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Berlin: Fernschach: Schachmatt per Schneckenpost

Um sich dem Folgenden zu nähern, sind einige Dehnübungen wichtig. Die Zeit muss gestreckt werden, richtig ausgewalkt und dann gereckt - solange, bis wenige Minuten sich über einen Monat hinziehen und die Stunde erst in einem Jahr vergeht.

Um sich dem Folgenden zu nähern, sind einige Dehnübungen wichtig. Die Zeit muss gestreckt werden, richtig ausgewalkt und dann gereckt - solange, bis wenige Minuten sich über einen Monat hinziehen und die Stunde erst in einem Jahr vergeht. Wenn Sie soweit sind, spielen wir eine Partie Fernschach. In drei Jahren wissen wir, wer gewonnen hat.

Aber was sind schon drei Jahre? Im Fernschach dehnt sich die Zeit unermeßlich aus, wird träge und müde, verschläft sogar welthistorische Erschütterungen. Als beispielsweise die DDR am 3. Oktober 1990 abgeschafft wurde, existierte sie im Fernschach noch fünf Jahre weiter. Schließlich mussten die Partien der 1988 begonnenen Fernschacholympiade ausgespielt werden. 1995 errang die DDR die Bronzemedaille, die 1600. und definitiv letzte Olympiamedaille. Eine WM dauert etwa fünf Jahre, eine Partie zwei bis drei, ein Zug bis zu sechs Wochen. Nicht nur die Bedenkzeit - pro Zug sind drei Tage erlaubt - auch die Postlaufzeit macht das Fernschach zur Geduldsprobe. Die Postverteilung in Russland, Italien und Argentinien ist unter Spielern berüchtigt. Da schafft man nur 10 bis 15 Züge im Jahr.

Der Berliner Fritz Baumbach, Präsident des "Bundes deutscher Fernschachfreunde" (BdF) und Fernschach-Weltmeister von 1988, erinnert sich noch genau an die WM-Partie gegen den Russen Nesis. Der spielte zur Eröffnung "Grünfeld-Indisch mit Dame dora sieben." Kurz vor Weihnachten kam es zu einer verzwickten Situation. Baumbach analysierte einige Stunden, warf seinen Zug in den Briefkasten, doch in den folgenden Nacht kamen ihm Zweifel. Mit dem Schlaf war es vorbei. Stundenlanges Nachdenken, was passieren würde, wenn er zwei seiner Bauern gegen den schwarzen Springer opfern würde. Bis zum Morgengrauen blieb die Situation unklar, und Baumbach entschied sich zur Verzweiflungstat. Mit etwas Bestechungs-Kleingeld passte er kurz vor der Leerung um 8 Uhr den Briefträger ab, ließ sich von dessen "Das kann ich nicht machen" nicht beirren. Es folgten qualvolle Tage der Analyse, bis am letzten Weihnachtstag dieselbe Postkarte mit dem selben Schachzug abging. "Der Zug war gut. Ich musste bloß die Bedenkzeit ändern." Schließlich holte Baumbach den WM-Titel.

Baumbach gibt freimütig zu, ein ehrgeiziger Perfektionist zu sein. Doch tut er nichts verbissen, sondern fröhlich wie ein Kind, das von seinem Spielzeug nicht mehr lassen kann. Geduld ist für einen Fernschachspieler unabdingbar. Und eine saubere Handschrift für das exakte Spielprotokoll im Schachbüchlein. Diese Tugenden werden nicht mehr ganz so ausgiebig kultiviert wie vor 50 Jahren, als Baumbach anfing. Schlimmer noch: Das Fernschach droht auszusterben! Waren 1990 noch 10 000 Fernschachspieler offiziell in Deutschland aktiv, sind es heute nur noch 6000. International ist die Entwicklung noch gravierender. Seit 1985 schrumpfte die Beteiligung um ein Viertel.

