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Florian Mausbach: Freiheit für Tempelhof!

Das Flugfeld ist kein Platz für künstliche Biotope und kleinbürgerliche Idylle. Seine Entwicklung fordert einen weiten Horizont und neuen Pioniergeist. Ein Plädoyer von Stadtplaner Florian Mausbach.

Hier ist des Volkes wahrer Himmel! Ein Spaziergang über das Tempelhofer Feld: Das Volk hat sich das freie Flugfeld erobert. In einer heiteren, friedlichen, demokratischen Revolution. Unangemeldet und ungeplant. Es hat noch den Reiz des Verbotenen, wenn die Menschen wie Liliputaner über die für Riesenvögel gebauten Betonpisten laufen. Übergroß die weißen Markierungen und Zahlentafeln des Flugleitsystems. Nichts stört den weiten Blick. Es ist nicht still und auch nicht laut. Es schwebt ein frühlingshaftes Summen und Brummen über dem Feld. Fantastische Drachen kreisen in der Luft und ferngesteuerte Miniaturflugzeuge, auf den Rollbahnen Skater, Radler und die bunten Segel der Windsurfer, auf den weiten Wiesen Menschen allen Alters, allein, zu zweit, in Familien und Gruppen, gemeinsam und doch für sich, bei Picknick, Lesen, Lieben und Kinderwagenschieben. Baseballkappen neben Kopftüchern, Bikinis und Shorts neben Sari und Sarong. Das „Volk, der große Lümmel“ spielt Weltrevolution. In der großen Zahl und bunten Vielfalt der Menschen aus allen Berliner Bezirken, in ihrem Nebeneinander und Miteinander entsteht die Ahnung einer Weltstadt.

Mit großer weit ausholender Geste umarmt das Flughafengebäude das Volk in seinem Glück. Gebäude und Flugfeld sind eins. Sie waren eins und sollten es für immer sein. In seiner Einzigartigkeit als historisches Denkmal und Gesamtensemble ist der Flughafen Tempelhof auch ohne Status ein Weltkulturerbe. Er hat Weltgeschichte gemacht als Zeugnis der Luftfahrt, des Größenwahns, der Luftbrücke und des Kalten Krieges. Als Zeuge wiedergewonnener Freiheit und Einheit bietet er Freiraum für das Zusammenwachsen der geteilten Stadt. Auch nach der Stilllegung hat der Flughafen nichts von seiner Aura verloren. Es ist die historische Authentizität, die die Menschen anzieht und berührt, der raue Charme von Tempelhof. Es ist alles echt. Das nüchtern-monumentale Bauwerk, das mit seinen steinernen Kopfbauten den Schwung der stählernen Wartehallen und Hangars hält, und die von grauen Landebahnen durchschnittene grüne Weite des Flugfeldes. Hier lässt sich mitten in der Großstadt befreit aufatmen und träumen. „Hinter dem Horizont geht’s weiter!“ Es ist der alte Menschheitstraum vom Fliegen, der fasziniert, lockt und beflügelt, der Traum grenzenloser Freiheit. Es ist der Mythos Tempelhof.

Im Mythos Tempelhof schwingen Erinnerungen an die Pionierzeit des Fliegens, der Anfänge der modernen Luft- und Raumfahrt. Otto Lilienthal, „erster Flieger der Menschheit“, entwickelt in Berlin zum ersten Mal einen Flugapparat zur Serienreife. Orville Wright demonstriert schon 1909 auf dem Tempelhofer Feld seine Flugvorführungen und Rekordflüge. Im gleichen Jahr kreuzt Graf Zeppelin mit seinem Luftschiff über dem Gelände. 1923 wird in Tempelhof der erste Verkehrsflughafen der Welt eröffnet, 1924 die erste große Flughalle errichtet. 1926 kommt hier die Deutsche Luft Hansa zur Welt. Am 10. August 1938 startet von Berlin aus ein viermotoriges Passagierflugzeug der Lufthansa zum ersten Non-Stop-Atlantikflug nach New York und zurück. Tempelhof wird zum Flughafen mit dem größten Passagieraufkommen in Europa. Tempelhof ist „Mother of all airports“ – die Mutter aller Flughäfen.

