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U-Bahn-Überfall: Die Größe des Opfers

Die Narbe juckt, der Kopf ist noch geschwollen, die Mimik lahmt. Aber manchmal lacht er, und dann wandelt sich das Gesicht in Zuversicht – was fast ein Wunder ist. Marcel R. wurde von vier Jugendlichen in einem Berliner U-Bahnhof halb totgeschlagen.

Auf dem kleinen Balkon eines Pankower Mietshauses sitzt ein junger Mann, in dessen Schädel bis vor kurzem noch ein riesiges Loch klaffte, und erzählt von einem Traum. Er ist im Freien, aber weiß nicht wo. Er sieht Gestalten um sich herum, die ihm etwas antun wollen. Sie werden ihn gleich fassen. Er läuft weg, will Hilfe suchen, aber niemand ist da. Nur die Unbekannten. Er schreit. Dann wird er wach.

Auf dem Kopf von Marcel R., 31, zieht sich von der Stirn eine rot leuchtende Narbe durch die stoppelkurzen Haare bis hinunter zum linken Ohr. Wenn es warm ist, juckt die Narbe, und Marcel fummelt ständig an ihr herum. Es sieht dann so aus, als fühle er nach, ob die Schädeldecke auch wirklich komplett ist. Wenn es nicht juckt, sitzt er meist wie ein schmächtiger Buddha im Schneidersitz auf seinem Plastikstuhl, die Hände entspannt auf die Oberschenkel gestützt, Oberkörper aufrecht, und raucht. Die Augen, denkt man, blicken traurig ins Nirgendwo, und im Gespräch wirkt er oft teilnahmslos. Aber das liegt daran, dass die Mimik im Gesicht noch nicht wieder funktioniert, dafür ist der Kopf noch zu geschwollen und die Gesichtsmuskeln noch nicht austrainiert. Manchmal, wenn Marcel lacht, was motorisch gar nicht einfach ist, verwandelt sich das ganze Gesicht in Zuversicht. Und das ist an sich ein Wunder.

Am Freitag, den 11. Februar, läuft der Maler- und Lackierermeister am späten Abend mit seinem Arbeitskollegen Steffen O. über den U-Bahnhof Lichtenberg. Sie haben im Bezirk auf einer Baustelle gearbeitet, waren nach Feierabend noch auf ein Bier in einer Billardkneipe und sind nun auf dem Weg nach Hause, als vier Jugendliche zwischen 14 und 17 Jahren sie angreifen. Auf dem Überwachungsvideo der U-Bahn wird man später sehen können, wie sie Marcel verfolgen, ins Gesicht schlagen, treten, und schließlich, als er sich hinter einem Pfeiler versteckt, mit einem brutalen Tritt zu Boden strecken. Dann trampeln sie weiter auf ihm herum, bis er ins Koma fällt, klauen Handy und Brieftasche und verschwinden. Auf den Aufnahmen sind auch andere Passanten zu sehen, doch niemand greift ein. Steffen O. kommt glimpflich davon, weil ihm bei seiner Flucht ein zufällig vorbeikommendes Mitglied des Rockerklubs „Bandidos“ hilft.

Den Traum, sagt Marcel dreieinhalb Monate später, habe er nur ein einziges Mal geträumt. Und dann nie wieder. Das zu betonen, ist wichtig für ihn, es soll sagen: Ich habe keine Angst mehr. Aber das muss nicht stimmen. Der Inhalt dieses Traumes ist zusammengesetzt aus realen Erinnerungsfetzen seines Unterbewusstseins. Der Traum hatte ein Ende, doch in der Wirklichkeit ist er lange Zeit nicht mehr aufgewacht, sondern schwebte in Lebensgefahr und lag im Koma. Aber an den Überfall kann sich Marcel nicht mehr erinnern. Er weiß nur noch, dass da vier Jugendliche waren, und dass sie ihm seine Tasche wegnehmen wollten.

Auch aus diesem Grund ist die Angst wohl kein Dauergast in Marcels Psyche, sein Bewusstsein hat sich quasi rechtzeitig abgestellt, das Koma ist somit auch eine Art Sicherheitsraum, der ihn vor möglichen Traumata schützen soll. Das Erlebnis des Überfalls wird abgespalten, entkoppelt vom Denken, Fühlen und Handeln. Und die schlimmsten Teile des Erlebten, sagen Traumatologen, sind somit von der Gehirnfestplatte gelöscht.

