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Ausgezeichnet: Buchautorin und Tagesspiegel-Kolumnistin Hatice Akyün (li.) erhielt den Integrationspreis aus den Händen von Integrationssenatorin Dilek Kolat (SPD).

© Davids/Sven Darmer

Integrationspreis für Hatice Akyün: Deutsche Lebensfreude, türkische Akribie

Der Reichtum zweier Lebenswelten und der Kampf gegen Klischees: Tagesspiegel-Kolumnistin Hatice Akyüns hat den Berliner Integrationspreises entgegengenommen. Wir dokumentieren ihre Dankesrede.

Tagesspiegel-Kolumnistin Hatice Akyün schildert mit Ironie, Scharfzüngigkeit und Witz ihren Alltag als Deutschtürkin und deutsche Muslimin. Jeden Montag erscheint im Tagesspiegel ihre Kolumne „Mein Berlin – Notizen aus der globalen Stadt“. Am Freitag überreichte ihr die Senatorin für Arbeit, Integration und Frauen, Dilek Kolat, im Roten Rathaus den Berliner Integrationspreis 2011 für ihren „Einsatz gegen die Ausgrenzung von Einwanderergruppen“. Kolat sagte, dies sei ihre erste Amtshandlung. Den Preis verleiht der Landesbeirat für Integration- und Migration. Hier veröffentlichen wir Hatice Akyüns Dankesrede.

Die Stadt, die mir heute einen Preis verleiht, ist einzigartig, sie ist besonders, vor allem deshalb, weil sie nichts Besseres sein möchte. Diese Stadt ist vieles nicht, aber eines ist sie: Ehrlich. Berlin lebt von den Unterschieden, den Unterscheidungen, den vielen Gegensätzen, der Vielfalt und den vielen zarten Pflanzen des Gemeinsinns, die auch im Schatten von Vorurteilen Wurzeln schlagen. Zugegeben, die Phänomene die hier auftreten, gibt es woanders auch. Nur in Berlin sind sie präsenter, lauter, augenscheinlicher, geradezu aufdringlich. Vermutlich ist das auch ein Grund, warum Berlin nach außen so offen sein kann, nach innen aber manchmal merkwürdig verschlossen wirkt.

Der Preis, den ich heute bekomme, hat einen merkwürdigen Vornamen: Integration. Ja, und man könnte glatt meinen, ich bekomme diesen Preis, weil ich so vorbildlich integriert bin. Und dann kommt bei mir natürlich automatisch die Frage: Integriert in was und integriert wodurch und integriert womit?

Das einfachste Muster, das sich andient, ist: Türkischstämmige Migrantin, Bildungsaufstieg, Journalistin, Autorin und sichtbarer Bestandteil der Berliner Gesellschaft, mit ein wenig Ehrenamt wie Juror für Literatur- und Filmpreise und Kolumnistin des Tagesspiegels. Das beschreibt die eine, die offizielle Sicht.

Meine persönliche Sicht unterscheidet sich. Ich lebe davon, das zu verarbeiten, aufzuschreiben und zu veröffentlichen, was ich jeden Tag erlebe. Das gelingt mir mal mit mehr, mal mit weniger Erfolg. Ich bin mit den Herausforderungen einer alleinerziehenden Mutter konfrontiert, träume vom großen Wurf, auch um meiner Altersversorgung ein Stück näher zu kommen und versuche wie so viele andere im meinem Alter auch, mich um meine Eltern zu kümmern. Ich bin eine mittlerweile erfahrene Großstadt-Single- Frau, die privat und beruflich ihre Fehler besser analysieren kann als früher, was mich aber nicht davon abhält, sie immer wieder neu zu begehen.

Im Grunde meines Herzens bin ich so tief in der bundesrepublikanischen Normalität angekommen, dass ich regelmäßig erschrecke, mit wie vielem ich mich abgefunden habe, anstatt, wie Brecht es sagte, kräftig aufzubegehren. Was mich vielleicht von einigen in dieser Stadt unterscheidet ist, dass ich hautnah erlebe, wie sehr man sich dagegen wehren muss, in eine Schublade gesteckt zu werden. In meinem Beruf ist es Alltag, dass ich mich damit auseinandersetzen muss, die Attribute und pauschalen Vorurteile von „denen“ gegen „die“ zu entkräften. Ich muss aufpassen, dem süßen Gift zu widerstehen, weder der Mehrheitsgesellschaft als Beispiel dafür zu dienen, warum ich etwas geschafft haben soll, was andere mit meiner Vergangenheit nicht geschafft haben, oder mir als Muster der überangepassten Deutschtürkin den Argwohn jener zuziehe, die sich anmaßen, bestimmen zu können, wie man seine Identität leben darf.