Der Flughafen Tempelhof steht auch für die Zwiespältigkeit großer Ingenieurleistungen der 1930er Jahre. Ernst Sagebiel, als früherer Büroleiter Erich Mendelssohns ein Architekt der Moderne, errichtete von 1936 bis 1941 den Zentralflughafen für die „Welthauptstadt Germania“. Das grandiose Bauwerk hat zwei Gesichter: In seiner architektonischen Haltung vergleichbar mit dem I.G.-Farben-Haus Hans Poelzigs in Frankfurt am Main, spiegelt es in der rationalen Monumentalität einer neuen Zeit die weltumspannende Dimension beginnender Globalisierung. Zugleich ist es Ausdruck des Weltherrschaftsstrebens seiner Auftraggeber und in seiner repräsentativen Schaufront, in der Handschrift Albert Speers antikisierend dekoriert, Machtarchitektur des „Tausendjährigen Reiches“.

Auf dem Platz der Luftbrücke erinnert ein Denkmal an die Piloten, die mit ihren Rosinenbombern 1948/49 den Westteil der Stadt versorgten. Die legendäre Luftbrücke ist Symbol des Überlebens- und Freiheitswillens Berlins geworden. Mut und Freiheitswillen haben auch die Mauer zu Fall gebracht und die Teilung der Welt überwunden. Der Traum von der grenzenlosen Freiheit des Fliegens verbindet sich mit einem Grenzen und Mauern überwindenden Freiheitswillen. In diesem historischen Vermächtnis liegt die Zukunftschance für Tempelhof.

Was könnte die Erinnerung an die Pionierzeit des Fliegens und die Luftbrücke besser wachhalten als ein Museum und Zentrum für Luft- und Raumfahrt? Warum nicht die Tradition der Berliner Luftfahrt-Sammlung wieder aufgreifen? Auch sie war legendär. Geboren in einer Baracke zwischen den ersten Flugzeughallen auf dem Tempelhofer Feld wuchs sie, von Ort zu Ort wandernd, zum größten Flugzeugmuseum der Welt. Viele Ausstellungsstücke sind verschollen, manche finden sich in dem von dem Berliner Architekten Justus Pysall entworfenen, 2010 eröffneten Polnischen Luftfahrtmuseum in Krakau. Das National Air and Space Museum in Washington ist das meistbesuchte Museum der Welt. Wie viel mehr aber hat Tempelhof mit seiner Aura der Authentizität zu bieten, seinem historischen Flughafengebäude, den großen Hangars, dem Flugfeld und der flugtechnischen Infrastruktur! Ein Museum und Zentrum für Luft- und Raumfahrt wäre mehr als ein weiterer touristischer Magnet, es würde das Interesse an Technologie, Wissenschaft, Forschung und Ingenieurwesen wecken und für Berlin neue wirtschaftliche Perspektiven eröffnen.

„Berlin könnte zum dritten großen deutschen Luft- und Raumfahrt-Zentrum werden“, prognostizierte die Deutsche Bank 2005. Mit dem neuen Großflughafen als internationales Drehkreuz wird Berlin zur mitteleuropäischen Verkehrsmetropole für Passagier- und Güterverkehr. Wie eng die Verkehrslogistik mit der Raumfahrttechnologie verknüpft ist, zeigt das System Toll Collect mit Sitz in Berlin, das die Einziehung der Lkw-Maut über Satelliten-Navigation betreibt. Rund um die Luft- und Raumfahrt können weitere Zukunftstechnologien andocken. So will die Bundesregierung Deutschland zum Leitmarkt für Elektromobilität machen. Gibt es einen besseren Standort für die Entwicklung der Elektromobilität als Tempelhof?

Schon Fontane ahnte gesellschaftliche Umbrüche, wenn „es weit draußen in der Welt, sei’s auf Island, sei’s auf Java zu rollen und zu grollen beginnt oder gar der Aschenregen der hawaiischen Vulkane bis weit auf die Südsee hinausgetrieben wird.“ Wie abhängig die moderne Gesellschaft vom Netz der Flugverbindungen ist, hat im April 2010 eine unsichtbare Wolke aus Vulkanasche vor Augen geführt. Angesichts fehlender empirischer Messungen kapitulierte ein ganzer Kontinent vor der mysteriösen Wolke. Jetzt sollen Grenzwerte festgelegt und ein einheitlicher europäischer Luftraum geschaffen werden. Wäre nicht Tempelhof in seiner europäischen Mittellage der richtige Standort für eine europäische Flugsicherungszentrale?

