zum Hauptinhalt

Berlin: Fabelhafte Zeiten

Heike Grützmacher erzählt seit 1995 Geschichten aus einer heilen Welt. Heute tritt die Märchenerzählerin in Prenzlauer Berg auf

Es war einmal eine Frau, die erzählte als Besucherin im Frauengefängnis mit klopfendem Herzen ein Märchen. Als sie fertig war, legte sich eine der Gefangenen die Hände auf die Brust und sagte: „So warm und weich war es in meinem Inneren schon lange nicht mehr.“ So begann die Karriere der Märchenerzählerin Heike Grützmacher. „Als ich begriff, wie sehr die Geschichte die Frau im Knast bewegte, da war für mich klar: Auf diese Weise will ich Menschen auch künftig ein kleines bisschen glücklich machen.“ Seit 1995 erzählt die 63-Jährige nun Märchen aus aller Welt: in Kitas und Seniorenheimen, bei Familienfeiern und im Kreis von Freundinnen – und bei den Berliner Märchentagen bis zum 24. November.

Dass sie Märchen liest – diese Beschreibung wäre für Heike Grützmacher eine Beleidigung. Nein. Sie bietet sie dar. Sie spielt sie vor. Sie zelebriert sie. Nicht nur mit der Stimme, sondern mit dem ganzen Körper. In dieser bunt leuchtenden Jacke, die ihr eine Freundin aus dem Stoff schneiderte, den sie aus China mitbrachte. Im Ohr und am Finger glänzen orientalische Ringe.

„Als ich mit dem Märchenerzählen anfing, hatte ich erwartet, dass meine Kinder und mein Mann den Kopf schütteln“, sagt die frühere Mitarbeiterin in der Senatswissenschaftsverwaltung. Einst rang sie als Gewerkschafterin und als Mitglied im Landesfrauenrat um gesellschaftliche Anerkennung – um sich jetzt in Phantasiewelten zu bewegen? Frau Grützmacher hatte aber einfach Lust, „etwas tun, wohinter ich selbst ganz und gar stehe“. Jahrelang habe sie in einem Chor gesungen, auch einen Musiklehrer gehabt. „Jetzt wollte ich selbst mal das Sagen haben“, sagt Heike Grützmacher und breitet die Arme aus. Bevor sie die Erzählungen wie ihr Lieblingsstück „Scharita aus dem Walnussbaum“ auf die Bühne bringt, muss sie sie zunächst auswendig lernen. „Das läuft dann vor meinem geistigen Auge ab wie ein Film. Ich präge mir Szene für Szene ein und schreibe wichtige Redewendungen auf.“ Märchen sind zum Glück keine Gesetzestexte: Wenn das Publikum ermattet, verkürzt die Erzählerin den Stoff kurzerhand. Oder spinnt noch schnell eine spannende Figur hinzu.

An Heike Grützmachers Lippen hängen nicht nur Kinder. „Für viele Erwachsene sind Märchen eine Möglichkeit, wenigstens mal kurz aus dem Alltag in eine heile Welt abzutauchen“, ist die gebürtige Hamburgerin überzeugt. Frau Grützmacher und andere Märchenerzählerinnen treffen sich im „Verein Erfahrungswissen älterer Menschen“. Einst war er sogar senatsgefördert, doch diese märchenhaften Zeiten sind vorbei. Wenn heute eine der Frauen soziale Projekte besucht, wird zumindest eine Aufwandsentschädigung für Anfahrt, Kekse und Kerzen fällig. Privat-Auftritte der Frauen kosten etwas mehr. Dabei war das Geschichtenerzählen einst eine Domäne der Männer. Damals, als Karawanen durch Wüsten zogen. „Zu jeder Familie gehörte ein Märchenerzähler.“ Hat sie ein Problem damit, dass Märchen ziemlich moralisch oder auch grausam sein können? Schon, sagt die Buckowerin. „Dafür gibt es aber immer ein Happy End.“

Heike Grützmacher erzählt am heutigen Mittwoch Abend um 20 Uhr im „Bühnenrausch“, Erich-Weinert-Straße 27, Prenzlauer Berg, russische Märchen – auch am 24.11. um 20 Uhr, im „Tyatrom“, Alte Jakobstraße 12, Kreuzberg. Private Buchungen von Märchenerzählerinnen beim Verein Erfahrungswissen älterer Menschen. Telefon: 4429600. Infos über die Berliner Märchentage unter Tel. 34709479

Annette Kögel

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false