Dieser Tag im Februar wirkt aus heutiger Sicht wie ein fatales Signal, denn in den folgenden Wochen erlebt Berlin noch weitere Überfälle auf U-Bahnhöfen, wie etwa den Angriff des 18-Jährigen Torben P. auf den 29-Jährigen Markus P. Auch Torben tritt mit den Füßen auf den Kopf des am Boden liegenden Mannes ein. Allerdings wird bei den anderen Fällen niemand so schwer verletzt wie Marcel.

Als auf dem U-Bahnhof Lichtenberg ein Pärchen endlich die Polizei holt, kommt Marcel zunächst ins Sana-Klinikum Lichtenberg, er blutet aus beiden Ohren, sein Zustand ist zu kritisch, man kann ihm nicht helfen. Mit dem Hubschrauber wird er ins Unfallkrankenhaus Marzahn geflogen, wo die Ärzte ein schweres Schädel-Hirn-Trauma diagnostizieren. Die Schwellung des Gehirns und die Hirneinblutung sind nach den Fußtritten so stark, dass die Ärzte ihrem Patienten einen Teil der Schädeldecke abnehmen müssen, der bei Minus 80 Grad konserviert wird. Nur durch diese „Entdeckelung“, wie die Ärzte sagen, konnte Marcel überleben.

Katja G., die aussieht wie eine stolze Wikingerin, schwarzes Haar, rundes Gesicht, sitzt neben ihrem Bruder auf dem Balkon, sie ist nicht nur seine Schwester, sie ist sein Bodyguard. Bei der Begrüßung hat sie stolz zu Marcel gezeigt und mit sanfter Stimme gesagt: „Da ist mein Wunderkind.“ Drei Tage weiß die Familie nach dem Überfall nicht, wo Marcel ist, denn die Polizei weiß ja nicht, wer er ist. Die Mutter ist für Samstag, den 12. Februar, mit ihrem Sohn verabredet, aber der meldet sich nicht.

Lesen Sie auf der folgenden Seite: Wie Marcel geholfen wird und wie seine Familie mit der Situation umgeht

Als Katja G. und ihre Mutter endlich auf die Intensivstation dürfen, denkt sie zunächst an eine Verwechslung, sie ist Krankenschwester, sie hat selbst schon viel gesehen, aber keinen Kopf, der so dick geschwollen ist wie ein runder Ballon. Die Augen weit aufgerissen, darüber eine Art Schutzbrille, sie erkennt ihren Bruder schließlich am Leberfleck auf der rechten Wange. Sie denkt, wie kann er das nur schaffen?

Mitte März wird langsam damit begonnen, Marcel aus dem nun künstlichen Koma zu holen. Er ist zunächst halbseitig gelähmt, hat schwere Sprachstörungen und kann sich kaum bewegen. Er muss einen Schutzhelm tragen wie ein Boxer, denn noch fehlt ein Teil der Schädeldecke. Von dieser Ausgangslage betrachtet, sagt Ingo Schmehl, Chefarzt der Neurologie, sei der Heilungsprozess „rasant schnell verlaufen“. Ein ganzes Team von Ärzten kümmert sich um Marcel, er lernt zu sitzen, aufzustehen, langsam zu gehen, zu sprechen, seine Finger der linken Hand zu bewegen. Oft ist ihm schwindelig, die starken Schmerzmittel und Spritzen lassen sein Haar ausfallen, aber wenn alle weg sind, übt er im Krankenzimmer heimlich ohne Rollator zu laufen.

Seine Jugend, seine Zukunftsorientiertheit, wie Schmehl es ausdrückt, die neurologische Frührehabilitation und die Familie seien die wichtigsten Faktoren für diese schnelle Gesundung. Das Gehirn greift in der Krise vor allem auf Altbewährtes, Bekanntes zurück. Die Stimme der Schwester, die Berührungen der Mutter etwa sind ebenso wichtig für den Genesungsprozess wie die medizinische Versorgung.

Während Marcel Tag für Tag Sitzungen mit Logopäden, Physiotherapeuten, Neurologen und Ergotherapeuten hinter sich bringt, wird die Berliner Öffentlichkeit durch die anderen Überfälle vom Fall Marcel abgelenkt. Die Täter stehen im Mittelpunkt des Interesses, das Ausmaß an Aggression verlangt nach Erklärungen. Es wird gefragt, wie konnte das passieren, was hat die Täter dazu getrieben? Die Opfer und ihre Angehörigen fühlen sich dann selbst oft im Stich gelassen, ungehört, allein.

