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Berlin: Grabung ins Jahr 1962

Zeitreise auf der Baustelle: Arbeiter fanden zwischen Treptow und Neukölln einen alten Fluchttunnel

Die Bauleute amüsieren sich wie Bolle, dass jetzt alle in ihre Grube linsen möchten. „Wir nehmen ab jetzt fünf Euro Eintritt.“ Baggerfahrer und Tunnel-Entdecker Lutz Stein hebt für die Bäckersfrau die Bohlenabdeckung zur Seite. Im Halbdunkel ist der Ansatz eines Hohlraumes zu sehen. Am Pfingstmontag 1962 gelangten hier 54 Menschen aus dem Ostteil der Stadt in den Westen. 42 Jahre lag der Tunnel still, bis vor kurzem Bauleute den Hohlraum entdeckten, während sie an der Ecke Elsenstraße (Treptow)/Heidelberger Straße (Neukölln) neue Trinkwasserleitungen verlegten.

Wie viele Fluchttunnel noch unentdeckt in der Berliner Erde schlummern, weiß niemand. Knapp solcher 60 Anlagen sind bekannt. Genauso wenig sicher ist, wie viele Menschen durch die Tunnel in den Westen flüchteten. Wegen der ständigen Gefahr, durch Stasi-Spitzel aufzufliegen, wurden die Flüchtlinge angewiesen, bei Behörden und Verwandten Fluchtmärchen zu erfinden. Vor vier Jahren war in der Bernauer Straße ein Tunnel wiedergefunden worden, der 62 Menschen im September 1962 den Weg in den Westen öffnete. Die Grabungsarbeiten zu „Tunnel 29“ hatte damals ein Filmteam des US-Senders NBC begleitet und finanziert. Man trieb mit großem Aufwand fast einen kompletten Stollen in die Erde.

Der Tunnel in der Elsenstraße ist viel primitiver, eine 80 Zentimeter breite Röhre ohne Stützen und Beleuchtung. Gegraben hat ihn Harry Seidel, ehemaliger Radsportler aus der DDR. „Mit mir ging es am besten vorwärts“, erinnert sich Seidel, damals 22 Jahre alt und durchtrainiert. Gegraben wurde vom Westen aus. Der Einstieg war im Schankraum einer Eckkneipe. Dort wurde auch die Erde gelagert. Ein Staubsauger blies Luft in die Röhre. Das Buddeln dauerte wegen des weichen Bodens aus Torf und Sand nur wenige Tage. Um die Haltbarkeit zu testen, ließ Seidel einen Kohlenlaster über die Straße rollen.

Nach Seidels Aussagen gab es in der Heidelberger Straße mindestens drei Tunnel. Einer wurde verraten. Dabei kam Seidels Freund Heinz Jercha ums Leben. Für ihn stand bisher vor dem Haus Heidelberger Straße 29 eine Gedenktafel. Doch der Mord geschah laut Seidel vor dem Haus 35. Dahin soll die Gedenktafel nun versetzt werden.

Harry Seidel hatte sich vor dem Mauerbau nach West-Berlin abgesetzt. Wegen seiner Flucht kam die gesamte Familie seiner Frau in Haft. „Deshalb wollte ich was gegen diesen Verbrecherstaat tun.“ Zuerst holte er „Leute durch den Zaun“ am Brandenburger Tor, wurde erwischt, floh aus dem Gefängnis und begann dann mit dem Tunnelbauen.

Im November 1962 buddelte er sich von Zehlendorf nach Kleinmachnow durch. Doch der Tunnel wurde verraten. Als die Männer sich durchgegraben hatten, eröffneten DDR-Grenzer sofort das Feuer. „Es gab sogar Pläne, den ganzen Tunnel zu sprengen“, erzählt Seidel. Er wurde verhaftet und zu lebenslanger Haft verurteilt. Vier Jahre später kaufte ihn die Bundesrepublik frei.

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