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Ein Wissenschaftler erforscht den Koran: Im Zweifel Allah

Hureyre Kam wird einer der ersten deutschen Koran-Theologen. Auf ihm ruhen Hoffnungen. Er soll den Islam modernisieren. Sein größter Gegner dabei ist das Pathos der Eiferer.

Manche Träume sind wie verirrtes Licht und schnell vergessen. Andere können ein Leben auf den Kopf stellen.

Als Hureyre Kam 17 Jahre alt war, träumte er von einer Existenz als Gelehrter, als Intellektueller. Er träumte von einem Leben voller Poesie und Erkenntnis. Und die Welt, die ihm bis dahin oft als Abfolge wenig interessanter Begebenheiten erschienen war, auf die sich einzulassen er nicht sonderlich viel Mühe verwendet hatte, lag auf einmal vor ihm wie ein Buch. Er brauchte nur darin zu lesen.

So begab sich Hureyre Kam, Sohn türkischer Einwanderer, auf eine ebenso romantische wie deutsche Bildungsreise, wie einst die Helden in den Schriften von Novalis, E.T.A. Hoffmann und Goethe. Er las den „Faust“, er las Aristoteles, Kant, Nietzsche – und immer wieder im Koran.

Heute ist Hureyre Kam 31, Magister in Philosophie und Islamwissenschaften und sitzt an seiner Doktorarbeit in islamischer Theologie. Er ist einer der Ersten, die das in Deutschland tun. Wenn Kinder aus Einwandererfamilien studieren, werden sie oft Ärzte oder Ingenieure, weil sie in diesen Berufen auch in der Heimat ihrer Eltern arbeiten können. Hureyre Kam aber schreibt über die Suche nach Gott, nach Allah. Denn Wissenschaft, Theologie bedeutet für ihn etwas Umfassendes. Es bedeutet Hingabe.

Ein Ladenlokal in Berlin-Neukölln reicht ihm dafür. Fahles Neonlicht fällt auf Linoleumboden und Resopaltische. In einer Ecke steht ein Becken mit Wasser. Hureyre Kam streut weißes Algenpulver hinein, so dass das Wasser sämig wird wie Leim. Er marmoriert Papier. Es ist eine alte osmanische Kunst, die Ruhe und Konzentration verlangt. Hureyre Kam nimmt einen Pinsel und tropft sachte Gelb und Orange auf das Wasser. Die Tropfen weiten sich zu Kreisen und öffnen sich ineinander.

Wenn er ihre Bewegungen betrachte, sagt Hureyre Kam, ordneten sich seine Gedanken. Dann ist er bei sich und erfüllt von jener Helligkeit, die ihn streifte, als er ein Jugendlicher war.

Nach einer halben Minute nimmt er einen hölzernen Stab und zieht ihn durch das Becken, von oben nach unten, von links nach rechts, langsam und sanft. Hastige Bewegungen würden alles zunichte machen. Man müsse die Regung des Wassers spüren. Die zarten Wellen ziehen die Farben in die Länge und wieder in die Breite und hinterlassen bizarre Muster. Er greift zu einem Blatt Papier und bedeckt vorsichtig das Wasser, nur für einen Moment. Dann zieht er die Farben mit dem Papier ab und legt es zum Trocknen.

Hureyre Kam, aufgewachsen in Berlin-Kreuzberg, ist ein Pionier, und er hat sich viel vorgenommen. Mithilfe des Islamgelehrten Abu Mansur al Maturidi aus dem neunten Jahrhundert will er seiner Religion neue Wege weisen. Die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Islam ist neu in Deutschland; vor Kurzem wurden die ersten Zentren für islamische Theologie an den Universitäten Münster/Osnabrück, Frankfurt am Main, Tübingen, Erlangen-Nürnberg eingerichtet. Die Bundesregierung fördert die Lehrstühle mit 20 Millionen Euro und setzt große Hoffnungen in die neuen Theologen: Sie sollen den Islam mündig machen und europäisieren. Der Druck ist groß, schon wehren sich die ersten Professoren gegen die Vereinnahmung durch die Politik. Wenn Hureyre Kam den Druck aushält und eine gute Doktorarbeit abliefert, hat er glänzende Aussichten auf eine akademische Karriere. Er gehört zu einer neuen Generation, zu einer neuen Schicht, zu einem neuen deutschtürkischen Bildungsbürgertum.