Aber der Preis ist glücklicherweise keine Auszeichnung dafür, in einem Wettbewerb alle anderen hinter mir gelassen zu haben. Nein, der Preis hat etwas damit zu tun, dass ich mich einsetze, Brücken zu bauen, zwischen unterschiedlichen Lebenswelten. Dass ich mich mit Wahrnehmungen und unterschiedlichen Blickwinkeln auseinandersetze und es mich beschäftigt hält, mehr die Gemeinsamkeiten zwischen den Menschen herauszuarbeiten als die Unterschiede zu betonen. Dabei muss ich jedoch höllisch aufpassen, dass bloß nicht der Eindruck entsteht, ich wolle werten, oder dass meine Sichtweisen besser sind als die der anderen. Ich versuche mit meinen Augen Dinge zu beschreiben, die alltäglich sind, die uns alle betreffen und die wir zum Besseren ändern könnten, wenn wir es gemeinsam ändern würden.

Und was ist eigentlich genau mit Integration gemeint? Weitaus einfacher wäre es für mich zu erklären, warum ich mich in Berlin zu Hause fühle. Und auch, warum ich manchmal Heimweh nach Duisburg habe. Also was bedeutet es, integriert zu sein? Und wodurch unterscheidet es sich, nicht integriert zu sein? Aber vor allem: Wer entscheidet über das Maß der Integration?

Lesen Sie Hatice Akyüns Antwort auf Seite 2.

Schreibt jeden Montag im Tagesspiegel: Hatice Akyün.
Schreibt jeden Montag im Tagesspiegel: Hatice Akyün.

© Kai-Uwe Heinrich

Wenn soziale und gesellschaftliche Teilhabe damit gemeint ist, Chancen zu haben und sie auch wahrnehmen zu können, wenn man darunter versteht, Sozial- und Kulturtechniken zu beherrschen, die es einem ermöglichen, ein gleichberechtigtes, selbstbestimmtes und erfülltes Leben in der Gesellschaft zu führen, und wenn es bedeutet, gleiche Rechte und Pflichten zu haben und sie nicht nur erfüllen zu müssen, sondern auch reklamieren zu können, spätestens dann wird jedem klar, dass der Integrationsbegriff sich nicht nur auf Menschen mit dem seltsam technokratisch definierten Migrationshintergrund beschränkt, sondern viel, viel weiter greift.

Gehen Sie in Gedanken durch Ihre Familie, durch Ihren Freundeskreis, durch die Kieze dieser Stadt. Nehmen Sie die sozialen Unterschiede wahr, das Interesse, die Gleichgültigkeit und die Anteilnahme. Beobachten Sie Kinder und schauen Sie auf die alten, einsamen Menschen, die die Straßen entlanglaufen. Nehmen Sie die Kollegen am Arbeitsplatz und wen sie im Schwimmbad, im Zoo, beim Einkaufen und in der Kneipe sehen. Wäre es nicht eine schreckliche Vorstellung, wenn alles und jeder gleich und durchnormiert wäre? Anders zu sein ist erst dann keine Bedrohung, wenn man sie als Bereicherung, als Anregung, als Gewinn empfindet.

Ich muss es jedoch gestehen: Als Kind zweier Türken habe ich mich oft seltsam gefühlt. Ich dachte, wir sind sonderbar. Meine Mutter trägt ein Kopftuch, wir essen anders, wir sprechen anders. Ich habe das als schlimm empfunden, wollte ich doch so sein wie meine deutschen Freunde.

