume besetzt: Unbeschadet der Ost- West-Konfrontation überwacht die Alliierte Luftsicherheitszentrale den Flugverkehr von und nach Berlin.

Fotos der jungen Soldaten, die bis zum 2. Oktober 1990 im „Berlin Air Safety Center“ die Hoheitsrechte im Luftraum über Berlin ausübten, sind in jenem Verhandlungssaal ausgestellt, in dem die Spezialisten der „Großen Vier“ einst gearbeitet haben. Ihre Chefs hatten am 3. September 1971 das Viermächte-Abkommen unterzeichnet. Und unter dem Dach wurden damals sogar Tiere gehalten, man vermutet kleine Hausschweine.

„Einhundert Jahre“ nennt der einstige Präsident des Oberverwaltungsgerichts Jürgen Kipp sein Buch zur Historie des Gebäudes, das heute im Berliner Wissenschaftsverlag erscheint. Kammergerichts-Präsidentin Monika Nöhre sagt: „Die Geschichte hat um dieses Haus keinen Bogen gemacht, sondern ist mitten hindurchgegangen. Ich wünsche mir, dass die Erinnerung an Höhen und Tiefen bleibt und sich nicht abnutzt.“

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