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Eine Schar Kinder sitzt vor Suppenschüsseln in der Kreuzberger Kindervolksküche, von denen der jüdische Kaufmann Herrmann Abraham etwa ein Dutzend mit Spendengeldern betreibt.

© Berliner Leben

Fraktur! Berlin-Bilder aus der Kaiserzeit: Abraham, der Mildtätige

Unter der Armut in den Arbeitervierteln leiden besonders die Kinder. Der jüdische Kaufmann Herrmann Abraham gründet Volksküchen, um die Not zu lindern - und wird für seine Wohltätigkeit angefeindet.

Zu Beginn der kalten Jahreszeit appelliert die Zeitschrift „Berliner Leben“ an die Wohltätigkeit ihrer Leser. Sie zeigt im November 1907 den Speiseraum der neu eröffneten Kindervolksküche in der Manteuffelstraße 67 in Kreuzberg. „400 hungernde Kinder werden in der Kindervolksküche täglich reichlich gespeist“, heißt es. „Zwei überaus wohltätige Damen, Frau Professor Brandt und Frau Fregattenkapitän Gut“, leiten die Einrichtung, unterstützt von „Damen der Gesellschaft“, die ehrenamtlich bei der Austeilung des Essens helfen.

Die Not ist groß in den Arbeitervierteln der Stadt. Oft müssen Kinder mitarbeiten, damit es in den Familien zum Leben reicht, viele Halbwüchsige sind mangelhaft ernährt, die Kindersterblichkeit ist hoch. Die Armut fördert sogar den Kinderhandel. Eine „Charitasorganisation“ vermittelt Adoptionen über Zeitungsinserate: „Knabe, 1 ½ Jahre alt, blond, an gutsituierte Leute sofort zu adoptieren, am liebsten außerhalb. 500 Mark für die Mutter.“ – „Besseres goldblondgelocktes, süßes Mädchen, mit entsprechender Entschädigung zu vergeben.“

Die Armut zwingt Eltern sogar, ihre Kinder zu verkaufen

Vom Staat haben die Schwächsten der Gesellschaft wenig zu erwarten. Private Organisationen versuchen, das Leid der Kinder zu lindern. Drei Pioniere der Sozialfürsorge tun sich besonders hervor: Lina Morgenstern, die 1866 den Verein Berliner Volksküchen begründet; Agnes Blumenfeld, Vorsitzende des Vereins zur Speisung armer Kinder, und der ehemalige Textilunternehmer Herrmann Abraham, der 1890 den Verein für Kindervolksküchen begründet. Alle drei sind jüdische Berliner.

Möglicherweise ist das Zufall: Es gibt schließlich auch viele gute Christenmenschen. Und es wäre gar nicht der Rede wert, wenn Herrmann Abraham seine Wohltätigkeit hätte ausüben dürfen, ohne dafür diffamiert zu werden. Abraham, der als 43-Jähriger sein erfolgreiches Tuchgeschäft 1890 verkauft hat und danach von den Zinsen lebt und mit großem Engagement den Aufbau der Kinderküchen vorantreibt, wird immer wieder angefeindet.

Im Jahr 1910 versorgen seine Helfer täglich rund 8000 Kinder mit kostenlosen Mittagsmahlzeiten. Überaus erfolgreich wirbt Abraham bei wohlhabenden Berlinern um Spenden, veranstaltet Benefiz-Konzerte in der Philharmonie, die er als „Indisches Fest“ oder unter dem Motto „Im Casino von Monte Carlo“ veranstaltet. Über diese moderne Art der Wohltätigkeitswerbung rümpfen konservative Sozialpolitiker die Nase – und erst recht die Antisemiten, die dem reichen Juden die selbstlose „Humanität“ ohnehin nicht abkaufen.

Der Affekt bricht sich Bahn, als Abraham im Sommer 1903 mit dem preußischen Kronen-Orden vierter Klasse geehrt werden soll. Die für ihre antijüdischen Tendenzen bekannte „Staatsbürger-Zeitung“ will den „Ritterschlag“ für einen Juden nicht hinnehmen. In einem Beitrag vom 21. August 1903 insinuiert die Zeitung, dass Abrahams sozialer Einsatz keineswegs uneigennützig sei, sondern seinem „menschenfreundlichen Werk“ reine Profitinteressen zugrunde lägen: „Mehrere Millionen Portionen Mittagessen sind im Laufe der Jahre gegen geringes Entgelt oder auch umsonst an Arme abgegeben worden, und sämtliche Materialien dazu hat ununterbrochen das Geschäft des Herrn Abraham geliefert.“ Außerdem, so deutet die Zeitung an, sei Abrahams Initiative zur „Volksernährung“ in einen Handel mit verdorbenem Fleisch verwickelt gewesen.

Der Berliner Polizeipräsident prüft die Vorwürfe – und entlastet den jüdischen Wohltäter. Herrmann Abraham erhält daraufhin den Kronen-Orden.

Alle Beiträge unserer Serie mit Berlin-Bildern aus der Kaiserzeit lesen Sie unter www.tagesspiegel.de/fraktur

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