Erst als ich älter wurde, habe ich gemerkt, mit wie viel Reichtum ich gesegnet war, weil ich die Chance hatte, mit zwei Sprachen und zwei Kulturen gleichzeitig aufzuwachsen, und dass ich eine Menge vermissen würde, wenn ich mich für eine meiner beiden Welten entscheiden müsste. Zwei Lebenswelten bedeuten auch eine doppelte Chance. Anderen Ursprungs zu sein ist für mich faszinierend. Jemand, der zwei Kulturen in sich vereint, zwei Sprachen spricht, exotisch aussieht und womöglich einen Lebenslauf mit Ecken und Kanten hat, kann viele Geschichten erzählen. Als Deutsche mit türkischer Herkunft, oder Türkin mit deutschen Eigenschaften, bin ich in der Lage, meine türkischen und deutschen Landsleute zu beobachten und sie manchmal mit lieblicher, aber manchmal auch mit spitzer Zunge zu kommentieren. So bin ich mal die deutsche, mal die türkische Botschafterin.

Es mag sein, dass ich etwas privilegiert bin. Ich darf meine Eindrücke „senden“ und „empfangen“. Wenn ich zum Beispiel eine Kolumne über den Unsinn der Herdprämie schreibe, bekomme ich Leserbriefe, ich solle doch zu dem Thema schweigen. Meine islamistischen Freunde wären doch Nutznießer dieser staatlichen Prämie. Und da frage ich mich, wie viele Integrationspreise wir an Leute vergeben müssten, die sich in der bedrohten Mehrheit fühlen und ihre Ängste nur an der Schwelle zur Panik artikulieren können? Wie können wir eigentlich die im Gestrigen Verbliebenen in unsere Gesellschaft integrieren? Wir haben so viel Bedarf, jenseits von Herkunft, Menschen in den Arbeitsmarkt zu integrieren, Jugendlichen zur Sprachfähigkeit zu verhelfen, Minderheiten ernst zu nehmen und sie einzubinden. Und bei der Rolle der Geschlechter haben wir nicht nur dem Rückfall in traditionelle Muster gegenüber jungen Frauen Einhalt zu gebieten, sondern gerade jungen Männern auch ein Leitbild vorzuleben, das es ihnen erlaubt, in einer vaterlosen Gesellschaft ihren Weg zu finden, Männer und Partner werden zu können. Wir haben genug Alte, die am Rande stehen und sich verschämt abwenden, wir haben ihrer Lebensleistung in der Gesellschaft Geltung zu verschaffen und ihnen einen menschenwürdigen Lebensabend zu ermöglichen. Auch das ist eine große, unsere Integrationsaufgabe.

Integration ist, wenn überhaupt, kein statischer, sondern ein evolutionärer Begriff. Nichts ist irgendwann abschließend geregelt. Der Konsens in einer Gesellschaft wird nahezu täglich neu verhandelt. Wer meint, irgendwann wäre ein Prozess unumkehrbar abgeschlossen, der irrt gewaltig. Obwohl ich bemüht bin, die Chancen nach vorn zu stellen, sage ich, der Weg ist noch weit. Und zur Erkenntnis gehört, einzusehen, dass nicht ethnische Fragen im Vordergrund stehen, sondern die eigentliche: Die soziale Frage. Wie wäre es also, aus dem Einwanderungsland Deutschland eine Einwanderungsgesellschaft zu machen, die so attraktiv und chancenreich ist, dass für jeden etwas dabei ist. Und die einzig zulässige Frage an diejenigen, die kommen, sollte sein: Hilfst du uns bei der Zukunft mit? Um sich dies einzugestehen, bedarf es einer großen Portion Mut und viel Gefühl. Denn es stößt sich an unseren statischen Begriffen, wie Migrationshintergrund, Integration, hybride Existenzen oder Leitkultur. Es ist vielleicht was Deutsches, Sachverhalte präzise und technisch abzubilden. Das übersieht aber, dass es um Menschen geht. In der technokratischen Debatte finden sich die Gefühle der Mehrheitsgesellschaft genauso wenig wieder wie die persönliche Erfahrung des Nicht-verstanden-Werdens bis hin zur Ablehnung und Ausgrenzung.

Wenn gut ausgebildete Deutsche aufgrund ihres Nachnamens keine Stelle entsprechend ihrer Abschlüsse bekommen, geht es über die gedankenlose alltägliche Benachteiligung hinaus. Wenn sie dann in das fremde Land ihrer Vorfahren auswandern, machen sie das nicht, weil sie unbedingt ihr Heimatland verlassen wollen, sondern weil man ihnen hier die Integration verweigert. Wer sich um eine Wohnung bemüht, kämpft oft mit dem Zerrbild des Ausländers, wer seine Kinder auf eine weiterführende Schule schicken will, ist oft der Beurteilung durch die Lehrer ausgeliefert, wer seine Religion ausüben will, fällt unter den Generalverdacht der Staatsferne.