Seine kleine Kunstwerkstatt hat er im Hinterzimmer eines türkischen Bildungsvereins eingerichtet. Den hat sein Vater gegründet. Vorher war in dem Ladenlokal ein Männercafé, der Vater hat die Billardtische durch Regale voller Bücher ersetzt, er organisiert Sprachkurse, Lesezirkel und gibt eine deutsch-türkische Zeitschrift heraus. Er will unbedingt, dass seine Landsleute lesen und sich bilden.

Es ist ein heißer Sommertag, die Luft in den Räumen ist stickig. Hureyre Kam würde jetzt gerne einen Kaffee trinken, doch das geht nicht. Es ist Ramadan. Fastenmonat. Rausgehen will Kam trotzdem. Er streicht die kinnlangen schwarzen Haare hinters Ohr, verschraubt die Farbgläser und wäscht die Pinsel aus.

Seine Schulzeit war eine Katastrophe. Perspektive: Gemüsehändler

Zum Café sind es nur ein paar Schritte. Hureyre Kam winkt dem Kellner zur Begrüßung und geht im Garten zu einem Tisch, der unter hohen Pappeln steht. Das Café ist gut besucht, junge Männer und Frauen trinken Latte macchiato und essen Pflaumenkuchen. Dass Kam nichts bestellen wird, ist okay. Die Kellner kennen ihn, und was Ramadan ist, wissen sie hier auch. Er krempelt die Hemdsärmel hoch, verschränkt die Hände hinterm Kopf und lehnt sich zurück. „Ich komme oft hierher“, sagt er, „auch zum Arbeiten“. Schöne Atmosphäre. In der Universitätsbibliothek sei es ihm zu funktional. Außerdem hatte er sich als 17-Jähriger seine Zukunft genau so erträumt mit Nachdenken und im Café sitzen.

Seine Schulzeit dagegen war eine Katastrophe: Mit acht nach Deutschland gekommen, spät Deutsch gelernt, nur das Nötigste getan, sitzengeblieben, Perspektive: Gemüsehändler. Sein Bruder riet ihm, vielleicht mal mit dem Lesen anzufangen. Er gab ihm den „Faust“. „Ich werde die Sommerferien nie vergessen“, sagt Hureyre Kam und schaut verträumt in die Bäume hoch. Er las, spazierte durch Parks, rauchte und gefiel sich sehr in diesem Leben. Und als die Ferien zu Ende waren, merkte er, dass in ihm etwas in Bewegung geraten war, eine Sehnsucht nach Wissen, die sich nicht mehr abstellen ließ.

Wissen ist für ihn nichts zum Angeben. „Ich will die Welt verstehen und neue Wege zu Gott finden.“ Hureyre Kam ist ein gläubiger Mann. Er versucht, fünfmal am Tag zu beten, er fastet, und der Koran ist für ihn Gottes Wort. Aber er möchte ihn anders auslegen als es viele in der islamischen Welt heute tun. Zeigen, wie vielschichtig der heilige Text ist, und dass er nicht nur was für die Superfrommen ist. Wissenschaft soll den Menschen dienen, sagt er.

Die Pappeln rauschen im Wind, das grelle Sommerlicht wird sanfter jetzt. Kams Kehle ist trocken vom Reden. Er würde wirklich gerne etwas trinken, aber das geht nicht. Ramadan.

„Vielleicht sollten wir uns langsam auf den Weg machen, damit wir rechtzeitig ankommen“, sagt er. Zu Hause, in Wedding, wo er mit Vater, Mutter, Schwester und Bruder nach Sonnenuntergang das Fasten brechen wird. Es ist der Höhepunkt des Tages und jedes Mal ein kleines Fest. Aber bis die Sonne untergeht, ist es noch drei Stunden hin.

„Wollen wir nicht laufen?“

Von Neukölln nach Wedding?

Der Dichter Heinrich von Kleist, dem das Romantische nicht völlig fern war, schrieb den Aufsatz „Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden“. Er empfahl das Gespräch, um der Kreativität aufzuhelfen. Hureyre Kam empfiehlt zudem das Gehen. Eineinhalb Stunden sind es vom Bildungsverein im Süden bis zu seinen Eltern im Norden der Stadt. Bei schönem Wetter läuft er morgens hin und abends zurück. Die körperliche Bewegung bringt neue Ideen und schafft Klarheit, wenn sich Gedanken ineinander verhakt haben wie verfilzte Wolle. Heute lässt er eine Ausnahme zu: mit der U-Bahn bis zum Alexanderplatz.