Viele sind von der "Schneckenpost" auf E-Mail umgestiegen. Auch Baumbach hat einige elektronisch vermittelte Partien am Laufen, aber richtig daran gewöhnen will er sich nicht. Es geht einfach zu schnell, eine Art Fernblitzschach. In der Partie mit einem Kubaner aus Havanna schob er irgendwann eine Postkarte ein, um sich eine Verschnaufpause zu verschaffen. Inzwischen haben sie sich darauf geeinigt, das E-Mailing zu entschleunigen und nur noch zweimal im Monat Züge auszutauschen. Manche Spieler hören auf, weil sie nicht mehr wissen, ob sie nun gegen ihresgleichen oder dessen Schachcomputer spielen. An den Schnellrechnern kommt keiner mehr vorbei. Auch Baumbach hat mehrere Schachprogramme auf seinem Laptop. In Zehntelsekunden werfen sie einen möglichen Zug aus und beschreiben nebenan die möglichen Reaktionen des Gegners. Dafür bräuchte Baumbachs Schachhirn einen halben Tag.

Am liebsten spielt er gegen Russen. Die können technisch einfach nicht mithalten. Und die Uhren ticken dort noch langsamer als in der westlichen Hemisphäre. Ein ideales Fernschach-Land. Vom alten schmucklosen Reiseschachbrett aus russischer Produktion mit den Magnet-Plättchen auf der abgenutzten Feldstruktur würde er sich ohnehin nie trennen. Das Brett ist immer dabei, denn ein Fernschachspieler kennt keine Frei-, sondern nur Bedenkzeit. An die 15 Züge sind jeweils vorauszuberechnen - pro Variante. Ständig sind an die 20 Partien in diversen Turnieren und der Fernschach-Bundesliga zu überblicken. Im vorigen Jahr waren es sogar 33, doch das wurde sogar Baumbach zuviel.

Mit zunehmendem Alter baut man spielerisch ab, sagt er schonungslos. Die Spielweise wird zurückhaltender, die originellen Spielideen seltener. Natürlich spielt Baumbach auch Nah-Schach, war mal DDR-Meister, Verdienter Meister des Sports und reiste durch das befreundete Ausland. Dafür gab es großzügige Freistellungen an der Akademie für Wissenschaften, wo Baumbach als Patentingenieur arbeitete.

Das Fernschach bot die seltene Chance, auch Kontakte zum feindlichen Ausland zu pflegen. 4000 Spieler hatte die DDR, in der BRD waren es gerademal 2000 mehr. Baumbachs mächtige kahle Denkerstirn ist jetzt 65 Jahre alt geworden. Zur Ruhe setzen kann sie sich nicht - weder im Schach noch im Beruf. Letzterer funktioniert nach ähnlichen Gesetzen wie das Brettspiel, wie Baumbach, heute selbständiger Patentanwalt auf dem Wissenschaftsgelände in Berlin-Buch, weiß. Da gibt es eine Eröffnung - fast immer nach dem gleichen Muster - und dann zieht sich der Schriftverkehr mit der Behörde gelegentlich über Jahre hin, mit ungewissem Ausgang. Die Gesellschaft, so scheint es Baumbach, funktioniert heute nach den Regeln des Blitzschachs. Fünf Minuten entscheiden über Sieg oder Niederlage. Intuition schlägt Konzentration. Die Ablenkung vom Königsspiel ist zu groß. Nach dem Krieg habe man nichts anderes gehabt als Schach, sagt Baumbach. Nicht mal Fußbälle gab es. Wie eine Seuche griff der Denksport in seiner Heimatstadt Gera um sich. Und als alle Mitschüler und Schachklub-Freunde geschlagen waren, hatte Baumbachs Seele ein schwarz-weißes Muster bekommen. Vom Schach kommt man nie mehr los. Das zuständige Bonmot geht so: Das Leben eines Fernschachspielers ist eine ununterbrochene Partie Schach. Wird er eines Tages vom Sensenmann matt gesetzt, freut er sich auf die Revanche im Jenseits.

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