Zunächst erging es auch Marcels Familie so. Aber allein gelassen blieben sie nicht. Fast 55 000 Euro haben die Berliner gespendet, eine Solidaritätsgruppe auf der Internetplattform Facebook hat mittlerweile über 4000 Mitglieder, und in zahlreichen Mails haben fremde Menschen ihre Anteilnahme zum Ausdruck gebracht. Einer schrieb: „Mein Vater hat auch im Koma gelegen, er ist aufgewacht, und jetzt, wo ich das schreibe, sitzt er neben mir.“ Auch der bundesweit erfahrene Opferbeistand und Jurist Thomas Kämmer half der Familie. Allerdings übt er auch heftige Kritik an der Berliner Justiz. Die vier Jugendlichen sitzen zwar in Untersuchungshaft, aber die Beweisaufnahme ist anscheinend noch immer nicht abgeschlossen: „Es ist eine eklatante Verletzung der Opferrechte, dass wir bis heute nur Einsicht in die Altakte vom 23. Februar nehmen dürfen“, schimpft Kämmer. Er sagt, aus den bisher bekannten Täterpsychogrammen gehe eindeutig hervor, dass „der menschenverachtende Vernichtungswille Teil der Gesinnung der Täter“ sei. Deshalb fordere man auch eine Anklage, die die niedrigen Beweggründe der Täter berücksichtige. „Es geht hier nicht nur um Habgier“, sagt Kämmer.

Marcel wird die Täter nie wieder sehen, auch nicht in einem Prozess. Das hat er für sich so beschlossen und auch der Kriminalpolizei mitgeteilt. Er sagt, natürlich wünsche er sich, dass sie so lange wie möglich ins Gefängnis kommen und dass er keine Angst habe, die Täter zu treffen. „Aber ich bin so wütend, und wenn ich sie sehen würde, würde ich noch wütender werden. Das will ich nicht.“ Am liebsten würde er ohnehin nur noch in die Zukunft schauen, so oft es geht Döner mit Schafskäse essen oder eine Pizza und sich endlich einen Traum erfüllen: ein eigenes Terrarium. Einst ist Marcel, der mit einem Jahr mit der Familie von Remscheid nach Berlin in den Wedding zog, als Kind von einer Kreuzotter gebissen worden. Aber seiner Liebe zu Reptilien hat das nicht geschadet. Schlangen, Salamander, Eidechsen, damit möchte er sich beschäftigen, nicht mit Traumata, nicht mit Psychokram.

Sinngemäß hat er das auch dem Psychotraumatologen am Marzahner Unfallkrankenhaus gesagt. Er habe keinen Bedarf zu reden! Und der Facharzt hat es dann auch so gesehen, denn er fand bei Marcel weder Anzeichen von Depressivität noch anderer psychischer Auffälligkeiten. Dennoch stehen ihm nun zunächst sechs bis neun Wochen weiterer Rehabilitation bevor. In einer Reha-Klinik im Brandenburgischen werden sich erneut Neuropsychologen, Gedächtnistrainer, Sprachtherapeuten und anderes Fachpersonal um ihn kümmern. Chefarzt Ingo Schmehl sagt, bis zu zwei Jahre könne es dauern, bis man eine langfristige Prognose für ihn wagen kann. Vermutlich wird er leichte Defizite behalten, etwa eine niedrigere Dauerbelastbarkeit. Und die Narben am Kopf.

Sein Leidensweg, auf den das Schicksal ihn schubste, ist noch nicht beendet. Und jetzt, wo er auf diesem Balkon sitzt und die Sonne scheint, und wo er doch schon wieder alleine Treppen steigen kann und einkaufen geht, würde er am liebsten hier bleiben. Er sehnt sich so sehr nach einer eigenen Wohnung, und er möchte wieder arbeiten gehen. Im Zoo und im Tierpark hat er sich auch einmal beworben, wegen der Reptilien, „aber die haben mich nicht genommen. Bin ich eben Maler geworden“, sagt er. Und dass ihm die Arbeit Spaß mache. Dann gähnt er, die Konzentration nimmt rapide ab. Zum Abschied sagt Marcel, dass er keine neuen Fotos mehr von sich in der Presse sehen wolle. Er verändere sich gerade, sagt die Schwester, und der neue Marcel soll nicht mehr erkennbar sein.

Und seine Zukunft? Eine Wohnung, Arbeit – das sei es doch, was man brauche, antwortet er. „Mehr nicht. Damit bin ich zufrieden.“

Mitarbeit Tanja Buntrock

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