Er hängt sich seine Tasche um, steckt die Hände in die Jeans und schlendert los. Auf dem Weg zur Bahn erzählt er von seinem Freund John. John, der den Zweifel brachte, weil er sagte: Gott gibt es nicht. „Gott, der Erbarmer, hat die Erde geschaffen, auf ihr gibt es Früchte, Palmen mit Blütenscheiden, Korn auf Halmen und duftende Pflanzen. Welche der Wohltaten eures Herrn wollt ihr für Lüge erklären?“, zitiert Hureyre Kam auswendig seine Lieblingssure. Wenn er sie liest, breitet sich Ruhe und Friede in ihm aus. Beweist das nicht Gottes Kraft? Irgendwann habe er John gesagt: Das spricht meine Seele an, das bringt in mir Flüsse zum Fließen, das gebe ich nicht auf, auch wenn ich dir die Existenz Gottes nicht beweisen kann. Zweifel ist kein Feind der Religion, sondern Verbündeter im Kampf gegen geistige Enge. Nur wer zweifelt, kann der Wahrheit die Tür öffnen, das wusste er jetzt.

Vom Alexanderplatz führt der Weg durch die Münzstraße, die Rosenthaler Straße und die Brunnenstraße hinauf – vorbei an Menschen, die ihr Feierabendbier trinken, Touristen, die in den Auslagen der Souvenirshops kramen, vorbei an englischen und spanischen Wortfetzen.

Die Superfrommen, die Wahabiten und Salafiten, halten Zweifel für Sünde. Sie meinen, man müsse wie im siebten Jahrhundert leben, um ein guter Muslim zu sein, und tun so, als wüssten sie haargenau, wie Gott tickt. In Internetforen habe er gegen sie argumentiert, erzählt Hureyre Kam. Er musste feststellen, dass all sein Wissen nicht so beeindruckte wie deren Pathos. „Die Menschen ertragen die Vielschichtigkeit nicht“, sagt er, „sie wollen Antworten in Schwarz oder Weiß“.

Das war vor tausend Jahren nicht anders. Damals lebte in Samarkand Abu Mansur al Maturidi. Er ist das Thema der Doktorarbeit und Hureyres Gewährsmann im Kampf gegen allzu einfache Antworten. Entdeckt hat er ihn in einer Fußnote, als er für seine Magisterarbeit recherchierte. „Unglaublich“, sagt er und reißt die Hände in die Höhe. Unglaublich, weil die meisten Muslime Sunniten sind und al Maturidi ein wichtiger Vordenker der Sunniten war – trotzdem wurde er vergessen. Vielleicht weil er der Vernunft den Vorrang gab und blinden Gehorsam ablehnte, vielleicht weil er schon im neunten Jahrhundert Staat und Religion trennen wollte und überhaupt zu viele Fragen stellte.

„Unser größtes Problem heute sind die Gutachten der islamischen Rechtsschulen“

Zum Beispiel: Was ist ausschlaggebend dafür, dass ich etwas als gut oder schlecht bewerte? Der Koran oder meine Vernunft? Nach al Maturidi ist etwas gut oder schlecht, wenn auch die Vernunft Gründe dafür findet. Was im Koran steht, reicht alleine nicht aus. Der junge Wissenschaftler hat die wenigen überlieferten Schriften gelesen. Es war, als habe er den Schlüssel gefunden, nach dem er lange gesucht hatte. Al Maturidi warnte vor Schlussfolgerungen, die die Ambivalenz des Korans beschneiden und Gott klein machen. In den vergangenen Jahrhunderten aber wurde genau das oft getan: vereindeutigt, wo Vielfalt war. Wer nachdachte, machte sich verdächtig.

