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Berlin: Ein Ständchen für den Zwölf-Ender des Party-Reviers

Es war einmal eine WG, die hatte viel Platz: 420 Quadratmeter in einer Fabriketage. Dort wohnten vier Erwachsene und ein Kind.

Es war einmal eine WG, die hatte viel Platz: 420 Quadratmeter in einer Fabriketage. Dort wohnten vier Erwachsene und ein Kind. Und nicht nur das: es probten Bands, Künstler hatten Raum zum Arbeiten. Da störte es sie auch nicht, dass vor dem Haus an der Jannowitzbrücke achtspurig der Verkehr vorbeidröhnte und dahinter S- und Fernbahn. Aus den Fenstern im dritten Stock konnte man den Zügen aufs Dach spucken und die magnetische Strahlung der Oberleitungen war so stark, dass die Tonabnehmer der Gitarren brummten. Doch alle waren zufrieden. Die Musiker muckten und die Künstler kunsteten.

"Ein Künstler und ein Musikus / Tür an Tür - das gibt Verdruss", schrieb Wilhelm Busch. Hier stimmte es einmal nicht. Nur gegen Ende des Monats, wenn der Mietzins zu entrichten war, hob immer großes Wehklagen an. Alle Bewohner waren natürlich permanent klamm auf der Tasche. Da hatte die WG eine Idee. Eine Party, mit einem klitzekleinen bisschen Kostenbeitrag am Eingang und vielleicht auch bei den Getränken. Es klappte. Die Party war ein Erfolg und die Miete drin. Die Musiker konnten wieder mucken und die Künstler wieder kunsten.

Das kleine Märchen hätte so weiter gehen können. Aber einmal im Monat Party war nicht genug. Die Parties waren zu gut. Schon bald war die Fabriketage eine angesagte Adresse. Sie wurde ein Club. Und weil sie eine Sammlung von echt treudeutschem Hirsch-Kitsch besaßen, nannten die Bewohner den Club "Hirschbar". Die Küche wurde zum Schankraum, das Wohnzimmer zum Dancefloor. Ständig neue Dekorationen und Lichteffekte der Künstler verwandelten die Etage in ein psychedelisches Labyrinth. Man schrieb das Jahr 1994 und aus den Lautsprechern kamen Acid- und Trance-Techno. Die Hirschbar war das Gegenmittel zum Techno-Massenbetrieb, der in den Clubs der Groß-Unternehmer einsetzte - ein freundlicher, beinahe familiärer Hangout.

Bald schon lernten die Hirsche die Kehrseite ihres Erfolges kennen: das Zuviel. Jedes Wochenende strömten nun neue Hirsche herbei und begehrten Aufnahme in das Rudel. Die WG-Etage drohte aus allen Fugen zu Platzen. Der Eintritt wurde ein bisschen erhöht. Aus Spaß wurde Arbeit. Warum nicht? - sagten sich die Hirsche und zogen in eine große Halle an der Warschauer Brücke um. Hier wurde die Hirschbar noch labyrinthiger. Ein Club als Erlebnis-Landschaft. Natürlich hatten sie den Ordnungs-Förster wieder einmal nicht um Erlaubnis gefragt. Aber der Förster, die Jäger und ihre Meute schienen auch gar kein Interesse an ihnen zu haben. So nett ging es damals zu im Spreewald. Aus dem Lautsprechern erklang Goa-Sound und wieder waren alle glücklich.

Doch dann kam, nach diversen anonymen Drohungen, ein schwarzer Tag. Besser gesagt: eine schwarze Nacht, in der ein Brandsatz den Laden und die Ateliers verwüstete, Instrumente und Verstärker geklaut wurden, sogar eine LKW-Ladung Leergut verschwand. Die Hirsche hatten genug.

Doch das Rudel gab keine Ruhe und wollte nicht auf den liebgewonnenen Unterstand verzichten. So beschlossen die Hirsche, ein freies Vagabundenleben in den Berliner Lokalitäten zu führen. Sie kehrten mal im Subground ein, mal im NonTox und etablierten die "Hirschfestspiele" bei Bröllin in Mecklenburg, nahe der polnischen Grenze: Eine Open-Air-Party, die manchmal bis Mitte der folgenden Woche dauerte. Dort wurden nicht nur verschiedene Geschmäcker bedient, es gab auch endlich mal wieder die gute alte Live-Musik, zum Beispiel mit hoch geschätzten Bands wie den Elektronauten. Das Rudel kam mittlerweile aus allen Teilen Deutschlands. Über 2000 Adressen enthielt die anschwellende Mailing-Kartei. Allmählich neigte sich die Vielfalt der Techno-Strömungen und neue Töne kamen aus den Lautsprechern. Drum & Bass oder Asian Cool zum Beispiel dienen als akustische Atzung.

Das Publikum hat mittlerweile einmal komplett gewechselt. Geblieben ist bei den Hirschen die Absicht, das Geschehen übersichtlich zu halten, nicht zu groß zu werden, das Rudel-Gefühl nicht zu verlieren - einfach eine gesunde Dosis Freak-Power. Und weil mittlerweile auch Irene Moessinger zur Hirschin geworden ist, feiern die Zwölf-Ender des Berliner Party-Reviers an diesem Wochenende ihren fünften Geburtstag im Tempodrom am Ostbahnhof. Dann röhrt mal schön!Heute u.a. mit DJs Marcos Lopez, Namito, Der Würfler, Gamma Ray, Johnzon. Morgen: Trance-Floor u.a. mit Sangeet, Asian Cool und Ambient Floor u.a. mit Shazam + Chandra Pulse. Außerdem: Trapezkunst, Filme, Fußmassagen, Space-Drinks. Visuals: u. a. von skudi optix. Jeweils ab 21.30 Uhr, Tempodrom am Ostbahnhof.

Ralph Geisenhanslüke

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