Vom früheren Bundesverfassungsrichter Ernst Gottfried Mahrenholz kenne ich eine Geschichte aus seiner Zeit als Kultusminister in Niedersachsen. Er erzählte von einem internationalen Kindergarten bei Hannover, den er besucht hatte. Irgendwie gab es Streit unter den Kindern. Die Erzieherin wollte wissen, wer den Streit angefangen habe. Eines der Kinder sagte, der mit dem roten Pullover. Keiner der Erwachsenen, auch der Kultusminister nicht, sah ein Kind mit einem roten Pullover. Die Erzieherin sagte schließlich, sie mögen auf das Kind mit dem roten Pullover zeigen. Die Kinder zeigten auf einen Jungen mit einem roten Pullover. Es war ein dunkelhäutiges Kind. Die Erwachsenen konnten den roten Pullover nicht mehr sehen, weil ihnen die Hautfarbe des Kindes die unbefangene Sicht versperrte. Für die Kinder aber war es das Kind mit dem roten Pullover.

Wenn wir eine Gesellschaft wollen, die ihre Bürger am Pullover erkennt – und damit meine ich nicht die Marke –, bin ich mehr als bereit, meinen Beitrag dafür zu leisten. Liebe Senatorin Dilek Kolat, lassen Sie es mich jederzeit wissen, wenn ich Sie dabei unterstützen darf.

Als Gerhard Schröder die Green-Card- Initiative startete, konterte Jürgen Rüttgers mit dem Slogan „Kinder statt Inder“. Die Sponti-Szene wandelte ihn ab und kreierte den Spruch „Kinder mit dem Inder“. Integration lebt davon, nicht ständig gelebt zu werden, sondern einfach zu leben.

In meinen Büchern habe ich mich mit den zwischenmenschlichen Aspekten des Aufeinandertreffens zweier unterschiedlicher kultureller Wurzeln beschäftigt. Ich habe mittlerweile sehr gute deutsche Freunde, deren Temperament, Lebensfreude und Unruhe jeden Südeuropäer blass aussehen lässt. Und ich habe Kollegen türkischer Herkunft, die mit ihrer Akribie und Pedanterie alle Vorurteile gegen die Deutschen widerlegen.

Integration heißt für mich mitmachen, ohne sich aufzugeben; dazugehören ohne umzufallen; andere mitzunehmen, ohne zu bevormunden und ankommen zu können, ohne seine Vergangenheit wegwerfen zu müssen. Aber das geht nur, wenn man wechselseitig Vertrauen fasst. Es ist die ehrliche Chance, in einer Gesellschaft aufgehen zu dürfen, die einen zwar fordern darf, aber jeden auch so annimmt, wie er ist, damit man seinen ganz persönlichen Platz finden kann.

Langsam, vielleicht zu langsam, färben wir aufeinander ab. Und mir wird nicht bange davor, ganz im Gegenteil. Ich freue mich auf ein bunt gemischtes Ganzes und werde alles dafür tun, was ich kann, um unser Land weltoffen, tolerant, frei und sozial gerecht zu gestalten.

Natürlich frage ich mich, wie es weitergeht mit der Integration. Sich über Zuschreibungen Distanzen zu erhalten, das tun wir alle. Einerseits ist das Selbstschutz, andererseits brauchen wir auch eine Zone, die uns nicht täglich vor Augen führt, welch große Daueraufgabe wir zu wuchten haben. Umso mehr bewundere ich die Leute, die es schaffen, Gräben zu überwinden und sich den Vorurteilen beider Seiten zu stellen. Ohne Publikum, ohne Kameras und ohne dafür einen Preis zu bekommen.

Deshalb möchte ich diesen Preis stellvertretend für alle Bürger in unserem Land entgegennehmen, die jeden Tag dazu beitragen, dass wir friedlich, respektvoll und auf Augenhöhe miteinander leben.

Es ist unsere gemeinsame Aufgabe, immer wieder und unermüdlich geschürten Ängsten, Vorurteilen und Ausgrenzungen in unserer Gesellschaft entgegenzutreten. Nur so gelingt es uns, zusammenzuwachsen und eins zu werden.

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