„Unser größtes Problem heute sind die Gutachten der islamischen Rechtsschulen“, sagt Hureyre Kam. „Die sind für ein bestimmtes Problem gedacht, das zu einer bestimmten Zeit aufgetaucht ist. Aber alle denken, das steht da für die Ewigkeit.“ Neulich sei er auf ein Gutachten gestoßen, es ging darum, ob das Fasten gültig sei, wenn jemand im Schlaf isst. Im Schlaf essen? „Entweder ich schlafe oder ich esse“, sagt Hureyre. „So ein Unsinn.“

Mit al Maturidi könnte er vielleicht dem Islam neue Perspektiven aufzeigen. Es ist eine kühne Hoffnung. Hureyre Kam weiß das und sagt: „Wenn ich mich auf einen so großen Vordenker berufe, kann keiner etwas gegen die neuen Perspektiven einwenden. Dann können sie mich nicht als ,Reformer’ bezeichnen.“ Denn Reform, man müsse es leider so sagen, ist in der islamischen Welt ein Schimpfwort.

Kurz vor Sonnenuntergang endet der Spaziergang vor einem schmucklosen Wohnblock aus den 80er Jahren. Im vierten Stock öffnet Vater Kam die Tür und freut sich. Jetzt sind alle Kinder da: der älteste Sohn, Politikwissenschaftler in Berlin, die Tochter, Theologiestudentin in Ankara, und Hureyre, der während des Semesters viel Zeit in Frankfurt am Main verbringt. Dort ist er an der Universität eingeschrieben, dort arbeitet sein Doktorvater.

Ramadan ist in einer religiösen muslimischen Familie der Höhepunkt des Jahres, wie Weihnachten für Christen. Alle haben sich fein gemacht, der Vater im weißen Hemd, die Mutter ganz in Beige-Orange, die jüngere Schwester, der ältere Bruder. Die Wohnung ist penibel aufgeräumt, der Tisch im Esszimmer für mehrere Gänge gedeckt. Es ist kurz nach neun, immer wieder schaut jemand auf die Uhr, um ja den Moment nicht zu verpassen, an dem die Sonne untergeht. Dann endet die Fastenzeit, und dann sind Essen, Trinken, Rauchen wieder erlaubt.

Um 21.20 Uhr ist es soweit. Der Vater spricht das Abendgebet, dann greifen alle erstmal zum Glas und trinken Wasser. Nach einem kurzen erleichterten Ausatmen springen Hureyre, seine Schwester und die Mutter schon wieder vom Tisch auf und kommen mit einer Schale Linsensuppe für jeden zurück. Sie ist schnell gegessen. Es folgen Manti mit Joghurt, eine Art türkische Ravioli, Hühnchen mit Reis, dazu Köfte, grüne Bohnen und Salat. Zum Abschluss spricht Hureyre ein Gebet, dann verschwinden die Familienmitglieder abwechselnd für ein paar Minuten im Nebenraum, um zu beten.

Zu Ende ist der Abend noch lange nicht. Im Wohnzimmer werden türkischer Kaffee und Gebäck serviert. Wie im Bildungsverein so sind auch hier die Wände mit Büchern vollgestellt. „Ein Regal gehört mir“, sagt die Mutter. Sie ist eine gebildete Frau und hat in der Türkei als Religionslehrerin gearbeitet. Aus einem anderen Regal zieht der Vater ein dickes Buch heraus und legt es auf den Couchtisch. Er lächelt und dreht an seinem Schnauzbart. Er ist stolz. Es ist ein Katechismus, den er selbst für die Türken in Berlin geschrieben hat, damit sie sich kritisch mit ihrer Religion auseinandersetzen. „Das Buch ist in den Moscheen verboten“, sagt Sohn Hureyre und zieht anerkennend die Augenbrauen hoch. Der Vater zuckt mit den Schultern und erzählt von vielen Auseinandersetzungen, die er mit den Imamen hier schon hatte.

Später, da ist es nach Mitternacht, gibt es Tee und Wassermelone. Hureyre Kam zündet sich eine Zigarette an, schließt die Augen und nimmt einen tiefen Zug. Er und seine Schwester werden bis drei Uhr aufbleiben. Dann gibt es Frühstück. Um vier Uhr, wenn die Sonne wieder aufgeht, werden sie sich schlafen legen. Er liebe es, wenn Tag und Nacht ihre Gesichter wechseln und sich der Alltag für vier Wochen verschiebt. Dann öffnen sich Leben und Arbeiten neu ineinander – wie die Farben auf dem marmorierten Papier.

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