Stadtplaner Florian Mausbach.
Stadtplaner Florian Mausbach.

© ddp

Umweltberater der Bundesregierung plädieren für eine wissenschaftliche Partizipation der Bürgergesellschaft, für Einrichtungen, in denen „Bürger und Wissenschaftler gemeinsam lernen“. Tempelhof könnte ein solcher Ort aufgeklärter und teilhabender Bürgergesellschaft werden, ein Forum für Wissenschaftler und Bürger, um sich über Verkehr und Energie, Umwelt und Klima, Gentechnik und Kernkraft auszutauschen und zu verständigen. Der Entideologisierung und Entpolitisierung der Diskussion gesellschaftlich kontroverser Zukunftstechnologien soll auch ein Projekt der Bundesregierung dienen, das „Haus der Zukunft“. Eine gute Sache! Es gehört aber nicht in den politischen Bannkreis des Forschungsministeriums, sondern an einen Ort wissenschaftlicher Freiheit – nach Tempelhof!

Eines der größten Bauwerke und Denkmale der Welt steht leer. Gelegentlich dient es als Resterampe der Berliner Eventkultur. Tempelhofs große Geschichte ist dem Vergessen anheimgegeben. Das freie Flugfeld, unübersehbar als großer runder Teller in den Grundriss der Stadt geprägt, überwältigend in seiner prosaischen Würde und Schönheit, soll zu einem gigantischen Vergnügungspark werden. Der Flugplatz soll verschwinden – unter Waldrändern aus 2000 Bäumen, unter Blumenbeeten, Biotopen und Teichen, unter einer 30 000 Quadratmeter großen Wasserfläche und Bachläufen mit hölzernen Stegen, unter Pavillons, Aussichtsplattformen und Rundwegen als „Planetenbahnen“. Der Gipfel aber ist ein 63 Meter hoher Kletterfelsen als Denkmal für Alexander von Humboldt. Dieser habe, so die Planer, im Gebirge Pflanzen erkundet und um Pflanzen und Natur gehe es ja auch bei der Gestaltung des Tempelhofer Feldes. Der Siegerentwurf im Landschaftswettbewerb zeigt Humboldt auf der Bergspitze in Überlebensgröße. Er zögert noch. Soll er wie der Erlöser auf dem Zuckerhut die Arme breiten? Oder sich hinabstürzen?

Es ist zum Verzweifeln. Der Flughafen Tempelhof, dieses in der Welt einzigartige Denkmalensemble, geht der Zerstörung entgegen. Dass es gutwillig, nicht mutwillig geschieht, macht es nicht besser. Die Planer sind vom Horror Vacui geplagt. Sie ertragen sie nicht, die Leere, die einen umhaut in ihrer grenzenlosen Weite und elementaren Wucht. Sie ertragen es nicht, das Ungekünstelte, das Gewöhnliche und typisch Berlinische dieses rohen und kargen Flugfeldes, seine schlichte Schönheit aus dem Geist der Zweckmäßigkeit. Also muss mit bunten Blumen und blauen Teichen geschönt, durch Kletterfelsen und Pavillons der Blick gefangen, durch Wälder der Horizont verengt und beschränkt werden. Kleinteiligkeit ist das Zauberwort. Mit künstlichen Biotopen wird das Tempelhofer Feld zurechtgestutzt zur kleinbürgerlichen Idylle aus dem Geiste des Ökokitschs. Und über allem Humboldt als Naturheiliger. Er sollte sich vom Felsen stürzen.

Noch ist Tempelhof nicht verloren. Noch ist Zeit, die Planspiele zu beenden. 62 Millionen Euro soll das Zerstörungswerk kosten. Es wäre besser angelegt für die Sanierung und Entwicklung des historischen Bauwerks. Lasst dem Tempelhofer Feld die Freiheit!

Der Autor ist Stadtplaner und war von 1995 bis 2009 Präsident des Bundesamtes für Bauwesen und Raumordnung.

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